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Figurengedichte
Catharina Regina von Greiffenberg: 'Kreuzgedicht'.
André Thomkins: lunds wandlungen.


von Barbara Glökler



Inhaltsverzeichnis:

1. Figurendichtung und ihre Tradition
2. Catharina Regina von Greiffenbergs 'Kreuzgedicht'
3. Figurale Gedichte in der Konkreten Poesie
4. André Thomkins "lunds wandlungen"
5. Zum Problem der Parallelisierung zwischen Konkreter Poesie und Barocker Figurendichtung
6. Glossar
7. Sekundärliteratur



1. Figurendichtung und ihre Tradition

Das Figurengedicht 1 ist eine spezielle Form der visuellen Poesie, bei der die Anordnung der Buchstaben bzw. Worte im Gesamteindruck ein Bild ergibt. Im Laufe ihrer Geschichte brachte die europäische Figurendichtung unterschiedliche Ausprägungen hervor.

Antike
Die barocke Literaturform des Figurengedichtes geht zurück auf einige wenige überlieferte hellenistische Technopägnien (lat. "carmen figuratum", Umrißgedicht: durch unterschiedlich lange Verse oder textgraphische Anordnung gibt das Gedicht die Kontur eines Dingobjektes wieder). Erhalten sind drei Werke des Simias von Rhodos (300 v. Chr.) in Form eines Eies, eines Flügelpaares und einer Doppelaxt, zwei altarförmige Gedichte des Dosiadas von Kreta und ein Gedicht Theokrits, das eine Syrinx abbildet.

Spätantike und Mittelalter
Die christliche, lateinsprachliche Spätantike pflegte eine andere Form des Figurengedichts, das "carmen cancellatum" oder "Gittergedicht": Hier wird aus einem Text in rechteckiger Form durch Umrahmung oder farbige Absetzung ein sog. "Intext" hervorgehoben, der einen eigenen Sinn trägt und mit der Figur, die sich optisch ergibt, korrespondiert. Erwähnenswert sind hier die Schriften des Optatianus Porfyrius (4. Jh.) vom Hof Konstantin des Großen und die 28 komplexen lateinischen Gittergedichte aus dem "liber de laudibus sanctae crucis" des Fuldaer Mönchs und späteren Mainzer Erzbischofs Hrabanus Maurus (813) mit farbigen "imagines".

Humanismus und Barock
Als im 16. Jahrhundert antike Schriften gedruckt wurden und größere Verbreitung fanden, wurden auch die oben genannten Technopägnien rezipiert. Die antiken Gedichte wurden bald in die Volkssprache übertragen, modifiziert, und schnell etablierte sich ein neues Formenrepertoire, das z.B. Pokal, Baum, Busch, Laute, Glas, Füllhorn, Herz, Leuchter, Säule, Apfel, Pyramide oder das Kreuz abbildete. Ein Aspekt in diesem Kontext ist der "ut pictura poesis"-Gedanke, ein auf Vers 361 der "Ars Poetica" von Horaz basierender Satz, der sowohl vom Gedicht als "redender Malerei" fordert, wie ein Bild zu sein, wie auch umgekehrt von einem Gemälde, "stumme Poesie" zu sein2. Das Konzept des Zusammenwirkens der Künste im Rahmen eines "Gesamtkunstwerks" wurde im Barock beispielsweise in der Architektur oder im Musiktheater realisiert3. Das Figurengedicht mag eine kleinere Form dieses umfassenden Konzeptes sein, indem es Bild und Schriftaussage verknüpft.Eine so auffällige, ja augenfällige Darstellungsweise eines Textes wie das Umrißgedicht war für die drucktechnische Vervielfältigung interessant, das kompliziertere Gittergedicht geriet in Vergessenheit. Die größte Zahl der barocken Umrißgedichte war Casuallyrik, z.B. Verse in Herz- oder Pokalform zur Hochzeit, Kreuze anläßlich von Begräbnissen. Erstmals fand das Technopägnium Aufnahme in die Poetiken, es galt zu dieser Zeit als eigene Gattung. In Opitz' "Buch von der Deutschen Poeterey" (1624) freilich sucht man vergeblich nach Hinweisen auf die carmina figurata; erst in der Zweitauflage durch Hamann 1658 werden sie beschrieben. Dem steht jedoch eine Anzahl bedeutender Autoren wie Scaliger, Helwig, Schottelius, von Birken, von Zesen und Weise gegenüber, die in ihren Poetiken auf das Technopägnium (auch unter den Bezeichnungen "Bild-Gebände", "Bilder-Reim" , "Flügelgedicht", "Bilderverse" oder "Bildergedicht") eingehen. So uneinheitlich wie die Terminologie war dabei die systematische Einordnung der Figurenlyrik.

Das Figurengedicht im Umfeld des Pegnesischen Blumenordens
Unter den Mitgliedern der 1644 in Nürnberg nach dem Weimarer Vorbild der "Fruchtbringenden Gesellschaft" gegründeten Sprachgesellschaft des "Löblichen Hirten- und Blumen-Ordens an der Pegnitz" erfreute sich das Figurengedicht außerordentlicher Beliebtheit. Es ist eine Besonderheit der pegnesischen Literatur, Technopägnien "wie Intarsien"4 in die Schäferromane aufzunehmen. Helwigs "Die Nymphe Noris" (1650) mit 13 und Genders "Der Fried-Seligen Irenen Lust-garten" (1672) mit 14 carmina figurata können mit als umfangreichste Zyklen von Umrißgedichten gelten.



2. Catharina Regina von Greiffenbergs 'Kreuzgedicht'

Kurzbiographie
Catharina Regina von Greiffenberg wurde am 7. September 1633 als Tochter einer protestantischen Adelsfamilie in Niederösterreich geboren. Für ihr religiöses Lebensziel prägte sie den Begriff "Deoglori". Schon seit 1660 hatte sie Kontakt zum Nürnberger Dichterkreis, v.a. zu Birken. Nach dem Tod ihres Ehemanns ließ sich Catharina Regina von Greiffenberg 1680 endgültig in Nürnberg nieder, wo sie am 10. April 1694 starb. Ihre wichtigsten literarischen Werke sind die "Geistlichen Sonnette / Lieder und Gedichte / zu Gottseeligem Zeitvertreib" (1662), ein Heldenepos mit dem Titel "Sieges-Seule Buße und Glaubens / wider den Erbfeind Christlichen Namens" (1675) sowie vier Bücher mit Betrachtungen über Passion, Geburt und Leben, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu. Frühe Dichtungen, darunter Figurengedichte in Form der Reichsinsignien, sind verschollen.

Analyse und Interpretation des 'Kreuzgedichtes'

Fassung
Von diesem Gedicht liegen zwei Versionen vor: Zum einen die von Birken für den Druck in den "Geistlichen Sonnetten" bearbeitete und geglättete Fassung. Wie weitreichend dessen Eingriffe in den Urtext waren, kann man ermessen, wenn man die Druckfassung mit der erhaltenen Handschrift vergleicht. Das weder datierte noch adressierte Blatt stammt aus dem Nachlaß Birkens und ist editionsgeschichtlich eine Rarität, da in der frühen Neuzeit Handschriften gemeinhin nach der Drucklegung vernichtet wurden. Die autographe Fassung ist im Stil konsequenter als Birkens Überarbeitung, sie soll im weiteren als Grundlage der Analyse dienen.

Form
Die optische Form, die das Gedicht besitzt, ist die eines römischen Kreuzes. Damit entspricht sie der Aufforderung Birkens, die dieser in seiner "Teutschen Rede-bind- und Dicht-Kunst" (1679) über das Technopägnium formuliert: "Ein christlicher Poet kann ausbilden / das heilige Creuz / an welchem alle Welt / durch den Tod und Hölle ist erlöst worden." 5 Der obere Teil des Kreuzstammes verengt sich trapezförmig bis auf die endgültige Breite des Längsbalkens, am Fuß des Kreuzes befindet sich ein Sockel. Diese Figurierung ergibt sich durch die Anordnung der 26 paarweise gereimten Verse: Jede Zeile besteht aus einer syntaktischen Einheit, deren graphische Länge sich ins Gesamtbild einfügt. Der Kreuzesstamm wird aus vierhebigen, trochäischen Kurzversen, das Querholz hingegen aus achthebigen, trochäischen Langversen mit einer Zäsur nach der vierten Hebung gebildet.

Übereinstimmung von Form und Inhalt
Es überrascht, wie exakt der Textinhalt mit der Textgestalt übereinstimmt, denn neben dem druckgraphischen Bild wird dem Leser zusätzlich durch das verbale Verfahren der Ekphrasis 6 der Anblick des leidenden Christus am Kreuz möglichst plastisch vor Augen geführt: Jeder Vers, der den Gekreuzigten beschreibt, ist innerhalb der Kreuzform der traditionellen Bilddarstellung entsprechend positioniert: Der erste Vers "Seht der könig könig Hängen!" enspricht dem Kreuztitulus, der Tafel mit der Aufschrift "Jesus von Nazareth, der König der Juden" (Joh.19,19). Ab dem zweiten Vers steht die Gestalt Christi im Blickpunkt: die Verse nennen von oben nach unten die Dornenkrone und deren Wunden (V. 2f.), die Augen (V.5), die am Horizontalbalken (V. 7-10) ausgebreiteten Arme und das gesenkte Haupt, die geöffnete Seite (V.11) sowie den gegeißelten Körper (V.15). Die Verse 19 - 24 sind z.T. theologische, z.T. meditative Betrachtungen über den Kreuzestod Jesu. Die Wendung vom allgemeinen "uns" und "wir" zum "mir" eines lyrischen Ich (V. 24) legt nahe, daß diese Verse für den unter dem Kreuz betenden Gläubigen stehen7. In den zwei Schlußversen, die als "Sockel" auch optisch herausgehoben sind, wird prägnant ein abschließendes Resümee formuliert. Auffallend ist die Struktur innerhalb des Textes: auf jede Beschreibung des Gekreuzigten folgt eine heilsgeschichtliche Deutung des Betrachteten, entweder im jeweils nachfolgenden Vers (V. 1-6; V. 23-26) bzw. im Versteil nach der Zäsur (V. 7-10), oder aber je zwei Verse erfüllen die eine oder andere Funktion.

Wasser-Metaphorik
Die Verwendung des Verbs "besprängen" im Kontext mit dem Blut Christi erinnert an das segnende Besprängen der Gemeinde mit Weihwasser. Diese Verbindung zwischen dem lebensnotwendigen Blut und dem lebensnotwendigen Wasser wird in der Metapher des Brunnens (V. 3f.) für die Wunden der Dornenkrone umgesetzt. Vers 15-18 ("sieg und segen kwelen") greifen diese Metaphorik wieder auf.

Jesusminne und Brautmystik
Die am Kreuz ausgebreiteten Arme werden zur Umarmung umgedeutet, das Neigen des Hauptes (V. 9) im Tod wird zu einem Kuß. Vers elf und zwölf verfahren genauso mit der Seitenwunde, eine fast intime Haltung, in der Christus bildlich gesprochen sein Herz preisgibt. Diese Verse sind in der Tradition der Jesusminne und der Brautmystik zu lesen, die zurückgeht auf das Hohe Lied Salomons. Dabei wird im Bräutigam Jesus gesehen, die Braut steht für die Gemeinschaft der Gläubigen.

Die Bedeutung des 'Sehens'
Die zweimalige "Videte"-Formel (V. 1, V. 7) ist Hinweis darauf, wie wichtig der Autorin die Betrachtung des Gekreuzigten ist. Explizit wird auf das Herz hingewiesen, das durch die Seitenwunde sichtbar ist (V. 12). In Vers 13 und 14 erklärt sich die Bedeutung, die dem Sehen zukommt: "mitt den sinnen" zu schauen, Anteil zu nehmen und mitzuleiden soll zu einer tieferen religiösen Einsicht führen. Diese Idee der "compassio" Christi ist ein Grundgedanke aus der Erbauungsliteratur, in deren Tradition das Werk der Greiffenberg gelesen werden muß. In diesem Zusammenhang ist der optische Wert des Figurengedichtes zu ermessen.



3. Figurale Gedichte in der Konkreten Poesie

Der Begriff der Konkreten Poesie8 umfaßt die unterschiedlichsten Formen: die anfangs in der Schweiz vertretene "meditative" , d.h. sprachreflexive Dichtung, die eher "politische, sozial-anklägerische" Kunstbewegung Südamerikas und v. a. die von der Wiener Gruppe entwickelte "Dialektpoesie". Später, um 1960 treten dann figurale Poesie sowie Thomkins' Anagramme und Palindrome hinzu9. Die wichtigsten Wesensmerkmale der Konkreten Poesie sind ihre Reduktion auf wenige Worte; die von der traditionellen Dichtung abweichende Verwendung des Sprachmaterials, indem nämlich Sprache nicht auf anderes verweist, sondern das Medium als Ganzes selbst Gegenstand der Reflexion ist. So werden auch die ehemals "dienenden" Elemente der Poesie wie Typographie, formale Anordnung, Hintergrund etc. zu Sinnträgern. In der visuellen Poesie überwiegen die Graphismen sogar über den Textanteil.



4. André Thomkins' "lunds wandlungen"

Kurzbiographie
André Thomkins wurde am 11. August 1930 in Luzern geboren. Er studierte an der Kunstgewerbeschule und ist in erster Linie als bildender Künstler, seit 1954 v.a. in Deutschland tätig gewesen. Er bekommt Kontakt zu Künstlern der Konkreten Poesie. 1957 schafft Thomkins die ersten Palindrome, das sind wörter oder wortfolgen, die vorwärts und rückwärts gelesen werden können und den gleichen oder einen anderen sinn ergeben10. Von 1971-73 hat Thomkins die Professur an der Kunstakademie Düsseldorf inne, 1984 erhält er einen Lehrauftrag an der Akademie in München. Am 9. November 1985 stirbt er.

Analyse und Interpretation von "lunds wandlungen"
Der dreizeilige Titel ist durch die Kleinbuchstaben deutlich vom eigentlichen Text abgesetzt, der im übrigen aus Großbuchstaben, Syntaxzeichen und zwei graphischen Zeichen (Kreuzen) besteht. Man kann eine Zweiteilung des Gedichtes erkennen: Durch Absätze sind die ersten 15 Zeilen im weitesten Sinne 'strophisch' gegliedert: von Einzeiligkeit über Drei-, Vier-, Vier- und Dreizeiligkeit. Es folgt ein kleines Kreuzsymbol. Wieder ist die erste Zeile abgesetzt, die Buchstaben der nächsten zwei Zeilen sind zur normalen Leserichtung um neunzig Grad nach rechts gedreht. Eine Zeile verläuft horizontal, eine vertikal, und da sie sich in einem Buchstaben überschneiden, ergibt sich eine Kreuzform. Unter dieses optisch auffällige Textbild setzte Thomkins noch eine Strophe aus zwei Zeilen, die durch ein zweites Kreuzsymbol abgeschlossen wird. Dieser Teil des Gedichtes ist dem Erscheinungsbild nach am ehesten dem Umrißgedicht der Greiffenberg vergleichbar (siehe Punkt 6).

Das Anagramm
Die Zeilen sind jeweils Anagramme des Ausgangswortes "Wandlungen", also eine Umstellung der Buchstaben. Seit dem 1. Jahrhundert n.Chr. unterscheidet man vier rhetorische Änderungsoperationen11: Bei der Adjektion und der Detraktion bleibt die Reihenfolge der Einzelelemente (z.B. Buchstaben) gleich, während sich die Anzahl von Zeile zu Zeile um mindestens ein Element erhöht bzw. verringert. Bei der Permutation und der Substitution bleibt die Anzahl der Elemente konstant. Die Permutation verändert nur die Anordnung der Elemente, die Substitution behält die Reihenfolge bei, ersetzt aber mit jedem Schritt mindestens ein Element durch ein neues. Thomkins' "lunds wandlungen" ist folglich den Permutationsgedichten zuzurechnen.

Intendierte Assoziation
An sich enthält die Permutation eines Wortes noch keine Intention, sie ist reine Buchstabenspielerei. Thomkins setzt nun Verfahren ein, die den Leser dazu veranlassen, die angebotenen Zeichen in eine bestimmte Richtung zu deuten. "Die Menge der Buchstaben ist gegeben, und die freie Assoziation findet darin ihre klar abgesteckten Grenzen"12. V.a. der Titel des Gedichts lenkt die Erwartungen der Leser, indem er anscheinend den Inhalt des Gedichtes benennt. Mit dem Untertitel "(hold-up & kreuzigung)" bestimmt Thomkins die zwei Teile des Gedichts näher: Dem ersten Teil "hold-up", also das englische Wort für "bewaffneter Raubüberfall", zuzuodnen, dem zweiten Teil "Kreuzigung", das liegt durch die optische Gestaltung nahe. In diesen Kontext fügt sich auch die Formulierung "bis zum letzten atemzug", diese Zeile nennt darüber hinaus das formale Verfahren, das dem Gedicht zugrunde liegt.
Im Text verwendet Thomkins nicht alle möglichen Permutationen des Ausgangswortes "Wandlungen", er beschränkt sich auf Kombinationen, die Assoziationen hervorrufen. Eine Möglichkeit sind Buchstabenfolgen, die lexikalische Begriffe beinhalten, wie z.B. "landen", "gewann", "Land" etc. Ein Teil dieser Worte, z.B. "Gulden", "Geld", "Gun-Wandeln", "Ladung" oder "Wald" werden sehr wahrscheinlich dem Kontext des Raubüberfalls zugeordnet, andere wie "nageln", "lang" eher dem der Kreuzigung, so daß der Eindruck eines inhaltlichen Aufbaus entsteht. Eindeutig lassen sich diese Worte jedoch nicht ausmachen, da Thomkins nur z.T. Wortgrenzen durch Satzzeichen oder das Druckbild andeutet. Eine weitere Methode, das Verständnis des Lesers zu steuern, sind die syntaktischen Zeichen, da sie auf einen kohärenten Text zu verweisen scheinen. Thomkins verfolgt die Absicht, daß der Leser aus dem Kontext der Ausdrücke eine zusammenhängende Handlung zu konstruieren versucht und dabei Unbestimmtheitsstellen in Kauf nimmt bzw. zu füllen bemüht ist.

Steigerung
Das Anagramm endet mit zwei Zeilen, die insofern eine Steigerung bzw. Pointe enthalten, als diese nicht mehr in sinnvolle Worte trennbar sind, das Gedicht endet im Nonsense. Hier stößt der Interpret an ein Ende, ist beim "letzten atemzug" angelangt. Da sich eine Permutation aus 10 Buchstaben relativ beliebig fortsetzen ließe, mußte in der Pointe und dem Kreuzzeichen das Gedichtende motiviert sein.



5. Zum Problem der Parallelisierung zwischen Konkreter Poesie und barocker Figurendichtung13

Konkrete Lyrik und barocke Figurendichtung scheinen auf den ersten Blick viel gemeinsam zu haben, sie wenden dasselbe Verfahren der optischen Textgestaltung an. Die Intention, die sich dahinter verbirgt, könnte allerdings kaum unterschiedlicher sein:
Das Barockgedicht befaßt sich mit einem ernstzunehmenden Inhalt, im untersuchten Fall wurde es zum Gotteslob geschrieben. Das Konkrete Gedicht geht dagegen spielerisch mit dem Buchstabenmaterial um, Inhalt sind eher der Spielgedanke, die Austauschbarkeit der Einzelelemente und die Art der Sinnkonstituierung durch Autor und Rezipient. Dabei werden die Grenzen bis zum Nonsense ausgelotet. Unsinnspoesie ist im Barock undenkbar. Der Barockschriftsteller geht nämlich davon aus, daß alles in der Welt an sich schon Zeichen ist und Bedeutung hat. Die Intention seiner Dichtung besteht darin, einen Sinn zu enthüllen, den der Gegenstand des Gedichtes implizit schon besitzt. Umgekehrt ist auch die Verweisungsfunktion der Zeichen auf die Welt garantiert. Der Dichter der Konkreten Poesie ist sich der Differenz zwischen Signifikant und Signifikat bewußt, die Zeichen an sich haben einen ästhetischen Wert, sie dienen nicht mehr der Verweisung auf die Welt. Deshalb kann das Konkrete Gedicht auf seine äußere Form nicht verzichten, während hingegen Sprache und Inhalt des barocken Gedichts auch unabhängig von der äußeren Form "Sinn" machen. Die Figurendichtung knüpft an eine lange Tradition an, die in die Antike reicht und durch die "imitatio auctorum" als verbindliches Kunstprinzip vermittelt wurde. Mit dem Aufkommen der Autonomie des Künstlers in der Aufklärung und des "Genie"-Begriffs im Sturm und Drang verlor dieses Imitationsmodell sein normatives Gewicht. Das Konkrete Gedicht ist dementsprechend eher aus einer dekonstruktiven Haltung den traditionellen Literaturformen gegenüber entstanden. Da es sich ausschließlich auf seinen eigenen Kontext bezieht, kann man nicht von einer Verwandtschaft zwischen Konretem und barockem Figurengedicht sprechen.

Primärtexte
Glossar - Erläuterung rhetorischer Ausdrücke
Sekundärliteratur




Anmerkungen:

1 Die Terminologie in bezug auf die visuelle Poesie ist z.T. nicht eindeutig festgelegt und wird mit verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Ich übernehme für mein Referat die Definitionen, die das Glossar des Buches "Text und Figur" von Adler und Ernst nennt. "Figurengedicht" ist demnach ein Oberbegriff, der sowohl das Umrißgedicht wie das Gittergedicht umfaßt. Adler, Jeremy; Ernst, Ulrich: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim 1987 (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Nr. 56), S. 319-322.
Beispiele visueller Poesie in der Imaginären Bibliothek der Uni Hildesheim: http://www.uni-hildesheim.de/ami/pool/inha_419.htm

2 Vgl. dazu Willems, Gottfried: Anschaulichkeit. Zu Theorie und geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989, S. 210 ff.

3 Beispiel Kirchenbau: Malerei, Architektur, Bildhauerei und Stukkatur gehen ineinander über, optische Pracht wird im Gottesdienst musikalisch begleitet (Orgelbau, barocke Kirchenmusik), die Kulthandlungen des Priesters und seiner Helfer hat theatrale Züge, wie z.T. auch die Figurendarstellung an Altären etc. Beispiel Oper: Bühnenarchitektur, Bühnenbild, Gesang, Sprechtheater, Tanz und Kostüm wirken zusammen, vom gesellschaftlichen Ereignis der Festspiele ganz zu schweigen.

4 Verweyen, Theodor: Aus den Schatzkammern des Pegnesen-Archivs. Das Figurengedicht der Catharina Regina von Greiffenberg. In: Pegnesischer Blumenorden in Nürnberg. Festschrift zum 350jährigen Jubiläum, hrsg. v. Pegnesischer Blumenorden, Nürnberg 1994, S. 24.

5 Birken, Sigmund von: Zitiert nach: Adler, Jeremy; Ernst, Ulrich: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim 1987 (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Nr. 56), S. 75.

6 Ernst, Ulrich: Die neuzeitliche Rezeption des mittelalterlichen Figurengedichtes in Kreuzform. Präliminarien zur Geschichte eines textgraphischen Modells. In: Mittelalterrezeption. Ein Symposion, hrsg. v. Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 179.
Dieses Verfahren wandte Rudolf Karl Geller bei einem Kreuzgedicht an, das im Anhang zu Klajs Redeoratorium vom "Leidenden Christus" (1645) veröffentlicht wurde. Möglicherweise diente es der Greiffenberg als unmittelbares Vorbild. Dafür sprächen inhaltliche - durch die geöffnete Seite wird das liebende Herz Jesu sichtbar - wie auch textgraphische Übereinstimmungen (dem verbreiterten oberen Teil des Kreuzstammes entsprächen bei Geller die ersten vier dreihebigen Verse, während unterhalb des Querholzes der Stamm in zweihebigen Versen fortgesetzt wird).

7 Ulrich Ernst sieht darin eine Parallele zu einem Bildtext des Hrabanus Maurus, wo unter dem Kreuzesstamm der Verfasser des Textes in betender Haltung dargestellt ist.

8 Den Begriff verwendete Eugen Gomringer erstmals 1955 in Anlehnung an die konkrete Kunst.

9 Die Bezeichnungen "Anagramm" und "Palindrom" entstammen einer Rede Eugen Gomringers. Abgedruckt in: Gomringer, Eugen: Konkrete Poesie. Von der ersten Stunde bis zur weltweiten Entwicklung. In: buchstäblich Nürnberger wörtliche Tage. Dokumentation von Aktionen und Vorträgen anläßlich der Ausstellung "buchstäblich wörtlich - wörtlich buchstäblich" in der Kunsthalle Nürnberg 1989, hrsg. v. Michael Glasmeier u. Lucius Grisebach, Nürnberg 1990, S. 56 - 65.

10 Definition von André Thomkins, zitiert nach: konkrete poesie. deutschsprachige autoren. anthologie von eugen gomringer. stuttgart 21991 (= RUB Nr. 9350), S. 165.

11 Dieter Schwarz über Thomkins' Anagramme. Schwarz, Dieter: Permanenter Formweg. Die Anagramme von André Thomkins. In: labyrinthspiel. André Thomkins - Retrospektive, hrsg. v. Akademie der Künste Berlin, Berlin 1989 (= Akademie-Katalog 153), Bd. I, S. 196.

12 Informationen zu rhetorischen Änderungsoperationen: http://www.phil.uni-erlangen.de/~p2gerlw/ressourc/operat.html

13 Vgl. Verweyen, Theodor: Von konkreter Poesie und barocken Bildgedichten - Probleme einer historischen Parallelisierung. In: buchstäblich Nürnberger wörtliche Tage. Dokumentation von Aktionen und Vorträgen anläßlich der Ausstellung "buchstäblich wörtlich - wörtlich buchstäblich" in der Kunsthalle Nürnberg 1989, hrsg. v. Michael Glasmeier u. Lucius Grisebach, Nürnberg 1990, S. 46 - 55.