Erlanger Liste



    Fritz Mauthner

    Eduard von Hartmann
    Die Philosophie des unbewußten
    Hühnerauges

    Destruktive Resultate auf konstruktivem Wege

    Kant, was bist du für ein Mann!
    Alle pumpen sie dich an!


    VORGÄNGER

    Das Hühnerauge, dessen vorderer Teil in die Ornithologie, dessen rückwärtiger Teil jedoch in die Ophthalmologie hineinragt, ist vor Meinem epochemachenden und die Denkrichtung des Jahrhunderts diametral ordnenden Auftreten zwar häufig zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht worden, in seiner Totalität aber ist bis zum Erscheinen der ersten Auflage dieses in seiner Sinnfältigkeit zwar dicken, im Verhältnis zu seinem übermenschlichen Gedankeninhalt aber dünnen Buches Abschließendes über Wesen, täuschende Erscheinungsform und ehrenhafte Ding-an-sich-lichkeit dieses merkwürdigen Organismus nicht niedergeschrieben worden. Von den erbärmlichen Tröpfen, welche vor Mir die fetten Euter der mageren Kuh Philosophie gemelkt haben, ist nicht viel zu holen. Der platte Plato existiert für Mich nicht, denn er trug Sandalen und gelangte somit selbst in seinen reiferen Arbeiten nicht einmal zum klaren Bewußtsein des physischen Hühnerauges, um wie viel weniger zum Unbewußtsein des metaphysischen. Das antike Heidentum mußte erst nach langer Selbstzersetzung in und durch sich zusammenbrechen, bevor auch nur das bewußte Hühnerauge, als natürliche Folge der in den schlechten und billigen Erzeugnissen germanischer Schuhmacher leichtsinnig unternommenen Völkerwanderung, in einer für philosophische Zwecke nutzbaren Allgemeinheit auftreten konnte.

    So herrschte im Mittelalter lange das physische Hühnerauge vor, bis der große Cartesius den einzigen Einfall hatte, die moderne Dialektik dadurch zu begründen, daß er das Selbstbewußtsein von dem schmerzlichen Gefühl der eigenen Hühneraugen herleitete. So wird sein berühmter Satz: „Cogito ergo sum“ d. h. „Ich spür’s, also bin ich!“ erst verständlich. Auf dieser Grundlage durfte Spinoza weiter bauen, der durch sein glücklich umschreibendes Wort „Pantheismus“ den großen Gedanken des unbewußten Allhühnerauges wesentlich förderte. Der wahre, wenn auch unbewußte Schöpfer Meiner Idee ist allerdings der seltsame Kant, der das unbewußte Hühnerauge ganz wohl als den hinter der Erfahrungswelt lauernden Urgrund der Dinge erkannte, es dafür in seiner bekannten Feigheit jedoch nicht exoterisch auszurufen wagte. Er nannte in seinem lächerlichen Jargon das unbewußte Hühnerauge das „Ding an sich“. Zur näheren Erklärung müssen wir den sich in den Redewendungen der gewöhnlichen Sprache offenbarenden Sprachgeist zu Hilfe nehmen. Der Arme z. B., der nach einem Bade mit metaphysisch-schmerzhaft zuckendem Antlitz vor einem messerbewaffneten Heilkundigen sitzt, pflegt instinktiv nicht direkt von seinem Hühnerauge zu sprechen, sondern sagt: „Das Ding thut verd... weh!“ Mit „Ding“ meint er also Hühnerauge, q. e. d. Wenn Kant jedoch dieser Bezeichnung die Worte „an sich“ hinzufügt, so beweist er damit, daß er noch zu viel „an sich“ selbst denkt, daß er noch, zu sehr vom Schleier der Maja bedeckt, in der Nacht des gemeinen Individualismus gefangen ist. Auf Kant aber folgte Ich. Die scheinbar dazwischen liegenden Charlatane: Fichte, Schelling und Hegel hat bereits ein gewisser Dr. Schopenhauer totgeschlagen, den Ich nur deshalb erwähne, weil er boshaft genug war, die schönsten Stellen aus Meinem Hauptwerke fünfzig Jahre vor dessen Erscheinen vorauszuschreiben. Und nun zu Mir.


    1. PHYSIK.

    Gegeben ist ein physisches Hühnerauge. Daraus muß Ich, Meinem Versprechen gemäß, das Elend des Weltganzen ableiten. Sehen Sie, Meine Herren, das ist ganz einfach, ohne jede Vorbereitung. Zuerst schaffe Ich das physische Hühnerauge mittels Meiner höheren Mathematik aus der Welt. Geben Sie mal acht. Die Welt ist unendlich mal größer als ein Hühnerauge (A). Nehmen wir nun die Welt als Einheit (1) und fragen wir: Wie groß ist ein Hühnerauge? so lautet die Antwort:



    In Worten ausgedrückt: ein Hühnerauge ist gleich der Einheit, geteilt durch unendlich, gleich Null. D. h. ein Hühnerauge ist gar nicht vorbanden - was zu beweisen war.

    Wenn aber das Nichtsein des Hühnerauges das einzig Seiende ist, so muß auch das scheinbare Sein des physischen Hühnerauges seine Erklärung finden. Das physische Hühnerauge ist jedoch nichts anderes, als das körperliche Organ des Uebersinnlichen, es ist das Traumorgan , welches an der Schwelle zwischen der Welt der Erscheinungen und der jenseitigen Welt steht. So führt schon das physische Hühnerauge geraden Weges in die Metaphysik hinein.

    Il. METAPHYSIK.

    Das Hühnerauge vermittelt Ahnungen. Bekanntlich gibt es Menschen, denen diese feinbesaiteten Organe jede Veränderung der Temperatur genau anzeigen. Ein berühmter Reisender, der Mönch Hausen, erzählt von einem Matrosen, dessen Fußorgane so ausgebildet waren, daß sein Schiff anstatt nach dem Kompaß, nach seinen lokalen Empfindungen gesteuert wurde. Wie sind solche Erscheinungen zu erklären?

    Dadurch, daß die metaphysische Welt, welche Kant so schüchtern als das Ding an sich bezeichnet, welche Mein Abschreiber, Dr. Schopenhauer, kühnlich als den unbewußten Willen hingestellt hat, in der That nichts anderes ist, als das zu sich selbst gekommene, seiner selbst gänzlich unbewußt gewordene, allgemeine, allmächtige, allwissende und allherrschende unbewußte Hühnerauge .

    Von dem Lichte dieses Meines epochemachenden Axioms bestrahlt, gewinnt die Welt ein neues Ansehen. Wir betrachten noch einmal genauer das physische Hühnerauge und bemerken nun, daß es kein Ende nimmt. Ohne Wurzel, ohne äußeren Zusammenhang verwächst es mit dem menschlichen Organismus zu Eins. Es glitzert und strahlt Gedanken aus. Wir erkennen es wieder in allen seinen Gestalten. Die hornigen Haare, die harten Knochen, die Stoßzähne der Elefanten, die kieshaltigen Halme, die Steine der Früchte, die Krystalle, die Felsen der Erde, die Kerne der Kometen, alles, alles es ist klar wie der Tag, es sind: - Hühneraugen der Natur.

    Und so erkennen wir auf diesem erhabenen Standpunkte, daß die gesamte Welt an sich nur ein gemeinsames Hühnerauge ist, daß demnach ein jeder Schritt, den wir auf irgend einem Punkte der Erde machen, zugleich ein schmerzhafter Tritt auf ein Atom des Allhühnerauges ist, daß wir somit mit jedem Schritte uns selber auf unser eigenes unbewußtes Hühnerauge treten, daß sonach jeder unserer Schritte uns selber unbewußt Schmerzen verursacht, daß endlich der sogenannte Weltschmerz nichts ist, als das ewige Gemeingefühl des an unzähligen Stellen ewig von sich selbst getretenen, gestoßenen, gepufften und gezwackten unbewußten Allhühnerauges.

    Dieses Allhühnerauge war immer und wird immer sein. Es ist unsterblich. Es will die größten Thaten und denkt die größten Gedanken. Es umfaßt die gesamte Welt. Wir alle bilden seine Teile, wenn wir uns dessen auch niemals bewußt werden. Ich aber, der Hohepriester dieses Mysteriums, habe Momente, in denen Ich Mich mit stolzer Freude in dunkler Ahnung Eins gefühlt habe mit dem All, Mich als ein Teil gefühlt habe des heiligen Allhühnerauges.

    III. AESTHETIK.

    Meine Philosophie erklärt alles. Es läßt sich also aus ihr auch die einzige wahrhaft systematische Aesthetik ableiten.

    Ich gebe hier nur einzelne Gedankenblitze. Meine Nachfolger mögen aus den Quadern meiner Aphorismen den hochgewölbten Bau einer Aesthetik vollends herstellen. -

    Die gesamte Architektur ist ein Plagiat auf das physische Hühnerauge. Wie dieses teils in horizontalen Lagerungen aufwächst, teils sich türmend zur Höhe emporstreckt, so entwickelt sich auch die Geschichte der Architektur. Die horizontalen, vertikal sich verjüngenden Lagen deuten auf griechische Baukunst und die treulich kopierten Glieder ihrer Architraven; die kuppelige Wölbung des vollendeten physischen Hühnerauges war das Vorbild für die hohen Kuppelgewölbe der Renaissance, während die modifizierbaren Formen, welche das Traumorgan unter der harten Behandlung germanischer Stiefel anzunehmen pflegt, lebhaft an die krausen Formen der Gotik erinnern. -

    In der Malerei gibt es zwei Richtungen: die realistische und die idealistische. Der Maler, welcher, ohne hinter den Schleier der Maja zu dringen, das physische Hühnerauge für wirklich hält und es darum festzuhalten sucht (z. B. Liebermann), ist ein Realist. Der Maler dagegen, welcher das physische Hühnerauge gar nicht sieht, sondern die Welt systematisch in ihrer Verschiedenheit stets als dieselbe Erscheinungsform des Hühnerauges auffaßt, ist ein Idealist (z. B. Thumann).

    Die Musik ist nicht eine Kunst wie die anderen, sondern sie ist nichts anderes, als Meine Philosophie noch einmal. Die Zukunft wird Mich verstehen. Einstweilen nur die Anmerk-ung, daß aus der wahren Musik der Weltschmerz, d. h. das unendliche Weh eines von sich selbst getretenen Hühnerauges heraustönen muß.

    IV. ETHIK.

    Das allgewaltige Elend, das sich in der wahren Musik ausspricht, führt uns zu der Ethik, dem Gipfel Meiner Philosophie.

    Ich könnte Bücher darüber schreiben, wie weh und leid die Welt sich und Mir thut. Der Schmerz der physischen Hühneraugen, unendlich gesteigert bis zur Unermeßlichkeit des Allhühnerauges, das ist der Weltschmerz. Ein grauenhaftes Stechen, Bohren, Schneiden, Klemmen, Ziehen, Zerren, Stoßen, Drücken, Pressen, Drängen, Fressen, Brennen, Vergiften und Zermalmen: - das ist das menschliche Leben.
    Das Unbewußte war ruchlos genug, dem Menschen drei Illusionen mit auf die Lebensbahn zu geben, die ihn über sein Elend zu täuschen versuchen.

    Die erste Illusion heißt: Pantoffel. Wie erbärmlich, wie nichtig. Gegen 23 Stunden der Qual vielleicht 1 Stunde Ruhe.

    Die zweite Illusion heißt: Pflaster. Es ist lächerlich, sich von dieser Täuschung gefangen nehmen zu lassen. Es ist nur eine scheinbare Linderung, denn unter der schützenden und warmen Decke wächst das Traumorgan lustig weiter, bis es den Mantel von sich wirft und den Menschen mit der ganzen Gräßlichkeit seiner nackten Gestalt angrinst.

    Die dritte Illusion dauert am längsten, aber auch sie ist leer. Es ist die Illusion, daß der Mensch dem Elende dieser Erde durch den Selbstmord entgehen, daß der Operateur ihn erlesen könne. Aber der Selbstmord stößt den Menschen nur noch tiefer in den Pfuhl des Individualismus hinein und so ist auch der Hühneraugenoperateur ein falscher Prophet, der das Weltelend nicht zu lindern vermag. Denn das Allhühnerauge ist, wie Ich bewiesen habe, unsterblich und - was noch schlimmer - das physische Hühnerauge - wächst nach.



    Parodie auf Eduard von Hartmanns (1842 - 1906) Werk "Philosophie des Unbewußten".
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