I.
Schon mancher Literaturfreund wird einmal ein
Buch über Literaturtheorie zur Hand genommen haben, in der
Hoffnung, etwas Neues über Literatur zu erfahren. Sollte er
dabei an eine bestimmte Sorte von Publikationen geraten sein, die
gemeinhin das Prädikat "postmodern" oder
"poststrukturalistisch" für sich beanspruchen,
wird diese Erwartung regelmäßig enttäuscht: Nach
der Lektüre einiger Seiten, in der eine Phrase des
Szenejargons die nächste jagt, kommt er zu der bedauerlichen
Erkenntnis, daß seine Kompetenz nicht ausreicht, um diese
anspruchsvollen Abhandlungen zu verstehen.
Auf den nächsten Seiten soll unter
anderem der ketzerischen Frage nachgegangen werden, inwiefern es
in diesen wortgewaltigen Elaboraten überhaupt etwas
Lohnenswertes zu verstehen gibt. Wäre es nicht möglich,
daß das Verständnisproblem nicht auf der Seite des
Lesenden, sondern auf jener der Texte liegt?
Um diese Frage zufriedenstellend beantworten
zu können, muß man etwas weiter ausholen. So gilt es
erst einmal festzuhalten, daß es die Postmoderne
natürlich ebensowenig gibt, wie die Literaturtheorie. Was
letzteren Begriff angeht, hat man aber, zumindest in den USA, den
Eindruck, "theory" werde ausschließlich als
Sammelbegriff für postmoderne Theoriekonzepte verwendet, in
welcher Variante sie auch auftreten mögen, denn die
theoretischen Moden wechseln dort in einer atemberaubenden
Geschwindigkeit. Wenn von nun an von ‘Postmoderne' die
Rede ist, sind diese akademischen Ausprägungen gemeint, also
nicht die Literatur der Postmoderne oder andere postmoderne
ästhetische Hervorbringungen.
Zur Erinnerung: Nachdem in den USA an den
Literaturinstituten lange Zeit der New Criticism, eine
skrupulöse werkimmanente Betrachtungsweise, vorherrschend
war, begannen ab Ende der siebziger Jahre Dekonstruktivisten
einen institutionellen Siegeszug und drängten andere
Theorieansätze schon bald ins Abseits. Führend war
dabei die Universität in Yale, wo mit Paul de Man, J. Hillis
Miller und Geoffrey H. Hartman die prominentesten Vertreter
versammelt waren. Trotz der Unterschiede im Detail bezogen sich
alle von ihnen auf den französischen Philosophen Jacques
Derrida, den Begründer der Dekonstruktion. Ebenfalls sehr
einflußreich waren Jaques Lacan mit seiner
psychoanalytischen Theorie, Michel Foucault mit seinen
zahlreichen Studien und später Stephen Greenblatt, der eine
Bewegung mit der Bezeichnung "New Historicism" ins
Leben rief. Gegenwärtig spielen "Cultural Studies"
eine wichtige Rolle. Über einen längeren Zeitraum
hinweg schienen Gegner dieser Auffassungen nahezu paralysiert.
Sei es, weil sie von dem enormen Erfolg der Poststrukturalisten
überrascht waren, oder sei es, weil sie sich der Flut von
verbalen Angriffen nicht aussetzen wollten - alle Kritiker wurden
sofort, unabhängig von ihren politischen Ansichten, ins
politisch reaktionäre Eck gestellt -: es gab kaum kritische
Veröffentlichungen über die Dekonstruktion. In den
letzten Jahren hat sich das erfreulicherweise geändert,
nachdem eine ganze Reihe von fundierten und lesbaren Studien
erschienen sind, welche die angeblichen neuen Erkenntnisse
kritisch hinterfragen (vgl. Literaturverzeichnis).
Es ist auffallend, daß diesen Tendenzen
im deutschsprachigen Raum mit wesentlich mehr Zurückhaltung
begegnet wurde, obwohl es auch hier eine beachtliche Gemeinde und
einen nicht versiegenden Strom von Publikationen gibt, die sich
diesen Denkrichtungen verpflichtet fühlen. Denn zweifelsfrei
ist es sehr schick, sich das jeweils neueste theoretische
Mäntelchen umzuhängen, das einen automatisch als
fortschrittlichen Denker ausweist. Die Fragen worin diese rituell
beschworene Fortschrittlichkeit eigentlich besteht, und wie es um
die Qualität dieses Denkens bestellt sei, kommen den
Betroffenen anscheinend nicht in den Sinn. Daß beides stark
zu wünschen übrig läßt, sind zwei zentrale
Thesen dieses Artikels.
II.
Im folgenden wird erst einmal ausführlich
von philosophischen Problemen die Rede sein müssen, denn die
postmodernen Thesen zur Literaturtheorie folgen unmittelbar aus
grundsätzlichen philosophischen Überlegungen.
Wirft man einen Blick auf die akademische Philosophie der
letzten Jahrzehnte, so kann man vereinfachend von zwei
großen Richtungen sprechen: die mehr oder weniger
traditionelle und die analytischen Philosophie. Erstere wird
gerne auch als "kontinentale", letztere als
"angloamerikanische" Philosophie bezeichnet. Dieser
Sprachgebrauch ist aber insofern irreführend, als wichtige
Vertreter der analytischen Philosophen immer schon auf dem
Kontinent zu finden waren. In der Praxis verwischen sich die
Grenzen der beiden Strömungen immer mehr, jedoch lassen sich
in vielen Fällen eindeutig diese zwei Stile des
Philosophierens unterscheiden. Kurz gesprochen, stehen
traditionelle Philosophen meist in der Denktradition des
Deutschen Idealismus und deren Nachfolger, während sich die
Analytiker an der Revolution der formalen Logik zu Beginn unseres
Jahrhunderts und der Entwicklung der Naturwissenschaften
orientieren.
Postmoderne Theoretiker sind oft negativ auf
die traditionelle Philosophie fixiert, die sie einerseits heftig
ablehnen, ohne sich jedoch andererseits von ihr lösen zu
können. Doch von diesen geistesgeschichtlichen Verwicklungen
später mehr. Vorher ist es jedoch wichtig, den
Absolutheitsanspruch vieler Postmoderner zurückzuweisen.
Kritik an ihren Konzepten wird nämlich immer wieder mit dem
Hinweis abgeblockt, man hätte grundlegende Aspekte nicht
verstanden, denn ansonsten könnte man sie nicht mit
längst obsoleten "rationalistischen" Kriterien
kritisieren. Denkverbote dieser Art sind natürlich
zurückzuweisen, denn über die Plausibilität einer
Kritik entscheidet nicht in erster Linie der Kritisierte, sondern
die Fachöffentlichkeit und der mündige Leser.
So wäre beispielsweise die Frage nach dem
"Kern" der postmodernen Philosophie innerhalb dieses
Paradigmas unzulässig, weil die Annahme hierarchisch
organisierter Theorien meist zurückgewiesen wird. Ein Blick
in wichtige Veröffentlichungen zeigt jedoch, daß sich
sehr wohl Übereinstimmungen finden lassen, etwa die
Ablehnung aller universalistischen Behauptungen, ganz egal, ob
dabei an philosophische, linguistische, literarische oder
politische gedacht wird. Demgegenüber wird der
Partikularismus gepriesen, ebenfalls unabhängig davon,
worüber gerade gesprochen wird.
Begonnen hatte diese philosophische
Fundamentalkritik in der Sprachphilosophie. War man zur Hochzeit
des Strukturalismus in den sechziger Jahren noch davon
überzeugt, daß man ein objektivierbares
Beschreibungsinstrument für kulturelle Phänomene
gefunden habe, verwarfen die Poststrukturalisten diese Idee als
ideologisch und versuchten durch Dekonstruktionen zu zeigen,
daß es keinerlei stabile Strukturen gäbe, exemplarisch
nachzulesen in dem inzwischen klassischen Aufsatz Derridas:
Die Struktur, das Zeichen und das Spiel.
Eines der Hauptwerke des Poststrukturalismus
stammt ebenfalls von Derrida, die Grammatologie (1967). Es
soll im folgenden als Beispiel für die Fragwürdigkeit
dieser Art des Philosophierens dienen. Ein wesentlicher
Kritikpunkt daran ist die hermetische Sprache, derer sich der
französische Philosoph in fast allen seiner Publikationen
bedient. Die Strategie, durch sprachliche Dunkelheit Gedanken
interessanter erscheinen zu lassen, als sie sind, ist keineswegs
neu und bekanntlich vor allem bei Religionsstiftern sehr beliebt.
Obskurität jedoch als intellektuelles Markenzeichen zu
etablieren, ist eine schon bewunderungswürdige Form des
philosophischen Marketing. Ziel ist es nicht mehr, Begriffe klar
zu definieren und Thesen anschaulich zu vermitteln, sondern ein
rhetorisches Feuerwerk abzubrennen. Diesen Verdacht weisen
postmoderne Theoretiker selbstverständlich empört von
sich. Alleine es bleibt die Tatsache: Alle interessanten
philosophischen Aussagen lassen sich, mit mehr oder weniger
großer Mühe, in eine verständliche Fachsprache
übersetzen, wozu sich ja auch die Meister dieser
Denkrichtung regelmäßig in populären Medien
herablassen. Auch finde ich das Argument nicht überzeugend,
die angesprochenen Sachverhalte seien so komplex und
"tief", daß man die eigene Sprache
zwangsläufig ebenso "tief" wählen muß,
um an diese Mysterien rühren zu können. Hier wird die
Grenze zu quasi-religiösen Gebieten überschritten, und
es kann wohl nicht die Aufgabe der zeitgenössischen
Philosophie sein, als Religionsersatz zu fungieren. Es gibt auch
so eine Fülle spannender Betätigungsfelder für
Philosophen, von der Ästhetik zur Wissenschaftstheorie und
von der Bewußtseins- zur Artifical-Intelligence -
Forschung, um nur ein paar zu nennen.
Diese metasprachliche Kritik könnte man
auf sich beruhen lassen, fände man überzeugende
philosophische Thesen. In der Grammatologie versucht
Derrida vor allem, eine Fundamentalkritik des
"Logozentrismus" zu entwerfen, der die
abendländischen Geistesgeschichte beherrschen soll. Dieser
Logozentrismus besteht darin, daß die "Rede"
(parole) der "Schrift" (écriture) immer schon
übergeordnet wurde. Diese, angesichts der
abendländischen Schriftkultur - von der Bibliothek in
Alexandrien über die Skriptorien der Klöster bis zum
Kulturgut Buch in der Neuzeit - eigenartige These, wird
später noch radikalisiert: Die Schrift war als Ur-Schrift
(archi-écriture) bereits vor der Sprache da. Nimmt man
diese Behauptung wörtlich, ist sie offenbar unsinnig. Die
wichtigsten Einwände hat John M. Ellis in Against
Deconstruction (1989, S. 21) zusammengestellt, etwa die
anerkannte Tatsache, daß die Sprache lange vor der Schrift
existierte oder den Hinweis auf noch existierende Sprachen, die
nur gesprochen, nicht aber geschrieben werden. Versucht man eine
gutwillige Interpretation unter Einbeziehung des aktuellen Stands
der linguistischen Forschung, meint Derrida anscheinend
folgendes: Die Mehrdeutigkeit (Polyvalenz) eines geschriebenen
Textes sei aufgrund des oft vageren Kontextes höher als bei
mündlicher Kommunikation, bei der die
Gesprächssituation Polyvalenzen reduziert. Da für das
Dekonstruktionsprojekt des Philosophen die (angeblich)
unvermeidbare Mehrdeutigkeit der Schrift von zentraler Bedeutung
ist, sieht er sich zu der seltsamen These von der Ur-Schrift
gezwungen. Statt also eine fragwürdige Hypothese mangels
empirischer Absicherung zu verwerfen, versucht er sie durch eine
noch fragwürdigere abzusichern. Aber auch in dieser
Interpretation ist seine These falsch: Es lassen sich nicht nur
in schriftlicher Kommunikation Mehrdeutigkeiten ausschalten (etwa
durch Anwendung der formalen Logik), sondern es gibt auch in der
mündlichen Kommunikation hinreichend viele
Mißverständnisse, um diese pauschale
Gegenüberstellung zu widerlegen.
Aber vielleicht meint Derrida mit
‘Schrift' gar nicht Schrift? Dazu läßt sich
pauschal nichts sagen, weil in der Grammatologie ‘
Schrift' mit zahlreichen unterschiedlichen Bedeutungen
gebraucht wird. Nur ein Beispiel: "Die natürliche
Schrift ist unmittelbar an die Stimme und den Atem gebunden"
(S. 33). Zwanzig Seiten später stößt man auf:
"Einerseits erkennt Saussure der Schrift nur eine
beschränkte und abgeleitete Funktion zu [...]". Dabei
bleibt völlig außer acht, daß de Saussure unter
‘Schrift' etwas ganz anderes versteht als Derrida.
Diese Art der Begriffsverwirrung ist typisch für das Buch.
Theoretisch ist es möglich, Derridas Schriftbegriff so
zurecht zu biegen, daß seine Basisthesen auf den ersten
Blick nicht mehr sinnlos erscheinen. Aber dann verlieren die
Thesen rapide an Interesse, und die Wahl des Begriffs
‘Schrift' für dieses Phänomen wäre
willkürlich und irreführend.
Doch nicht allein die Sprache ist obskur und
die Hypothesen sind empirisch nicht hinreichend belegt, Derrida
muß sich auch den Vorwurf der Einseitigkeit gefallen
lassen. Gehörte es lange zum guten Ton in der Philosophie,
sich ausführlich mit Konkurrenztheorien auseinanderzusetzen,
ignoriert man in postmodernen Kreisen schlicht, was sich nicht
vereinnahmen läßt. Wer sich mit der Sprachphilosophie
des 20. Jahrhunderts beschäftigt hat, weiß um die
Bedeutung der analytischen Philosophie auf diesem Gebiet. Frege,
Russell, Wittgenstein, Quine und andere leisteten Hervorragendes
darin, ohne daß es Derrida für notwendig erachtet,
sich mit ihren Arbeiten zu beschäftigen. Das ist methodisch
unzulässig und intellektuell unredlich, trotzdem gang und
gäbe in postmodernen Publikationen. Im Gegensatz dazu setzen
sich Vertreter der analytischen Philosophie durchaus mit
postmodernen Theorien auseinander, wenn auch bei weitem noch
nicht ausreichend. Als Gewährsmann für diese
Feststellung kann Reed Way Dasenbrock dienen, ein Kenner der
Szene, der selbst mit der Dekonstruktion sympathisiert und eines
der wenigen Bücher über dieses Thema herausgegeben hat:
Redrawing the Lines. Analytic Philosophy, Deconstruction and
Literary Theory (1989). In der Einleitung stellt er fest:
"Advocates of deconstruction seem much less informed about
Anglo-American philosophy than those in the analytic camp are
about deconstruction." (S. 11), was er mit mehreren
Beispielen belegt.
Aber wenn sich postmoderne Philosophen einmal
herablassen und auf "fachfremde" Konzepte
zurückgreifen, sind die Resultate dieser Zusammenarbeit
deshalb nicht überzeugender. Nachgerade peinlich wird es
meist, wenn sich Poststrukturalisten als Erntehelfer in
naturwissenschaftlichen Gärten betätigen. Es werden
dann Chaos-, Quantentheorie und andere vereinnahmt, ohne
daß diese Theorien auch nur ansatzweise begriffen worden
wären. Die Vorstellung, daß in den Naturwissenschaften
Begriffe eine relativ stabile Bedeutung besitzen und Theorien die
Realität objektiv beschreiben sollen, könnte dem
Dekonstruktivisten freilich auch fremder nicht sein.
Erfreulicherweise machen sich in den letzten Jahren immer mehr
Kritiker die Mühe, diesen Mißbrauch
naturwissenschaftlicher Theorien im Detail nachzuweisen. Im Fall
der Chaostheorie etwa Carl Matheson und Evan Kirchhoff in ihrem
Aufsatz Chaos and Literature (Philosophy and Literature
1/1997; S. 28ff.).
Ein weiteres Indiz dafür war die
sogenannte Sokal-Affäre, die weltweites Aufsehen erregte.
Alan Sokal, Physiker an der New York University, wollte zeigen,
wie tief die wissenschaftlichen Standards in der postmodernen
akademischen Szene bereits gesunken sind und verfaßte 1994
deshalb einen Aufsatz mit dem Titel Transgressing the
Boundaries - Toward a Transformative Hermeneutics of Quantum
Gravity. In ihm gab er einen Überblick über
aktuelle Probleme der Physik und zog daraus eine Reihe von
Konsequenzen, die ideal in die postmoderne Ideologien
paßten. Angereichert war der Text natürlich auch mit
dem entsprechenden Jargon. Der Haken dabei: Der Aufsatz war
durchsetzt mit offenkundig falschen physikalischen Informationen,
unschwer auch für den gebildeten physikalischen Laien
erkennbar. Sokal schickte nun seinen Text als trojanisches Pferd
an eine der führenden postmodernen Fachzeitschriften,
Social Text, die ihn dann auch im Frühjahr 1996
abdruckte. Der Physiker machte seinen "Scherz" publik,
und die Blamage war da: Offensichtlich war es für die
Publikation völlig ausreichend, den richtigen Sprachduktus
zu treffen und die üblichen Thesen zu verbreiten. Die
sachliche Korrektheit spielte keinerlei Rolle. Die
Vernachlässigung selbst der primitivsten wissenschaftlichen
Standards war offenkundig. Verschärfend kam noch hinzu,
daß sich Sokal selbst politisch dezidiert als links
versteht, weshalb auch der beliebte Vorwurf des Reaktionären
ins Leere ging.
Es ist jedoch unzulässig, hier zu
weitgehende Verallgemeinerungen zu ziehen. Denn nicht die
Geisteswissenschaften haben sich blamiert, sondern nur die
Vertreter der postmodernen Akademia. Auch wenn diese in den USA
derzeit am einflußreichsten sind, gibt es zunehmend
kritische Stimmen, und selbstverständlich erscheinen auch
seriöse Fachzeitschriften, wie Philosophy and
Literature (John Hopkins University Press), welche die Kritik
Sokals durchaus teilen.
Zurück zur postmodernen Philosophie und
zu einigen grundlegenden Kritikpunkten. Jede Variante dieser
Theorie ist relativistisch, anders wären die diversen
Partikularismen nicht vertretbar. Der Relativismus ist - vor
allem in den radikalen Varianten - nun aber mit einer Reihe von
philosophischen Schwächen behaftet. Denn wenn alles relativ
ist, ist zwangsläufig auch der Relativismus relativ, kann
also konsistent nicht als Standpunkt vertreten werden. Dieses
Argument ist weder neu noch originell, mußten sich doch
bereits die Skeptiker der Antike damit auseinandersetzen.
Trotzdem ist es gültig, und es bleibt für einen
Poststrukturalisten nur ein Ausweg: seinen Standpunkt explizit
als relativ zu bezeichnen, wenn er glaubwürdig bleiben will.
In diesem Fall verliert seine Position jedoch jegliches
Interesse. Warum sollte man sich mit irgendeiner beliebigen
Theorie auseinandersetzen, für die nicht einmal ein
gemäßigter Wahrheitsanspruch erhoben wird? Von den
bedenklichen politischen Implikationen des Relativismus wird
später noch die Rede sein müssen.
Doch nicht nur der philosophische Überbau
ist verhältnismäßig leicht zum Einsturz zu
bringen, auch die methodische Praxis der Dekonstruktion kann
nicht überzeugen. Ziel der Dekonstruktion eines Textes ist
dessen immanente Selbstwiderlegung. Durch Aufwertung von
Nebensächlichem oder extravagante Lesarten soll das
Sinnzentrum eines Textes zerstört werden. Entledigt man
diese Vorgehensweise vom damit verbundenen ideologischen und
rhetorischen Pathos, zeigt sie sich in einem wenig
schmeichelhaften Licht, nämlich als willkürliche und
unsystematische Interpretation von abseitigen Textelementen. Es
sei gar nicht bestritten, daß sich dabei manchmal, je nach
Brillanz des Dekonstruktivisten, interessante Perspektiven
eröffnen. Zufallsfunde dieser Art sind aber nicht
hinreichend, um eine überzeugende literaturwissenschaftliche
Methode zu etablieren. Darüber hinaus steht hier einmal mehr
der Verdacht der Selbstwidersprüchlichkeit im Raum. Wie soll
man denn den Sinn eines Textes dekonstruieren können, wenn
es laut poststrukturalistischer Sprachtheorie gar keine
sinnvollen Texte geben kann? Dekonstruktivisten,
ursprünglich angetreten, der klassischen Hermeneutik den
Todesstoß zu versetzen, sind gezwungen, diese
künstlich am Leben zu erhalten, indem sie selbst eine Art
pervertierter Hermeneutik praktizieren. Wer lieferte sonst die
Sinnangebote eines Textes, an dem sie sich rhetorisch austoben
können? Doch auf diese kleinlichen logischen Einwände
schlägt einem meist eisiges Schweigen entgegen. Die Logik
fiel selbstverständlich auch dem postmodernen Furor zum
Opfer. Da hilft auch nicht der schüchterne Hinweis auf die
Logik als Bedingung der Möglichkeit menschlicher
Kommunikation, weshalb auch Poststrukturalisten nolens volens
sich ihr immer wieder einmal bedienen müssen. Setzten sie
ihre Theorien konsequent in die Praxis um, bliebe ihnen nur
dauerhaftes Schweigen. Doch das wird eine Utopie bleiben,
schließlich ist Schweigsamkeit akademischen Karrieren nicht
eben förderlich.
Die Widersprüche zwischen Theorie und
Praxis sind überhaupt ein weites Feld. Denn trotz aller
Fundamentalkritik (von der Logik bis zum Wissenschaftsbetrieb)
werden nur selten praktische Konsequenzen gezogen. Vielmehr
wurden die alten Rituale und Machtspiele unbesehen
übernommen, wenn auch unter postmodernen Vorzeichen.
Es sollte inzwischen deutlich geworden sein,
daß die postmoderne Philosophie keine überzeugenden
Lösungen für die diskutierten Probleme anzubieten hat.
Dies wird noch offensichtlicher werden, wenn
geistesgeschichtliche Aspekte und philosophische Alternativen in
das Blickfeld rücken.
III.
Setzt man sich ausführlicher mit
postmodernen Publikationen auseinander, drängt sich immer
stärker eine soziologische Frage auf: Wie konnte diese Art
des Philosophierens eine so große Anhängerschaft
gewinnen? Einen wichtige Rolle spielte sicher der
revolutionäre Impetus der Postmoderne. Daß viele
angepriesene Neuheiten so neu nicht waren, erschloß sich
erst auf den zweiten Blick. Auch der hermetische Jargon darf in
diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden, gibt er
doch das Gefühl, an exklusivem Wissen teilzuhaben, das nur
Eingeweihten zugänglich ist. Viele Geheimgesellschaften
wußten um diesen gruppendynamischen Effekt.
Schließlich hielt man die Postmoderne politisch für
eine fortschrittliche Bewegung, attraktiv für alle, die mit
dem Gesellschaftszustand unzufrieden waren/sind. Doch genau
dieser Aspekt bedarf einer genaueren Analyse.
Zweifelsfrei entfaltete das Aufblühen der
postmodernen Theorien in den USA und darüber hinaus ein
großes Emanzipationspotential. Man begann sich für
Minderheiten zu engagieren, es entstanden neue Disziplinen wie
gay und postcolonial studies. Feministische Forschungsrichtungen
konnten sich etablieren, und der akademische Betrieb wurde
insgesamt politisch sensibilisiert. Damals wurde Kritik an dem
neuen literaturtheoretischen Paradigma mit einem gewissen Recht
als politisch reaktionär verschrieen, ein Vorwurf der auch
heute noch gerne erhoben wird. Die Situation hat sich jedoch
inzwischen grundlegend geändert: Vertreter der Postmoderne
sitzen in den USA an den wichtigsten Stellen der
Universitäten und Verbände, haben Macht und
Einfluß in Fülle. Ihre Kritiker sind gegenwärtig
in der Minderheit, weshalb heute eine Kritik an postmodernen
Theorien nicht mehr mit dem Pathos einer verfolgten
akademischen Randgruppe zurückgewiesen kann, ohne sich
selbst der Lächerlichkeit preis zu geben.
Es stellt sich nun die interessante Frage,
inwiefern sich das konzedierte emanzipatorische Potential
notwendigerweise aus der postmodernen Philosophie ergibt. Was ist
das spezifisch Progressive an der Postmoderne? Zweifelsfrei der
Einsatz für Minderheiten und Randgruppen. Doch ist auch die
Begründung dieses Engagements selbst fortschrittlich? Es
wäre ja durchaus denkbar, daß emanzipatorische
Fortschritte in der Praxis stattfinden, obwohl die philosophische
Theorie keine hinreichende Rechtfertigung dafür liefert bzw.
sie sich, in einem anderen gesellschaftlichen Umfeld, auch
für anti-emanzipatorische Zwecke einsetzen ließe. Wie
sehr Differenzierung zwischen Theorie und Praxis in diesem Fall
notwendig ist, zeigt unter anderem ein Blick auf die
geistesgeschichtlichen Wurzeln.
Die zwei wichtigsten philosophischen
Väter der Poststrukturalisten sind Friedrich Nietzsche und
Martin Heidegger. Nun ist das Werk Nietzsches ein beliebter
Steinbruch für ideologische Versatzstücke,
Reaktionäres läßt sich ebenso ausführlich
mit Zitaten belegen wie Progressives. Doch berufen sich
postmoderne Philosophen weniger auf politisierbare Aussagen
Nietzsches im engeren Sinn, sondern auf dessen
erkenntnistheoretische Thesen, speziell auf seine Polemiken gegen
den traditionellen philosophischen Wahrheitsbegriff. Seine
fragmentarische und unsystematische Denkweise war ebenfalls von
großer Vorbildwirkung. Bedauerlich ist nur, daß sich
Nietzsches gegenwärtige Adepten nicht auch seines brillanten
Stils bedienen, doch das wäre ja der intendierten Dunkelheit
abträglich.
Als stilistisches Vorbild kann deshalb eher
Heidegger gelten, dessen Sprache auch noch höchste
Obskuritäts-Ansprüche zufriedenstellen kann. Heidegger
als Säulenheiliger einer progressiven philosophischen
Bewegung? Man braucht gar nicht an Heideggers fanatisches
Engagement für die nationalsozialistische Revolution im Jahr
1933 zu erinnern, in der er die Umsetzung seiner philosophischen
Vorstellungen in de Praxis sah, um diese Zumutung
zurückzuweisen. Allein seine provinzielle
anti-modernistische Philosophie verweist diese Annahme ins Reich
der theoretischen Skurrilität. Es ist also mehr als
berechtigt, die angebliche Fortschrittlichkeit dieser Philosophen
in Frage zu stellen. Sieht man einmal davon ab, daß die
esoterischen Sprachdünkel per se undemokratisch sind,
beschränken sie doch ohne jegliche Notwendigkeit die
Rezeption auf einen mehr oder weniger engen Kreis von
Eingeweihten.
Gegen alle Beteuerungen ist auch der
propagierte Partikularismus und Kulturrelativismus alles andere
als politisch progressiv, eine überzeugende postmoderne
ethische Theorie konnte jedenfalls noch nicht formuliert werden.
Wie soll man sich auch für Menschenrechte, Bekämpfung
der Armut oder bessere Bildungschancen einsetzen, wenn keinerlei
universalistische Wertmaßstäbe existieren? Wenn
tatsächlich die Werte aller Kulturen gleichberechtigt sind,
dann müssen konsequenterweise noch die gröbsten
"kulturbedingten" Menschenrechtsverletzungen toleriert
werden. Das Vertreten eines extremen Partikularismus macht also
jedes Engagement für Menschenrechtsverletzungen in anderen
Kulturen unglaubwürdig. Doch was sollen "Kultur"
und "Kulturen" in diesem Zusammenhang eigentlich
bedeuten? Jörg Fisch wies in der Neuen Zürcher
Zeitung (6. April 1998) berechtigterweise auf die
unvermeidlichen Absurditäten einer Pluralisierung des
Kulturbegriffs hin. Als Beispiel erwähnt er unter anderem
einen christlichen Javaner. Gehört dieser zur christlichen
und damit abendländischen Kultur? Oder doch zur
indonesischen, die dann aber per definitionem nicht islamisch
sein könnte? Auf der Ebene des Individuums verliert der
postmoderne Kulturbegriff nicht nur jegliche Plausibilität,
sondern entfaltet auch ein nicht zu unterschätzendes
repressives Potential. "In noch stärkerem Maße
als die Einteilung in Nationen bedeutet die Einteilung der
Menschheit in Kulturen eine Uniformierung und Vergewaltigung der
Betroffenen. Die Opfer sind gerade die kleineren Gruppen, die
Minderheiten, die Mischlinge, alle jene, die in kein Schema
passen." (Jörg Fisch). Man wird also doch klassisch
aufklärerisch ansetzen müssen, nämlich bei den
unveräußerlichen Rechten jedes Menschen, in
welchem Kulturkreis er auch leben möge. Das Argument der
Kulturabhängigkeit der Menschenrechte wird deshalb
konsequenterweise vor allem von autoritären Regierungen und
wirtschaftlich ambitionierten westlichen Politikern vertreten,
während die repressiv Regierten in allen Kulturen
Menschenrechtsgruppen gebildet haben.
Ein postmoderner Theoretiker steht also vor
einem Dilemma. Wie kann er seine politische Progressivität
begründen, ohne seine philosophischen Theorien zu verraten?
Derrida gibt auch hier wieder ein sehr aufschlußreiches
Beispiel ab, denn an seinem politischen Engagement ist eigentlich
nicht zu zweifeln. Doch wie kann er es vor dem Hintergrund seiner
Sprachphilosophie und seiner Erkenntnistheorie rechtfertigen? Da
eine rationale Begründungsstrategie aus ideologischen
Gründen ausgeschlossen ist, bleibt also nur deren Gegenteil.
Mark Lilla, Politikwissenschaftler an der New York University und
Mitglied des Institute for Advanced Studies in Princeton, ist dem
kürzlich in der New York Review of Books (Nr.
11/1998) nachgegangen. In The Politics of Jacques Derrida
analysiert er dessen jüngste Publikationen unter diesem
Gesichtspunkt. Besonderes Interesse bringt er dem neuen
Gerechtigkeitskonzept des französischen Philosophen
entgegen, das dieser jetzt plötzlich nicht mehr als Objekt
der Dekonstruktion gelten lassen möchte, während der
Dekonstruktion früher praktisch alles unterworfen wurde. Zu
diesem Zweck grenzt er Gerechtigkeit vom konventionellen Recht
ab, begibt sich also auf klassisches rechtsphilosophisches
Terrain. Ohne seine philosophische Herkunft zu verraten, kann
Derrida selbstverständlich nicht auf die klassischen
Begründungen des Rechts zurückgreifen, also auf Natur
oder Vernunft. Wie Mark Lilla nachweist, bleibt ihm in diesem
Fall nur eine Möglichkeit der Begründung eines
absoluten Gerechtigkeitskonzepts übrig, und er nennt diese,
anders als Derrida, auch beim Namen: Offenbarung (revelation). In
Marx' Gespenster ist denn auch immer wieder von
Messianismus die Rede. Konnte man schon immer vermuten, daß
Derridas Irrationalismus einmal ins Pseudo-religiöse
umkippen würde, ist doch Religion die klassische Quelle des
Irrationalen, ist man von diesem Ergebnis nun dennoch
überrascht. Lilla deutet diese Eskapaden als
"intellectual desperation", eine Bewertung, der man
sich wohl anschließen muß.
Die wahren Feinde des Fortschritts sind aber
für die Postmodernen selbstverständlich nicht jene, die
zur Rechtfertigung ihres Gerechtigkeitskonzept zu mystischen
Offenbarungen und messianischen Projektionen greifen, sondern die
sogenannten "Positivisten", eine Bezeichnung, mit der
großzügig die meisten Denker bedacht werden, die an
minimalen Rationalitätsstandards festhalten wollen. Als
konservativ, reaktionär oder "szientistisch"
geschmäht, werden sie und ihre Arbeiten, wie oben bereits
ausgeführt, in der Regel ignoriert, wenn nicht gerade
passende intellektuelle Feindbilder benötigt werden.
IV.
Gemeint sind damit in erster Linie Vertreter
der analytischen Philosophie, insbesondere Mitglieder des Wiener
Kreises. In der Tradition der Aufklärung stehend, werden sie
gerne für alle Übel der Moderne verantwortlich gemacht.
Einige schrecken nicht einmal davor zurück, die
Aufklärung - was genau das auch immer sein mag - für
den Holocaust verantwortlich zu machen. Dafür wird der
Aufklärungsbegriff gerne bis zur Unkenntlichkeit
aufgebläht, was ein Blick auf die Geschichte der
Aufklärungskritik belegt, wenn etwa von Adorno und
Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung der
ehrwürdige Marquis de Sade als deren Vertreter
"analysiert" wird. Aller argumentativen Schieflage zum
Trotz wird ‘Aufklärung' oft gleichzeitig auf
instrumentelle Rationalität verengt, da der humanistische
und emanzipatorische Gehalt der Aufklärung nicht ins Konzept
paßt. Diese fragwürdigen Argumentationsstrategien
finden sich in postmodernen Stellungnahmen zum Thema wieder.
Eine Untersuchung der damaligen
geistesgeschichtliche Situation zeigt ein völlig anderes
Bild. Der Kern der nationalsozialistischen Ideologie war auch
nach zeitgenössischen Maßstäben zutiefst
irrational, und wurde nicht zuletzt von analytischen Philosophen
auch so wahrgenommen. Die angeblich
"wissenschaftlichen" Rechtfertigungen, etwa der Lehren
vom "Völkischen", beruhten auf ideologischen
Funktionalisierungen. Die Wissenschaftspolitik der NS-Diktatur
verabschiedete sich explizit von jeglichen
Objektivitätsstandards und verwandelte Wissenschaft dadurch
in Pseudo-Wissenschaft. Das schlug sich sogar enzyklopädisch
nieder, etwa wenn im vierbändigen Brockhaus von 1941 unter
dem Eintrag "Wissenschaft" folgendes zu lesen ist:
"Durch die entscheidende geistige Umgestaltung, die der
Nationalsozialismus vollzog, wurde die Abstraktion einer
wertfreien, voraussetzungslosen W. überwunden; die
Wissenschaft wurde unbeschadet ihrer sachlichen Forschungsweise
in ihre dienende Rolle gegenüber dem Leben des Volkes
zurückgewiesen". Kurz vorher ist von einer
"weltanschaulich unsicher gewordenen Wissenschaft" die
Rede.
Zu dieser - aus nazistischer Perspektive -
weltanschaulichen Verunsicherung trugen maßgeblich die
Mitglieder des Wiener Kreises und ihm nahestehende Philosophen
bei. Zu nennen wären etwa Moritz Schlick, Otto Neurath,
Rudolf Carnap, Kurt Gödel sowie Karl Popper und Ludwig
Wittgenstein. Ausgehend von den neuen Errungenschaften der
formalen Logik und neuesten Ergebnissen der Naturwissenschaften,
versuchten sie eine ideologie- und metaphysikfreie Philosophie zu
entwickeln, indem sie höchste Ansprüche in bezug
Transparenz und logischer Stringenz an ihre Arbeit stellten.
Daß manche ihrer philosophischen Projekte in der
intendierten Radikalität letztlich scheitern mußten,
schmälert nicht ihr Verdienst, der Philosophie unseres
Jahrhunderts wesentliche Impulse gegeben zu haben. Sogar wenn man
von den neuen philosophischen Erkenntnissen absieht: Radikale
Selbstkritik und instruktive Zusammenarbeit waren
revolutionär in einer Zeit, in der sich etwa ein Martin
Heidegger als pseudoreligiöser Prophet gerierte und seine
Jünger um sich scharte. Es ist wenig verwunderlich,
daß der Wiener Kreis austrofaschistischen Politikern ein
Dorn im Auge war. Denn sind radikale Objektivitätsstandards
und unvoreingenommene kritische Prüfung aller Thesen an sich
gefährliche Gegner für Ideologen aller Couleur, trug
das sozialreformerische Engagement vieler Mitglieder des Wiener
Kreises natürlich zur Verfemung bei. Nicht nur wurden auf
Basis philosophischer Überzeugung politische Forderungen
erhoben, es gab auch konkretes Engagement, indem beispielsweise
Vorträge für Arbeiter veranstaltet wurden. Träger
derartiger Initiativen war der Verein Ernst Mach, der 1934
polizeilich aufgelöst wurde. Das Projekt des Wiener Kreises
mußte in den dreißiger Jahren politisch scheitern. In
diesem Klima des Hasses und der Irrationalität
erschießt der dreiunddreißigjährige Johann
Nelböck, Doktor der Philosophie, seinen ehemaligen Professor
Moritz Schlick vor der Wiener Universität. Vor Gericht
rechtfertigt sich der Attentäter unter anderem damit, und
hier schließt sich der Kreis zum Brockhaus-Artikel,
daß er durch Schlicks empiristische Philosophie alle
religiösen Überzeugungen und jeden Halt verloren
habe.
Es zeigt sich also, daß die damaligen
Vertreter einer aufgeklärten Weltanschauung in ihrer
großen Mehrheit aufgrund ihrer philosophischen und
politischen Überzeugung der nationalsozialistischen
Ideologie Widerstand leisteten und von den Herrschenden auch als
solche wahrgenommen wurden. Daß es von Moritz Schlick auch
Versuche gab, sich aus strategischen Gründen mit den
Behörden zu arrangieren, ändert ebenso nichts an dieser
grundsätzlichen Bewertung, wie der berüchtigte
Nationalismus Gottlob Freges. Während also die
avanciertesten Vertreter philosophischer Rationalität zur
Emigration gezwungen waren, Manfred Geier nennt das entsprechende
Kapitel in seiner Monographie treffend Die vertriebene
Vernunft, konnten sich die avanciertesten Vertreter des
Irrationalismus - wie Heidegger - wunderbar mit den neuen
Machthabern arrangieren. Daß Heidegger nicht zu Unrecht
seine anti-moderne, dunkel-irrationale Philosophie im
Nationalsozialismus verkörpert sah, ist nur eine
geistesgeschichtliche Tatsache, die ein voreiliges
Verantwortlichmachen der Aufklärung für die Verbrechen
des Dritten Reiches ad absurdum führt.
Angesichts der skizzierten Fakten und der
Kenntnis um das esoterische geistige Umfeld, aus dem der
Nationalsozialismus hervorkroch, ist es um so erstaunlicher, wie
häufig in intellektuellen Debatten immer noch der Konnex
zwischen Rationalität und NS gezogen wird. Um
Mißverständnisse zu vermeiden: Natürlich spielte
die instrumentelle Vernunft bei der Umsetzung der
nazistischen Vernichtungspolitik eine wesentliche Rolle.
Daß mit ihrer Hilfe jedoch eine zutiefst irrationale
Ideologie in die verbrecherische Praxis umgesetzt wurde, wird
allzuleicht vergessen.
Die Rezeptionsgeschichte des Wiener Kreises,
in vieler Hinsicht typisch für die Rezeption der
analytischen Philosophie, ist ein Trauerspiel. Zwar gibt es seit
längerer Zeit Bemühungen, dieses wichtige Kapitel,
nicht nur der österreichischen Philosophiegeschichte, wieder
verstärkt ins öffentliche Blickfeld zu rücken,
etwa durch das in Wien ansässige Institut Wiener Kreis. Doch
wie viel hier noch zu tun ist, zeigen die Buchhandelskataloge:
Selbst zentrale Schriften dieser Philosophen sind nicht
lieferbar, sondern müssen mühsam über Bibliotheken
besorgt werden. Daß nach vielen Jahren beim Verlag Felix
Meiner nun endlich eine Neuausgabe von Rudolf Carnaps Der
logische Aufbau der Welt herausgegeben wurde, ist nur ein
Tropfen auf den heißen Stein. Ob es für die geistige
Lage unserer Zeit symptomatisch ist, daß man im Verzeichnis
lieferbarer Bücher unter "Rudolf Carnap" auf vier
Titeleinträge stößt - davon einer als vergriffen
gekennzeichnet -, während es bei "Martin
Heidegger" deren 169 sind?
Nach dieser philosophiehistorischen
Abschweifung sollte klar geworden sein, daß es eine
Alternative zur postmodernen Art des Philosophierens gibt, denn
das Projekt des Wiener Kreises wurde und wird in modifizierter
Form nach 1945 fortgeschrieben. Überzeugende Ergebnisse gab
es in allen philosophischen Teildisziplinen, wenn auch
Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie an prominenter Stelle
zu erwähnen sind. Popper, Quine, Kripke, Searle, Davidson
und Putnam sind nur einige, die Hervorragendes geleistet haben.
Welcher Stil des Philosophierens sich letztendlich durchsetzen
wird, ist schwer zu prognostizieren. Es spricht angesichts der
oben beschriebenen philosophischen Schwächen jedoch viel
dafür, daß "die Postmoderne" einmal ebenso
als Modephilosophie in die geistigen Annalen des Jahrhunderts
eingeht, wie das beim Existentialismus der Fall war.
V.
Wieso also sollte man nicht auch die
analytische Philosophie als alternative Grundlage für die
Literaturtheorie heranziehen? Angesichts der philosophischen
Schwächen und der politisch bedenklichen Implikationen gibt
es keinerlei Notwendigkeit, postmoderne Theorien als Metatheorien
für Literatur bzw. für Literaturwissenschaft zu
verwenden. Demgegenüber stellt die analytische Philosophie
mehrere Anknüpfungspunkte bereit, und zwar für die
verschiedenen Ebenen des Objektbereichs
"Literatur".
Für theoretische Untersuchungen bieten
sich etwa Anschlußmöglichkeiten bei der analytischen
Ästhetik, was Strukturen und Eigenschaften ästhetischer
Objekte und deren ontologischen Status betrifft. Beschreibt man
Literatur als Sprachkunstwerk, werden ebenfalls Ergebnisse der
Sprachphilosophie relevant. Eine ihrer prominenten Theorien, die
Sprechakttheorie, hat ja schon einen sehr hohen Bekanntheitsgrad
erreicht, andere gäbe es noch zu entdecken. Daß eine
philosophische Richtung potentiell wichtige theoretische
Beiträge zu einer Disziplin leisten kann, ist nicht weiter
erstaunlich. Überraschender wäre schon, wenn sie auch
praktische Relevanz besäße. Was würden auch die
schönsten Theorien helfen, wenn es keine Alternative zur
postmodernen Methode der Dekonstruktion bzw. zu den cultural
studies gäbe? Vor dem Hintergrund des aktuellen
Forschungsstandes wäre es vermessen, schon jetzt eine
"fertige" literaturwissenschaftliche Methode
präsentieren zu wollen. Leider gibt es immer noch
verhältnismäßig wenige Theoretiker der
Literaturwissenschaft, die sich mit potentiellen
Anwendungsmöglichkeiten der analytischen Philosophie
für ihre Disziplin beschäftigen. Trotzdem kann man auch
jetzt schon einige interessante Hinweise geben. Der Nutzen ist
noch auf einer sehr abstrakten wissenschaftstheoretischen Ebene
angesiedelt, denn interessant ist besonders die Anwendung
methodologischer Kriterien der analytischen Wissenschafstheorie
auf die Literaturwissenschaft. Es geht also um die komplexe
Frage, nach welchen dieser Kriterien sich ein
Literaturwissenschaftler orientieren soll, wenn er möglichst
zuverlässige Aussagen über Literatur erreichen
will.
Ohne an dieser Stelle ins Detail gehen zu
können, seien doch zwei dieser Kriterien hervorgehoben. Als
erstes und wichtigstes das der Intersubjektivität,
d.h. jede Aussage muß zumindest prinzipiell der
Prüfung durch die (Fach-)Öffentlichkeit unterzogen
werden können. Damit eng zusammen hängt das Postulat
einer möglichst klaren Fachsprache, um eine von
Mißverständnissen weitgehend freie Kommunikation zu
erreichen. Zugegebenermaßen handelt es sich hierbei um
Idealforderungen, die in der Praxis nur schwer umzusetzen sein
werden. Die Wichtigkeit dieser Postulate läßt sich
aber wissenschaftstheoretisch ebenso unschwer zeigen wie die
Fehler, welche durch deren Vernachlässigung entstehen. So
hat Harald Fricke bereits 1977 in seiner Studie Die Sprache
der Literaturwissenschaft anhand von 80
literaturwissenschaftlichen Aufsätzen unter anderem
nachgewiesen, daß die Sprachverwendung um so poetischer und
damit vieldeutiger werde, je weniger überzeugend die
jeweiligen Argumente seien. Beide Kriterien stehen offensichtlich
konträr zur postmodernen Theorie und Praxis, weshalb sich
ihre Vertreter den begründeten Vorwurf gefallen lassen
müssen, für fallende Erkenntnisstandards verantwortlich
zu sein, wenn sie selbst auf diese wissenschaftlichen
Minimalstandards verzichten wollen. Nicht zuletzt deshalb war
etwas wie die Sokal-Affäre überhaupt erst
möglich.
[Mehr zu dieser Thematik findet sich hier].
Eine andere Anregung, die von der analytischen
Philosophie ausgehen könnte, betrifft verstärkte
interdisziplinäre Zusammenarbeit. Philosophen dieses
Denkstils orientieren sich oft sehr fruchtbar an Ergebnissen
diverser Einzelwissenschaften. Mehr Interdisziplinarität
wäre auch für die Literaturwissenschaft
wünschenswert. Bezüglich der philologischen
Schwesterdisziplin Linguistik wird diese Forderung immer wieder
erhoben, es scheint sich aber auch die Zusammenarbeit mit anderen
Fächern anzubieten, etwa der Kognitionswissenschaft.
Was also soll man einem theoretisch
interessierten Literaturfreund raten? Wer Wert darauf legt, am
theoretischen Puls der Zeit zu sein, wird um ausgewählte
Lektüre postmoderner Publikationen nicht herumkommen, obwohl
sich der Erkenntnisgewinn in engen Grenzen halten wird. Ansonsten
sei die Suche nach der berühmten Nadel im
literaturtheoretischen Heuhaufen empfohlen. Entweder greift man
nach immer noch aktuellen Klassikern des Genres, etwas Jurij
Lotmans Die Struktur literarischer Texte oder nach
gelungenen Überblicksstudien. Herausragend bei letzteren
sind die drei Werke Peter V. Zimas über Literarische
Ästhetik (1991), Dekonstruktion (1994) und
Moderne/ Postmoderne (1997). Obwohl sich bis jetzt eine
"Analytische Literaturwissenschaft" nur am Rande
etablieren konnte, gibt es nicht wenige Publikationen dieser
Richtung. Erwähnenswert sind etwa die
Veröffentlichungen Harald Frickes (vgl.
Literaturverzeichnis) und die in der von ihm erschienenen Reihe
Explicatio erschienenen Studien.
Ausgewählte Literatur:
Boyd, Richard; Gasper, Philip; Trout J.D.: The Philosophy of
Science. Cambridge/London: MIT Press 1991 (=A Bradford Book)
Dasenbrock, Reed Way (Hrsg.): Redrawing the Lines: Analytic
Philosophy, Deconstruction, and Literary Theory. Minneapolis:
University of Minnesota Press, 1989
Derrida, Jacques: Die différance. In: Postmoderne und
Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der
Gegenwart. Herausgegeben von Peter Engelmann. Stuttgart: Reclam
1990 (=Reclams Universal Bibliothek 8998) S. 76-113
Derrida, Jacques: Die Struktur das Zeichen und das Spiel im
Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Postmoderne und
Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der
Gegenwart. Herausgegeben von Peter Engelmann. Stuttgart: Reclam
1990 (=Reclams Universal Bibliothek 8998) S. 114-139
Derrida, Jaques: Grammatologie. Frankfurt: Suhrkamp 1992
(=suhrkamp taschenbuch wissenschaft 417)
Derrida, Jacques: Marx' Gespenster. Frankfurt: Fischer
Taschenbuch 1996 (=Zeitschriften)
Ellis, John M.: Against Deconstruction. Princeton: Princeton
University Press 1989
Fricke, Harald: Die Sprache der Literaturwissenschaft.
Textanalytische und philosophische Untersuchungen. München:
C.H. Beck 1977 (=Edition Beck)
Fricke, Harald: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der
Literatur. München: C.H. Beck 1981 (=Beck´sche
Elementarbücher)
Fricke, Harald: Literatur und Literaturwissenschaft.
Beiträge zu Grundfragen einer verunsicherten Disziplin.
Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 1991
(=Explicatio)
Geier, Manfred: Der Wiener Kreis. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch
1992
Harris, Wendell V. (Editor): Beyond Poststructuralism. The
Speculations of Theory and the Experience of Reading. University
Park: Pennsylvania State University Press 1996
Livingston, Paisley: Literary Knowledge. Humanistic Inquiry
and the Philosophy of Science. Ithaca/London: Cornell University
Press 1988
Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. 4.
Auflage. München: Wilhelm Fink 1993 (=UTB 103)
Matheson, Carl; Kirchhoff, Evan: Chaos and Literatur. In:
Philosophy and Literature. 1997. Nr. 1. S. 28-45
Stadler, Friedrich: Studien zum Wiener Kreis. Ursprung,
Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext.
Frankfurt: Suhrkamp 1997
Zima, Peter V.: Literarische Ästhetik. Methoden und
Modelle der Literaturwissenschaft. Tübingen: Francke 1991
(=UTB1590)
Zima, Peter V.: Die Dekonstruktion. Einführung und
Kritik. Tübingen/Basel: Francke 1994 (=UTB 1805)
Zima, Peter V.: Moderne / Postmoderne. Tübingen/Basel:
Francke 1997 (=UTB 1967)
Weitere Arbeiten online von Christian Köllerer:
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