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Liebesgedichte
von Ursula Friedrich



Inhaltsverzeichnis:

1. Martin Opitz: "Ach Liebste laß vns eilen"
2. Johann Wolfgang von Goethe: "Es schlug mein Herz ..."
3. Vergleich von "Es schlug mein Herz ..." mit "Ach Liebste laß vns eilen"
4. Glossar - Erläuterung rhetorischer Termini
5. Sekundärliteratur



1. Martin Opitz: "Ach Liebste laß vns eilen"

Gattung
Opitz’ "Ach Liebste laß vns eilen" trägt den Titel "Liedt". Bezieht man sich auf die poetologischen Ausführungen des Dichters über "Lyrica" in seinem "Buch von der deutschen Poeterey", so lassen sich über diese Gattungsbezeichnung bereits charakteristische Züge des vorliegenden Gedichts ablesen: Eine Vielzahl von Themen mittleren Charakters (genus medium), so z.B.

buhlerey / taentze / banckete / schoene Menscher / Gaerte / Weinberge / lob der maessigkeit / nichtigkeit des todes / etc. [...]1


soll in einer sentenzhaften Darstellung vor allem zur Fröhlichkeit gemahnen. Darüberhinaus eignen sich "Lyrica" besonders zum musikalischen Vortrag.2 Ob das vorliegende "Liedt", das im Untertitel auf ein französisches Gesellschaftsgedicht verweist, sich dessen als textuelle Vorlage bedient oder seine Melodie übernimmt, konnte in der Opitz-Forschung bislang nicht hinreichend geklärt werden.3



Form
Das vorliegende Gedicht besteht aus zwölf Versen zu je elf Silben. Die jambischen Fünfheber haben durchweg männliche Kadenz. Nach der siebten (unbetonten) Silbe findet sich im Schriftbild in der Regel eine Zäsur, die durch ein breites Spatium in der typographischen Gesamtdarstellung unterstrichen wird: der Vers wird in zwei ungleiche Abschnitte geteilt. – Formal handelt es sich bei dem verwendeten Versmaß wohl um eine Nachbildung des italienischen Endecasillabo, den auch Petrarca häufig verwendete.4 – An den Teilversen fällt vor allen auf, daß sie sich – nach Art eines Homoioteleutons – paarreimig binden:

Ach Liebste laß vns eilen Wir haben Zeit:
     Es schadet das Verweilen Uns beider seit. (V. 1/2).

Weiterhin läßt sich konstatieren, daß die geraden Verse eingerückt sind, was sich als Aufbauprinzip deuten läßt: jeweils zwei Verse treten als inhaltliche und funktionale Gruppe auf.

Aufbau
"Ach Liebste laß vns eilen" hat den Charakter einer Werbung: Die Liebste muß zum Genuß der Liebe erst ermahnt, ja verführt werden. – Funktion der ersten Gruppe (V. 1 / 2) ist es, das Interesse des weiblichen Du und des Hörers (oder Lesers) des Liedes zu wecken und eine Forderung an dieselben zu stellen: Ist durch die Anrede (Allocutio) " "Ach Liebste" (V. 1) erst einmal die Aufmerksamkeit erregt, folgt im Exordium der Aufforderungstopos "laß vns eilen" (V.1). Die – aus heutiger Sicht paradox erscheinende – Begründung für dieses Ansinnen schließt sich unmittelbar an: "Wir haben Zeit." (V. 2). Das vermeintliche Paradox läßt sich vorläufig in Bezugnahme auf das "Grimmsche Wörterbuch"5 in "wir haben Eile" auflösen. Denn wer zu lange zögert, wird keine Lebenszeit mehr haben, die Freuden der Liebe auszukosten, wie in V. 2 deutlich gemacht wird. Hier finden sich die barocken Motive des Memento mori und des Carpe diem vereint, die einander bedingen. – Die thesenhafte Begründung für die Carpe diem–Aufforderung, nämlich der Verfall diesseitiger Schönheit (Vanitas-Motiv) (V. 3 / 4), folgt auf dem Fuß und wird in der Argumenatio durch eine Exempla-Reihung (V. 5-8) untermauert. Auch die Argumentatio läßt sich in zwei Einheiten gliedern: Die in den Versen 5 und 6 aufgeführten Beispielen irdischer Vergänglichkeit sind allgemeiner Natur, wohingegen die Exempla in den beiden Folgeversen sich durch das Personalpronomen "du" als Subjekt des letzten Teilverses der Gruppe (V. 8) auf eben jenes "Du" beziehen lassen. – Aus der Beispielserie der Argumentatio leitet sich in der Peroratio die erneute Aufforderung zum rechtzeitigen Liebesgenuß ab. Mit Rückbezug auf die ersten beiden Verse konstituieren die Verse 9 und 10 mit diesen eine Art Rahmen für das Gedicht, das mit der inhaltlichen Paraphrase unter dem Zusatz der Unabänderlichkeit der Vergänglichkeit (V. 10) nach inhaltlich-logischen Kriterien bereits enden könnte. Die beiden Schlußverse (V. 11/12) enthalten - dem barocken Stilprinzip der argutia folgend - eine kunstvoll verrätselte und resümierende Schlußpointe, die eine zusätzliche gedankliche Komponente ins Spiel bringt: das Ideal der Gegenseitigkeit von Liebe.

Interpretation
Allgemeingültiger Charakter und belehrende Intention
In "Ach Liebste laß vns eilen" wendet sich das männliche lyrische Ich an ein weibliches Du, eine Liebste, die nicht weiter benannt wird. Ob sich das Gedicht überhaupt an eine konkrete Person richtet, mag dahingestellt sein6, ist auch nicht von Bedeutung: In der Vorstellung barocker Schriftsteller ist die Liebe keine private Angelegenheit, sondern Sujet geistreicher Gedankenspiele, wie besonders auch Opitz in seinem "Buch von der deutschen Poeterey" zum Ausdruck bringt:

[...] weil die liebe gleichsam der wetzstein ist an dem sie [die Dichter, Anm. d. Verf.] jhren subtilen Verstand scherffen /und niemals mehr sinnreiche gedancken vnd einfaelle haben /als wann sie von jhrer Buhlschafften Himlischen schoene/jugend / freundligkeit/haß vnnd gunst reden.7

Auch das vorliegende Lied hat nicht persönlichen, sondern allgemeingültigen Charakter. Seine öffentlich-belehrende Intention wird durch das in petrarkistischer Tradition stehende Inventar des Schönheitslobes in der Exempla-Reihung unterstrichen. Ebenso haben die Kontrastpaare Farbe-Farblosigkeit ("Der Wangen zier verbleichet/ Das Haar wird greiß / " (V. 5)), Hitze-Kälte ("Der äuglein fewer weichet" (V. 6)) und Flamme-Eis ("Die flamm wird Eiß" (V. 6)) den Status von Topoi.

Dichotomische Struktur
Die Huldigunstopoi ("Der Wangen zier" (V. 5), "das Haar" (V. 5), "Der äuglein fewer" (V. 6), "Die flamm" (V. 6), "Das Mündlein von Corallen" (V. 7) und auch die "Händ" (V. 8)) vermitteln durch ihre Erststellung in den kurzen Sätzen den Eindruck, das lyrische Ich wolle zu reinem Schönheitspreis ansetzen, der dann doch – entgegen der Erwartung des Lesers – negiert wird:

Das Mündlein von Corallen Wird vngestallt. (V. 7)

Es liegt eine dichotomische Struktur vor, die auch in der typographischen Gestaltung des Gedichts Ausdruck findet. So kann man in der rechten Spalte ein Übergewicht an Vergänglichkeitsäußerungen festmachen (V. 3-8 – und je nach Interpretation des Zeitbegriffs auch V. 1). In der linken Spalte kann demgegenüber eine Betonung irdischer Schönheit konstatiert werden (V. 3, 4, 7). Allerdings herrscht keine schematische Entsprechung von Form und Inhalt nach dem Muster "linke Spalte – irdische Schönheit", "rechte Spalte – Verfall und Vergänglichkeit" vor. Vielmehr durchdringen sich die beiden Sphären in dem Maße, daß der Verfall der Schönheit beschleunigt erscheint:
z.B. "Der Wangen zier verbleichet / Das Haar wird greiß" (V. 5)

Gemäß den angewandten Topoi, die die Hinfälligkeit weiblicher Reize zum Ausdruck bringen und damit das weibliche Du von der Notwendigkeit des Carpe diem überzeugen sollen, nimmt sich das lyrische Ich als Mann vorerst von den dargestellten Verfallserscheinungen aus (V. 5–8), was in V. 8 durch das metrisch betonte "du" ("Vnd du wirst Alt." – x x' x x –) noch hervorgehoben wird. Erst in V. 9 bezieht es sich in die Conclusio mit ein, und stellt somit wieder den Bezug zur These allgemeiner menschlicher Vergänglichkeit her (V. 4).

Zeitbegriff und Zeitstruktur
Von besonderer Bedeutung ist die Zeistruktur des Gedichts, die sich auf eine epchenspezifische Vorstellung von "Zeit" zurückführen läßt. In V. 1 kann "Zeit" nicht nur als "Eile" interpretiert werden, sondern auch als "rechte Zeit".8 Diese Interpretation entspräche auch der These Segebrechts, hinter dem verwendeten Zeitbegriff stehe die Vorstellung der antiken Göttin Occasio, der Göttin der Gelegenheit und des richtigen Zeitpunktes.9 Versteht man "Zeit" als "rechte Zeit/Gelegenheit", so wird das Carpe diem-Motiv in den Vordergrund gerückt. Ebenfalls betont wird es, wenn wir "Zeit" als "kraftvolle Jugend- und Manneszeit" interpretieren.10 Die letztgenannte Deutung impliziert im Umkehrschluß aber auch Memento mori und Vanitas, gilt Jugend doch als sehr kurzlebiges Phänomen. Noch stärker apostrophiert werden diese beiden Motive, wenn man einen christlich-theologischen Zeitbegriff zugrundlegt: "Zeit" im Sinne von "Zeitlichkeit/Endlichkeit diesseitiger Existenz." 11 – Die genannten Deutungen spielen in "Wir haben Zeit" (V. 1) ineinander, sie vereinigen Carpe diem-, Vanitas- und Memento mori- Motiv. Zur Ausnutzung der – den Liebenden noch verbleibenden Zeit – wird in den Versen 3-10 gemahnt, nun unter Bezugnahme auf eine weitere Spielart des Zeitbegriffes: "Zeit" wird als "tempus" – im Sinne einer voranschreitenden Zeit – verstanden.12 Diese Zeitvorstellung äußert sich deutlich in der Zeitstruktur des Gedichts: Durch die Drängung der Beispiele menschlicher Vergänglichkeit (V. 5-8) wird zur Eile gemahnt, umso mehr als die "Kraft der Vergänglichkeit geradezu sichtbar wird", wie Gellinek bemerkt.13 Er stellt fest, daß der Verfall irdischer Schönheit durch die Verwendung von Präsens für ein eigentlich in der Zukunft liegendes Geschehen zu einem in der Gegenwart stattfindenden Prozeß umgewandelt wird.14 So dichtet Opitz z.B.

Der Wangen zier verbleichet / Das Haar wird greiß / (V. 5)15.
Seinen Höhepunkt findet dieses Verfahren in
[...] Und du wirst Alt (V. 8)16.  
Dieser drastischen Vorwegnahme der unausweichlichen Zukunft wird die Aufforderung zum Carpe diem im Jetzt gegenübergestellt:
Drumb laß vns jetzt geniessen Der Jugent frucht /
     Eh wir dann folgen müssen Der Jahre flucht. (V. 9 / 10)


Schlußpointe
In der Schlußpointe wird wiederum – parallel zu den Versen 1 und 8 – das weibliche Du angesprochen. Hinter dem verrätselten

Wo du dich selber liebest / So liebe mich / (V. 11)

steckt nochmals die Ermahnung zum Carpe diem. Das lyrische Ich appelliert an seine "Liebste", sich im Jetzt, in der Blüte ihrer Jugend, selbst zu lieben und dadurch dem Geliebten die Möglichkeit zu geben, ihr seine Liebe zuzuwenden. Damit könnte das lyrische Ich nicht nur auch selbst seine eigene Junged genießen, sondern würde gleichzeitig der Geliebten das zurückgeben können, was er von ihr erhält:
Gib mir / daß / wann du gibest / Verlier auch ich. (V. 12).



Redundanz und Klangwirkung
Insgesamt ist das Gedicht sehr redundant, immer wieder wird das Carpe diem-Motiv betont. Auch seine auffälligen Klangwirkungen sind der Intention des rhetorischen "persuadere" untergeordnet: Die Assonanzen innerhalb eines Verses, z.B.

Das Mündlein von Corallen Wird vngestallt. (V. 7),

signalisieren die lautliche Zusammengehörigkeit des durch ein Spatium getrennten Verses und unterstreichen damit die Durchdringung von Gegenwart und Zukunft, den bereits im Jetzt einsetzenden Verfall. Gleiche Wirkung wird von den paarreimigen Teilversen vor der Zäsur vor allem in der Argumentatio erreicht. Die Teilverse
Der Wangen zier verbleichet / [...]
     Der äuglein fewer weichet /      [...]
Das Mündlein von Corallen [...]
     Die Händ / alß Schnee verfallen /      [...] (V. 5-8)

lassen sich auch vertikal sinnvoll lesen. Darüberhinaus können auch die Alliterationen und die figura etymologica in V. 3
Der schönen Schönheit gaben / Fliehn ffür fuß (V. 3)

als "angemessener Schmuck" für das stark auf Überredung und Verführung ausgerichtete Gedicht interpretiert werden.

Exkurs: "Occasio" oder die "Göttin der Gelegenheit"
Opitz hat die Allegorie der Occasio nicht neu in die Literatur eingeführt; vielmehr hat er diesen Topos aus der Antike übernommen: Als jüngster Sohn von Zeus tritt die Gottheit erstmals im V. Jahrhundert auf. Der Jüngling personifiziert die Vorstellung von "Kairos", des rechten Maßes, vor allem aber des günstigen Zeitpunktes. Auffällig ist die Frisur von Kairos: Während sein Haar an Scheitel und Hinterkopf glatt anliegt, fällt es in langen Locken über Wange und Nacken und bis auf die Schulter hinab oder zieht sich in einem freien Büschel über die Stirn. Horst Rüdiger verweist in seinem Aufsatz "Göttin Gelegenheit" auf die auf Kairos bezogene Redewendung "die Gelegenheit beim Schopfe packen".17 – In der lateinischen Dichtung verwandelt sich Kairos in eine Frau ("Occasio") und betont in besonderem Maße den Aspekt des richtigen Augenblicks. Besonders in Renaissance und Barock wird die Vorstellung der "rechten Zeit" wiederaufgenommen. Man findet sie bereits im "Emblematum liber" des Andrea Alciato (1531). Auch und vor allem Opitz hat sich immer wieder des Motivs angenommen und schreibt ihm grundsätzliche poetologische Bedeutung zu. In seinem "Buch von der deutschen Poeterey" von 1624 legt Opitz fest, daß nur dann ein der Poesie würdiges und den Sylven zuzurechnendes Gedicht entstehen könne, wenn "rechte Zeit" und "Gelegenheit" zusammenträfen, um ein "aus geschwinder anregung vnnd hitze"18 resultierende Eingebung niederzuschreiben.


2. Johann Wolfgang von Goethe: "Es schlug mein Herz..."

Entstehung: Biographischer Kontext
"Es schlug mein Herz..." gehört zur "Sesenheimer Lyrik" Goethes. Als biographischer Kontext für die "Sesenheimer oder Straßburger Gedichte" wird in der Goethe-Literatur die Begegnung des jungen Goethe mit Friederike Brion herangezogen.19

Form
Das vorliegende Gedicht umfaßt vier Strophen zu je acht Versen. Die Verse reimen sich nach dem Schema des Kreuzreims. Das Versmaß ist ein vierhebiger Jambus mit alternierender Kadenz: auf die neunsilbigen Verse fällt ein weiblicher Versausgang, auf die achtsilbigen ein männlicher. – Von der beschriebenen Form lassen sich die folgenden Abweichungen konstatieren: In V. 1 springt die Zäsur ins Auge, in den Versen 2, 17 und 19 finden sich gegenmetrische Betonungen. Auffallend ist zudem das gehäufte Auftreten des unreinen Reims (V. 5 / 7, 17 /19, 21 / 23, 25 / 27 und 30 / 32), den Goethe als Sturm und Drang-Dichter vom Volkslied übernommen hat.20 Auch die Strophenform, das verwendete Jambenmetrum und der Kreuzreim erzeugen volksliedhaften Charakter.

Aufbau
Das Erlebnisgedicht läßt sich inhaltlich in drei Teile gliedern:
In der ersten Strophe bricht das (männliche) lyrische Ich zu seinem nächtlichen Ritt auf, der in Str. 2 fortgesetzt wird. Einen neuen Impuls bringt die dritte Strophe, in der die Begegnung mit der Geliebten stattfindet. In der vierten Strophe kommt es zum Abschied.

Interpretation
Der Gedichteinsatz "Es schlug mein Herz [...]" (V. 1) wirkt überraschend. Er erzeugt nicht nur das Gefühl der Unmittelbarkeit, sondern hat durch das vorangestellte "es" auch den Charakter einer feierlichen Ankündigung.21 Die "quasi subjektlose rhythmische Bewegung"22, die gleichsam von einer anonymen Macht hervorgebracht wird, erweist sich in einem zweiten Schritt als Herzschlag des lyrischen Ich. Im physischen "Herzschlag" des Ich deutet sich bereits eine innere, psychische Erregung an, die ihren Ausdruck im elliptischen Imperativ " [...] Geschwind, zu Pferde!" (V. 1) findet. Auch hier besteht über die rein monologische Ebene des Befehls hinaus eine zweite, die von einer überwältigenden höheren Kraft, einem undefinierbaren "Es" bestimmt scheint. In "[...] Geschwind zu Pferde!" (V. 1) wird zudem zur Eile gemahnt, was durch das Fehlen des Verbs, aber auch durch die Füllung des Verses mit zwei grammatisch voneinander unabhägigen Sätzen ("Es schlug mein Herz./ Geschwind zu Pferde!" (V. 1)) verdeutlicht wird. Zum schnellen Fortreiten wird das lyrische Ich denn auch im – ebenfalls elliptischen – Folgevers angehalten: "Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht." (V. 2). Bezogen auf die Aufforderung "fort" (V. 2) unterstreicht die gegenmetrische Betonung von "wild" (x x ' / x ' / x x x ' x x ') die Bewegtheit, die Geschwindigkeit der Handlung. Zugleich läßt sich "wild" auf den Vergleich "[...] wie ein Held zur Schlacht" (V. 2) anwenden. Dieser Vergleich gerät aus der Balance, weil der eigentliche Bereich, der des lyrischen Ich, welches mit dem zur Schlacht aufbrechenden Helden verglichen wird, nicht weiter bestimmt wird. Da die Absichten des Ich, die Gründe für seine körperliche und seelische Bewegheit, dem Leser verborgen bleiben, erhält die Vergleichsseite ein Übergewicht, das diese vakante Stelle des eigentlichen Bereichs gleichsam mitbesetzt.
So dominiert der Eindruck des Gefährlichen, des tödlichen Wagnisses, in das sich der Aufbrechende in aufgewühlter Gemütsverfassung begibt.23 Dieses Gefühl des Bedrohlichen begleitet das lyrische Ich auf seinem Ritt durch die abendliche und nächtliche Natur – der Ritt geht durch die "Landschaft der Seele"24, wie Michelsen erläutert: Natur fungiert hier als Spiegel für Innerseelisches. Durch diese Natur scheint das lyrische Ich getrieben, was sich nicht nur im elliptischen Charakter und in den metrischen Besonderheiten in V. 1 und 2, sondern auch in den Enjambements in den Versen 5 / 6, 7 / 8 und 9 / 10 äußert.
Ebenso beschleunigend wirkt das wiederholte Zeitadverb "schon" (V. 3, 5) und das reihende "und" am Versanfang (V. 4). – Die Naturphänomene, die dem lyrischen Ich auf seinem Ritt begegnen, treten personifiziert auf, sie erhalten Subjektcharakter. Die Natur stellt sich dem vorwärtsreitenden lyrischen Ich immer furchterregender dar: So kann in der ersten Strophe ein Übergang von Abend (V. 3) über Dämmerung ("Und an den Bergen hing die Nacht." (V. 4) zur hereinbrechenden Nacht ("Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert Augen sah." (V. 7 / 8) konstatiert werden. In der Folgestrophe ist es dann bereits Nacht (V. 9 / 10). – Neben der Verdunklungsmetaphorik kommt ein weiteres Mittel zur Steigerung des Bedrohlichen zum Einsatz: Wo es am Ende der ersten Strophe noch heißt "Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah." (V. 7 / 8), erscheinen die Schrecknisse der Nacht in Str. 2 verzehnfacht: "Die Nacht schuf tausend Ungeheuer. (V. 13). Die Zahl "tausend" erfährt eine weitere Steigerung: "Doch tausendfacher war mein Mut." (V. 14).
Das vorangestellte "doch" kann einerseits adversativ verstanden werden, zum anderen aber auch komparativ im Sinne von "noch". – In der Feuer- und Glutmetaphorik ("verzehrend Feuer" (V. 15), "Mein ganzes Herz zerfloß in Blut" (V. 16)) deutet sich der zweite inhaltliche Teil des Gedichts an; dem Dunkel der Nacht werden die Affekte des lyrischen Ich als innere Helligkeit entgegengesetzt. Sie finden in der dritten Strophe ihre Motivation: "Ich sah dich, und die milde Freude Floß aus dem süßen Blick auf mich." (V. 17 / 18). Der nächtliche Ritt hat seinen Bestimmungsort gefunden. – Die markante, sich steigernde, gegenmetrische Betonung von "Ich sah dich [...]" (V. 17) (x ' x ' x ') zeigt die Bedeutung der Begegnung mit der Geliebten für das lyrische Ich, das erstmalig explizit als Subjekt auftritt. Das Sehen des lyrischen Ich leitet den Prozeß seiner eigenen Bewußtwerdung ein: mit dem Du entdeckt es auch sich selbst. Durch den Blickkontakt wird es nun auch "außen" hell ("milde Freude" (V. 17), "süß[er] Blick" (V. 18) und "rosenfarbes Frühlingswetter" (V. 21)). Die Präsenz von Ich und Du wird zum entscheidenden Moment; an die Stelle der dynamisierten und subjekthaften Natur treten menschliche Subjekte, was sich an den gehäuft auftretenden Personalpronomina ablesen läßt (V. 17–20, 23f). Die Konzentration auf das Du zeigt sich zudem in der Durchbrechung des metrischen Schemas in V. 19: "Ganz war mein Herz an deiner Seite." (x ' / x x x ' x x ' x x ' x). – Die glückstrunkene Empfindung liebevoller Zuneigung ("milde Freude" (V. 17), "süße[r] Blick" (V. 18), "rosenfarbes Frühlingswetter" (V. 21) und "liebliches Gesicht" (V. 22)) findet ihren Ausdruck im pathetischen Anruf an die Götter: "Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter, Ich hofft' es, ich verdient' es nicht." (V. 23/24).
Wenn das lyrische Ich meint, das ihm zuteilgeordene Glück stehe ihm nicht zu (V. 24), schwingt bereits eine vage Ahnung dessen, was die Liebenden erwartet, mit: der Abschied kündigt sich an (4. Str.). Auch jetzt wechselt das Paar – wie schon in der vorhergehenden Strophe – kein Wort, die nonverbale Kommunikation ("Blicke" (V. 26), "Küsse" (V. 27), "nasse[r] Blick" (V. 30) dominiert. Das lyrische Ich äußert sich in Gedanken oder im Selbstgespräch: "Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe!" (V. 25) und "In deinen Küssen welche Liebe! O welche Wonne, welcher Schmerz!" (V. 27/28). Seine Trauer schlägt unerwartet in ein "Und doch" (V. 31) um: "Und doch, welch ein Glück, geliebt zu werden, Und lieben Götter, welch ein Glück!" (V. 31/32). Diese Schlußpointe, die dem Nachdenken über die konkrete Liebessituation entspringt, ist wohl direkt auf diese zu beziehen. Darüberhinaus ist nicht auszuschließen, daß in den Schlußversen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben wird.

3. Vergleich von "Es schlug mein Herz..." mit "Ach Liebste laß vns eilen"

Während Goethes Erlebnisgedicht einer real existierenden Person gewidmet ist, fungiert Opitzens "Liebste" als Aufhänger für moralisierende Beobachtungen. Diese "Liebste" muß – unter Hinweis auf Vanitas-, Memento mori- und Carpe diem- Motivik – erst noch zur Liebe überredet werden, wohingegen im Sesenheimer Gedicht die Stimmung einer bereits erlebten Begegnung mit der Angebeteten vergegenwärtigt werden soll. In der jeweiligen Schlußpointe jedoch nähern sich die Gedichte einander an, postulieren sie doch beide das Ideal gegenseitiger und gleichberechtigter Liebe (Opitz, V. 11f / Goethe, V. 31f). – Formal heben sich das in hohem Maße rhetorische Barockgedicht und der persönlich gefärbte, pathetische Stil des Goethe-Gedichts stark voneinander ab.

Primärtexte
Glossar - Erläuterung rhetorischer Ausdrücke
Sekundärliteratur




Anmerkungen:

1 Opitz, Martin: Buch von der deutschen Poeterey. (1624). Herausgegeben von Sommer, Cornelius. Stuttgart 1991 (Reclam). S. 30. Im folgenden zitiert als "Buch von der deutschen Poeterey".

2 ebd.

3 Gellinek, Janis Little: Die weltliche Lyrik des Martin Opitz. München 1973, S. 96f. Im folgenden zitiert als "Weltliche Lyrik". Schweikle, Günther und Irmgard (Hgg.): Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart 21990.

4 Forster, Leonard: Europäischer Petrarkismus als Vorschule der Dichtung. In: August Buck (Hg.): Petrarca. Darmstadt 1976. (S. 427).

5 Deutsches Wörterbuch, S. 524, 3.

6 Weltliche Lyrik, S. 97.

7 Buch von der deutschen Poeterey, S. 19.

8 Deutsches Wörterbuch. S. 537, II, B, 3.

9 Segebrecht, Wulf: Rede über die rechte Zeit zu lieben. Zu Opitz' Gedicht ""Ach Liebste laß vns eilen". In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1. Renaissance und Barock. Stuttgart 1982. (Reclam). (S. 136-147), S. 139ff. Im folgenden zitiert als "Segebrecht."

10 Deutsches Wörterbuch, S. 537, II, B, 3.

11 Deutsches Wörterbuch, S. 529, II, 3a.

12 Deutsches Wörterbuch, S. 537, II, b.

13 Weltliche Lyrik, S. 97.

14 ebd.

15 ebd.

16 ebd.

17 Rüdiger, Horst: Göttin Gelegenheit. Gestaltwandel einer Allegorie. In: Arcadia. Zeitschrift für vergleichenden Literaturwissenschaft. Herausgegeben von Horst Rüdiger. Bd. 1. 1966, S. 121-166. Im folgenden zitiert als "Göttin Gelegenheit".

18 Buch von der deutschen Poeterey, S. 30.

19 Conrady, Karl Otto: Goethe: Leben und Werk. Erster Band. Hälfte des Lebens. Königstein / Ts. 1982, S. 122-129. Im folgenden zitiert als "Conrady"

20 Kaiser, Gerhard: Was ist ein Erlebnisgedicht? Johann Wolfgang von Goethe: "Es schlug mein Herz ...". In: Ders.: Augenblicke deutscher Dichtung. Gedichte von Martin Luther bis Paul Celan. Frankfurt am Main 1987, S. 117-144. Im folgenden zitiert als "Erlebnisgedicht".

21 Michelsen, Peter: "Willkomm und Abschied." Beobachtungen und Überlegungen zu einem Gedicht des jungen Goethe. In Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft. Jahrgang IV / 1973, (S. 6-20), S. 7. Im folgenden zitiert als "Michelsen".

22 Erlebnisgedicht, S. 122.

23 Michelsen, S. 12.

24 Michelsen, S. 15.