Das Figurengedicht 1 ist eine spezielle Form der visuellen Poesie, bei der die Anordnung der Buchstaben bzw. Worte im Gesamteindruck ein Bild ergibt. Im Laufe ihrer Geschichte brachte die europäische Figurendichtung unterschiedliche Ausprägungen hervor.
Antike
Die barocke Literaturform des Figurengedichtes geht zurück
auf einige wenige überlieferte hellenistische
Technopägnien (lat. "carmen figuratum",
Umrißgedicht: durch unterschiedlich lange Verse oder
textgraphische Anordnung gibt das Gedicht die Kontur eines
Dingobjektes wieder). Erhalten sind drei Werke des Simias von
Rhodos (300 v. Chr.) in Form eines Eies, eines Flügelpaares
und einer Doppelaxt, zwei altarförmige Gedichte des Dosiadas
von Kreta und ein Gedicht Theokrits, das eine Syrinx
abbildet.
Spätantike und Mittelalter
Die christliche, lateinsprachliche Spätantike pflegte eine
andere Form des Figurengedichts, das "carmen cancellatum" oder
"Gittergedicht": Hier wird aus einem Text in rechteckiger Form
durch Umrahmung oder farbige Absetzung ein sog. "Intext"
hervorgehoben, der einen eigenen Sinn trägt und mit der
Figur, die sich optisch ergibt, korrespondiert.
Erwähnenswert sind hier die Schriften des Optatianus
Porfyrius (4. Jh.) vom Hof Konstantin des Großen und die 28
komplexen lateinischen Gittergedichte aus dem "liber de laudibus
sanctae crucis" des Fuldaer Mönchs und späteren Mainzer
Erzbischofs Hrabanus Maurus (813) mit farbigen "imagines".
Humanismus und Barock
Als im 16. Jahrhundert antike Schriften gedruckt wurden und
größere Verbreitung fanden, wurden auch die oben
genannten Technopägnien rezipiert. Die antiken Gedichte
wurden bald in die Volkssprache übertragen, modifiziert, und
schnell etablierte sich ein neues Formenrepertoire, das z.B.
Pokal, Baum, Busch, Laute, Glas, Füllhorn, Herz, Leuchter,
Säule, Apfel, Pyramide oder das Kreuz abbildete. Ein Aspekt
in diesem Kontext ist der "ut pictura poesis"-Gedanke, ein auf
Vers 361 der "Ars Poetica" von Horaz basierender Satz, der sowohl
vom Gedicht als "redender Malerei" fordert, wie ein Bild zu sein,
wie auch umgekehrt von einem Gemälde, "stumme Poesie" zu
sein2. Das Konzept des Zusammenwirkens der
Künste im Rahmen eines "Gesamtkunstwerks" wurde im Barock
beispielsweise in der Architektur oder im Musiktheater
realisiert3. Das Figurengedicht mag eine kleinere
Form dieses umfassenden Konzeptes sein, indem es Bild und
Schriftaussage verknüpft.Eine so auffällige, ja
augenfällige Darstellungsweise eines Textes wie das
Umrißgedicht war für die drucktechnische
Vervielfältigung interessant, das kompliziertere
Gittergedicht geriet in Vergessenheit. Die größte Zahl
der barocken Umrißgedichte war Casuallyrik, z.B. Verse in
Herz- oder Pokalform zur Hochzeit, Kreuze anläßlich
von Begräbnissen. Erstmals fand das Technopägnium
Aufnahme in die Poetiken, es galt zu dieser Zeit als eigene
Gattung. In Opitz' "Buch von der Deutschen Poeterey" (1624)
freilich sucht man vergeblich nach Hinweisen auf die carmina
figurata; erst in der Zweitauflage durch Hamann 1658 werden sie
beschrieben. Dem steht jedoch eine Anzahl bedeutender Autoren wie
Scaliger, Helwig, Schottelius, von Birken, von Zesen und Weise
gegenüber, die in ihren Poetiken auf das Technopägnium
(auch unter den Bezeichnungen "Bild-Gebände", "Bilder-Reim"
, "Flügelgedicht", "Bilderverse" oder "Bildergedicht")
eingehen. So uneinheitlich wie die Terminologie war dabei die
systematische Einordnung der Figurenlyrik.
Das Figurengedicht im Umfeld des Pegnesischen
Blumenordens
Unter den Mitgliedern der 1644 in Nürnberg nach dem Weimarer
Vorbild der "Fruchtbringenden Gesellschaft" gegründeten
Sprachgesellschaft des "Löblichen Hirten- und Blumen-Ordens
an der Pegnitz" erfreute sich das Figurengedicht
außerordentlicher Beliebtheit. Es ist eine Besonderheit der
pegnesischen Literatur, Technopägnien "wie Intarsien"4 in die Schäferromane
aufzunehmen. Helwigs "Die Nymphe Noris" (1650) mit 13 und Genders
"Der Fried-Seligen Irenen Lust-garten" (1672) mit 14 carmina
figurata können mit als umfangreichste Zyklen von
Umrißgedichten gelten.
Kurzbiographie
Catharina Regina von Greiffenberg wurde am 7. September 1633 als
Tochter einer protestantischen Adelsfamilie in
Niederösterreich geboren. Für ihr religiöses
Lebensziel prägte sie den Begriff "Deoglori". Schon seit
1660 hatte sie Kontakt zum Nürnberger Dichterkreis, v.a. zu
Birken. Nach dem Tod ihres Ehemanns ließ sich Catharina
Regina von Greiffenberg 1680 endgültig in Nürnberg
nieder, wo sie am 10. April 1694 starb. Ihre wichtigsten
literarischen Werke sind die "Geistlichen Sonnette / Lieder und
Gedichte / zu Gottseeligem Zeitvertreib" (1662), ein Heldenepos
mit dem Titel "Sieges-Seule Buße und Glaubens / wider den
Erbfeind Christlichen Namens" (1675) sowie vier Bücher mit
Betrachtungen über Passion, Geburt und Leben, Auferstehung
und Himmelfahrt Jesu. Frühe Dichtungen, darunter
Figurengedichte in Form der Reichsinsignien, sind
verschollen.
Fassung
Von diesem Gedicht liegen zwei Versionen vor: Zum einen die von
Birken für den Druck in den "Geistlichen Sonnetten"
bearbeitete und geglättete Fassung. Wie weitreichend dessen
Eingriffe in den Urtext waren, kann man ermessen, wenn man die
Druckfassung mit der erhaltenen Handschrift vergleicht. Das weder
datierte noch adressierte Blatt stammt aus dem Nachlaß
Birkens und ist editionsgeschichtlich eine Rarität, da in
der frühen Neuzeit Handschriften gemeinhin nach der
Drucklegung vernichtet wurden. Die autographe Fassung ist im Stil
konsequenter als Birkens Überarbeitung, sie soll im weiteren
als Grundlage der Analyse dienen.
Form
Die optische Form, die das Gedicht besitzt, ist die eines
römischen Kreuzes. Damit entspricht sie der Aufforderung
Birkens, die dieser in seiner "Teutschen Rede-bind- und
Dicht-Kunst" (1679) über das Technopägnium formuliert:
"Ein christlicher Poet kann ausbilden / das heilige Creuz / an
welchem alle Welt / durch den Tod und Hölle ist erlöst
worden." 5 Der obere Teil des Kreuzstammes
verengt sich trapezförmig bis auf die endgültige Breite
des Längsbalkens, am Fuß des Kreuzes befindet sich ein
Sockel. Diese Figurierung ergibt sich durch die Anordnung der 26
paarweise gereimten Verse: Jede Zeile besteht aus einer
syntaktischen Einheit, deren graphische Länge sich ins
Gesamtbild einfügt. Der Kreuzesstamm wird aus vierhebigen,
trochäischen Kurzversen, das Querholz
hingegen aus achthebigen, trochäischen Langversen mit einer
Zäsur nach der vierten Hebung gebildet.
Übereinstimmung von Form und Inhalt
Es überrascht, wie exakt der Textinhalt mit der Textgestalt
übereinstimmt, denn neben dem druckgraphischen Bild wird dem
Leser zusätzlich durch das verbale Verfahren der
Ekphrasis 6 der Anblick des leidenden
Christus am Kreuz möglichst plastisch vor Augen
geführt: Jeder Vers, der den Gekreuzigten beschreibt, ist
innerhalb der Kreuzform der traditionellen Bilddarstellung
entsprechend positioniert: Der erste Vers "Seht der könig
könig Hängen!" enspricht dem Kreuztitulus, der Tafel
mit der Aufschrift "Jesus von Nazareth, der König der Juden"
(Joh.19,19). Ab dem zweiten Vers steht die Gestalt Christi im
Blickpunkt: die Verse nennen von oben nach unten die Dornenkrone
und deren Wunden (V. 2f.), die Augen (V.5), die am
Horizontalbalken (V. 7-10) ausgebreiteten Arme und das gesenkte
Haupt, die geöffnete Seite (V.11) sowie den
gegeißelten Körper (V.15). Die Verse 19 - 24 sind z.T.
theologische, z.T. meditative Betrachtungen über den
Kreuzestod Jesu. Die Wendung vom allgemeinen "uns" und "wir" zum
"mir" eines lyrischen Ich (V. 24) legt nahe, daß diese
Verse für den unter dem Kreuz betenden Gläubigen
stehen7. In den zwei Schlußversen, die
als "Sockel" auch optisch herausgehoben sind, wird prägnant
ein abschließendes Resümee formuliert. Auffallend ist
die Struktur innerhalb des Textes: auf jede Beschreibung des
Gekreuzigten folgt eine heilsgeschichtliche Deutung des
Betrachteten, entweder im jeweils nachfolgenden Vers (V. 1-6; V.
23-26) bzw. im Versteil nach der Zäsur (V. 7-10), oder aber
je zwei Verse erfüllen die eine oder andere Funktion.
Wasser-Metaphorik
Die Verwendung des Verbs "besprängen" im Kontext mit dem
Blut Christi erinnert an das segnende Besprängen der
Gemeinde mit Weihwasser. Diese Verbindung zwischen dem
lebensnotwendigen Blut und dem lebensnotwendigen Wasser wird in
der Metapher des Brunnens (V. 3f.) für die Wunden der
Dornenkrone umgesetzt. Vers 15-18 ("sieg und segen kwelen")
greifen diese Metaphorik wieder auf.
Jesusminne und Brautmystik
Die am Kreuz ausgebreiteten Arme werden zur Umarmung umgedeutet,
das Neigen des Hauptes (V. 9) im Tod wird zu einem Kuß.
Vers elf und zwölf verfahren genauso mit der Seitenwunde,
eine fast intime Haltung, in der Christus bildlich gesprochen
sein Herz preisgibt. Diese Verse sind in der Tradition der
Jesusminne und der Brautmystik zu lesen, die zurückgeht auf
das Hohe Lied Salomons. Dabei wird im Bräutigam Jesus
gesehen, die Braut steht für die Gemeinschaft der
Gläubigen.
Die Bedeutung des 'Sehens'
Die zweimalige "Videte"-Formel (V. 1, V. 7) ist Hinweis darauf,
wie wichtig der Autorin die Betrachtung des Gekreuzigten ist.
Explizit wird auf das Herz hingewiesen, das durch die Seitenwunde
sichtbar ist (V. 12). In Vers 13 und 14 erklärt sich die
Bedeutung, die dem Sehen zukommt: "mitt den sinnen" zu schauen,
Anteil zu nehmen und mitzuleiden soll zu einer tieferen
religiösen Einsicht führen. Diese Idee der "compassio"
Christi ist ein Grundgedanke aus der Erbauungsliteratur, in deren
Tradition das Werk der Greiffenberg gelesen werden muß. In
diesem Zusammenhang ist der optische Wert des Figurengedichtes zu
ermessen.
Der Begriff der Konkreten Poesie8 umfaßt die unterschiedlichsten Formen: die anfangs in der Schweiz vertretene "meditative" , d.h. sprachreflexive Dichtung, die eher "politische, sozial-anklägerische" Kunstbewegung Südamerikas und v. a. die von der Wiener Gruppe entwickelte "Dialektpoesie". Später, um 1960 treten dann figurale Poesie sowie Thomkins' Anagramme und Palindrome hinzu9. Die wichtigsten Wesensmerkmale der Konkreten Poesie sind ihre Reduktion auf wenige Worte; die von der traditionellen Dichtung abweichende Verwendung des Sprachmaterials, indem nämlich Sprache nicht auf anderes verweist, sondern das Medium als Ganzes selbst Gegenstand der Reflexion ist. So werden auch die ehemals "dienenden" Elemente der Poesie wie Typographie, formale Anordnung, Hintergrund etc. zu Sinnträgern. In der visuellen Poesie überwiegen die Graphismen sogar über den Textanteil.
Kurzbiographie
André Thomkins wurde am 11. August 1930 in Luzern geboren.
Er studierte an der Kunstgewerbeschule und ist in erster Linie
als bildender Künstler, seit 1954 v.a. in Deutschland
tätig gewesen. Er bekommt Kontakt zu Künstlern der
Konkreten Poesie. 1957 schafft Thomkins die ersten Palindrome,
das sind wörter oder wortfolgen, die vorwärts und
rückwärts gelesen werden können und den gleichen
oder einen anderen sinn ergeben10. Von 1971-73 hat
Thomkins die Professur an der Kunstakademie Düsseldorf inne,
1984 erhält er einen Lehrauftrag an der Akademie in
München. Am 9. November 1985 stirbt er.
Analyse und Interpretation von "lunds wandlungen"
Der dreizeilige Titel ist durch die Kleinbuchstaben deutlich vom
eigentlichen Text abgesetzt, der im übrigen aus
Großbuchstaben, Syntaxzeichen und zwei graphischen Zeichen
(Kreuzen) besteht. Man kann eine Zweiteilung des Gedichtes
erkennen: Durch Absätze sind die ersten 15 Zeilen im
weitesten Sinne 'strophisch' gegliedert: von Einzeiligkeit
über Drei-, Vier-, Vier- und Dreizeiligkeit. Es folgt ein
kleines Kreuzsymbol. Wieder ist die erste Zeile abgesetzt, die
Buchstaben der nächsten zwei Zeilen sind zur normalen
Leserichtung um neunzig Grad nach rechts gedreht. Eine Zeile
verläuft horizontal, eine vertikal, und da sie sich in einem
Buchstaben überschneiden, ergibt sich eine Kreuzform. Unter
dieses optisch auffällige Textbild setzte Thomkins noch eine
Strophe aus zwei Zeilen, die durch ein zweites Kreuzsymbol
abgeschlossen wird. Dieser Teil des Gedichtes ist dem
Erscheinungsbild nach am ehesten dem Umrißgedicht der
Greiffenberg vergleichbar (siehe Punkt 6).
Das Anagramm
Die Zeilen sind jeweils Anagramme des Ausgangswortes
"Wandlungen", also eine Umstellung der Buchstaben. Seit dem 1.
Jahrhundert n.Chr. unterscheidet man vier rhetorische
Änderungsoperationen11: Bei der Adjektion und der
Detraktion bleibt die Reihenfolge der Einzelelemente (z.B.
Buchstaben) gleich, während sich die Anzahl von Zeile zu
Zeile um mindestens ein Element erhöht bzw. verringert. Bei
der Permutation und der Substitution bleibt die Anzahl der
Elemente konstant. Die Permutation verändert nur die
Anordnung der Elemente, die Substitution behält die
Reihenfolge bei, ersetzt aber mit jedem Schritt mindestens ein
Element durch ein neues. Thomkins' "lunds wandlungen" ist
folglich den Permutationsgedichten zuzurechnen.
Intendierte Assoziation
An sich enthält die Permutation eines Wortes noch keine
Intention, sie ist reine Buchstabenspielerei. Thomkins setzt nun
Verfahren ein, die den Leser dazu veranlassen, die angebotenen
Zeichen in eine bestimmte Richtung zu deuten. "Die Menge der
Buchstaben ist gegeben, und die freie Assoziation findet darin
ihre klar abgesteckten Grenzen"12. V.a. der Titel
des Gedichts lenkt die Erwartungen der Leser, indem er
anscheinend den Inhalt des Gedichtes benennt. Mit dem Untertitel
"(hold-up & kreuzigung)" bestimmt Thomkins die zwei Teile des
Gedichts näher: Dem ersten Teil "hold-up", also das
englische Wort für "bewaffneter Raubüberfall",
zuzuodnen, dem zweiten Teil "Kreuzigung", das liegt durch die
optische Gestaltung nahe. In diesen Kontext fügt sich auch
die Formulierung "bis zum letzten atemzug", diese Zeile nennt
darüber hinaus das formale Verfahren, das dem Gedicht
zugrunde liegt.
Im Text verwendet Thomkins nicht alle möglichen
Permutationen des Ausgangswortes "Wandlungen", er beschränkt
sich auf Kombinationen, die Assoziationen hervorrufen. Eine
Möglichkeit sind Buchstabenfolgen, die lexikalische
Begriffe beinhalten, wie z.B. "landen", "gewann", "Land" etc.
Ein Teil dieser Worte, z.B. "Gulden", "Geld", "Gun-Wandeln",
"Ladung" oder "Wald" werden sehr wahrscheinlich dem Kontext des
Raubüberfalls zugeordnet, andere wie "nageln", "lang" eher
dem der Kreuzigung, so daß der Eindruck eines inhaltlichen
Aufbaus entsteht. Eindeutig lassen sich diese Worte jedoch nicht
ausmachen, da Thomkins nur z.T. Wortgrenzen durch Satzzeichen
oder das Druckbild andeutet. Eine weitere Methode, das
Verständnis des Lesers zu steuern, sind die syntaktischen
Zeichen, da sie auf einen kohärenten Text zu verweisen
scheinen. Thomkins verfolgt die Absicht, daß der Leser aus
dem Kontext der Ausdrücke eine zusammenhängende
Handlung zu konstruieren versucht und dabei
Unbestimmtheitsstellen in Kauf nimmt bzw. zu füllen
bemüht ist.
Steigerung
Das Anagramm endet mit zwei Zeilen, die insofern eine Steigerung
bzw. Pointe enthalten, als diese nicht mehr in sinnvolle Worte
trennbar sind, das Gedicht endet im Nonsense. Hier
stößt der Interpret an ein Ende, ist beim "letzten
atemzug" angelangt. Da sich eine Permutation aus 10 Buchstaben
relativ beliebig fortsetzen ließe, mußte in der
Pointe und dem Kreuzzeichen das Gedichtende motiviert sein.
Konkrete Lyrik und barocke Figurendichtung scheinen auf den
ersten Blick viel gemeinsam zu haben, sie wenden dasselbe
Verfahren der optischen Textgestaltung an. Die Intention, die
sich dahinter verbirgt, könnte allerdings kaum
unterschiedlicher sein:
Das Barockgedicht befaßt sich mit einem ernstzunehmenden
Inhalt, im untersuchten Fall wurde es zum Gotteslob geschrieben.
Das Konkrete Gedicht geht dagegen spielerisch mit dem
Buchstabenmaterial um, Inhalt sind eher der Spielgedanke, die
Austauschbarkeit der Einzelelemente und die Art der
Sinnkonstituierung durch Autor und Rezipient. Dabei werden die
Grenzen bis zum Nonsense ausgelotet. Unsinnspoesie ist im Barock
undenkbar. Der Barockschriftsteller geht nämlich davon aus,
daß alles in der Welt an sich schon Zeichen ist und
Bedeutung hat. Die Intention seiner Dichtung besteht darin, einen
Sinn zu enthüllen, den der Gegenstand des Gedichtes implizit
schon besitzt. Umgekehrt ist auch die Verweisungsfunktion der
Zeichen auf die Welt garantiert. Der Dichter der Konkreten Poesie
ist sich der Differenz zwischen Signifikant und Signifikat
bewußt, die Zeichen an sich haben einen ästhetischen
Wert, sie dienen nicht mehr der Verweisung auf die Welt. Deshalb
kann das Konkrete Gedicht auf seine äußere Form nicht
verzichten, während hingegen Sprache und Inhalt des barocken
Gedichts auch unabhängig von der äußeren Form
"Sinn" machen. Die Figurendichtung knüpft an eine lange
Tradition an, die in die Antike reicht und durch die "imitatio
auctorum" als verbindliches Kunstprinzip vermittelt wurde. Mit
dem Aufkommen der Autonomie des Künstlers in der
Aufklärung und des "Genie"-Begriffs im Sturm und Drang
verlor dieses Imitationsmodell sein normatives Gewicht. Das
Konkrete Gedicht ist dementsprechend eher aus einer
dekonstruktiven Haltung den traditionellen Literaturformen
gegenüber entstanden. Da es sich ausschließlich auf
seinen eigenen Kontext bezieht, kann man nicht von einer
Verwandtschaft zwischen Konretem und barockem Figurengedicht
sprechen.
Primärtexte
Glossar - Erläuterung
rhetorischer Ausdrücke
Sekundärliteratur
1 Die Terminologie in bezug auf die visuelle
Poesie ist z.T. nicht eindeutig festgelegt und wird mit
verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Ich übernehme für
mein Referat die Definitionen, die das Glossar des Buches "Text
und Figur" von Adler und Ernst nennt. "Figurengedicht" ist
demnach ein Oberbegriff, der sowohl das Umrißgedicht wie
das Gittergedicht umfaßt. Adler, Jeremy; Ernst, Ulrich:
Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne.
Weinheim 1987 (= Ausstellungskataloge der Herzog August
Bibliothek Nr. 56), S. 319-322.
Beispiele visueller Poesie in der Imaginären Bibliothek der
Uni Hildesheim: http://www.uni-hildesheim.de/ami/pool/inha_419.htm
2 Vgl. dazu Willems, Gottfried: Anschaulichkeit. Zu Theorie und geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989, S. 210 ff.
3 Beispiel Kirchenbau: Malerei, Architektur, Bildhauerei und Stukkatur gehen ineinander über, optische Pracht wird im Gottesdienst musikalisch begleitet (Orgelbau, barocke Kirchenmusik), die Kulthandlungen des Priesters und seiner Helfer hat theatrale Züge, wie z.T. auch die Figurendarstellung an Altären etc. Beispiel Oper: Bühnenarchitektur, Bühnenbild, Gesang, Sprechtheater, Tanz und Kostüm wirken zusammen, vom gesellschaftlichen Ereignis der Festspiele ganz zu schweigen.
4 Verweyen, Theodor: Aus den Schatzkammern des Pegnesen-Archivs. Das Figurengedicht der Catharina Regina von Greiffenberg. In: Pegnesischer Blumenorden in Nürnberg. Festschrift zum 350jährigen Jubiläum, hrsg. v. Pegnesischer Blumenorden, Nürnberg 1994, S. 24.
5 Birken, Sigmund von: Zitiert nach: Adler, Jeremy; Ernst, Ulrich: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim 1987 (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Nr. 56), S. 75.
6 Ernst,
Ulrich: Die neuzeitliche Rezeption des mittelalterlichen
Figurengedichtes in Kreuzform. Präliminarien zur Geschichte
eines textgraphischen Modells. In: Mittelalterrezeption. Ein
Symposion, hrsg. v. Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 179.
Dieses Verfahren wandte Rudolf Karl Geller bei einem Kreuzgedicht
an, das im Anhang zu Klajs Redeoratorium vom "Leidenden Christus"
(1645) veröffentlicht wurde. Möglicherweise diente es
der Greiffenberg als unmittelbares Vorbild. Dafür
sprächen inhaltliche - durch die geöffnete Seite wird
das liebende Herz Jesu sichtbar - wie auch textgraphische
Übereinstimmungen (dem verbreiterten oberen Teil des
Kreuzstammes entsprächen bei Geller die ersten vier
dreihebigen Verse, während unterhalb des Querholzes der
Stamm in zweihebigen Versen fortgesetzt wird).
7 Ulrich Ernst sieht darin eine Parallele zu einem Bildtext des Hrabanus Maurus, wo unter dem Kreuzesstamm der Verfasser des Textes in betender Haltung dargestellt ist.
8 Den Begriff verwendete Eugen Gomringer erstmals 1955 in Anlehnung an die konkrete Kunst.
9 Die Bezeichnungen "Anagramm" und "Palindrom" entstammen einer Rede Eugen Gomringers. Abgedruckt in: Gomringer, Eugen: Konkrete Poesie. Von der ersten Stunde bis zur weltweiten Entwicklung. In: buchstäblich Nürnberger wörtliche Tage. Dokumentation von Aktionen und Vorträgen anläßlich der Ausstellung "buchstäblich wörtlich - wörtlich buchstäblich" in der Kunsthalle Nürnberg 1989, hrsg. v. Michael Glasmeier u. Lucius Grisebach, Nürnberg 1990, S. 56 - 65.
10 Definition von André Thomkins, zitiert nach: konkrete poesie. deutschsprachige autoren. anthologie von eugen gomringer. stuttgart 21991 (= RUB Nr. 9350), S. 165.
11 Dieter Schwarz über Thomkins' Anagramme. Schwarz, Dieter: Permanenter Formweg. Die Anagramme von André Thomkins. In: labyrinthspiel. André Thomkins - Retrospektive, hrsg. v. Akademie der Künste Berlin, Berlin 1989 (= Akademie-Katalog 153), Bd. I, S. 196.
12 Informationen zu rhetorischen Änderungsoperationen: http://www.phil.uni-erlangen.de/~p2gerlw/ressourc/operat.html
13 Vgl. Verweyen, Theodor: Von konkreter Poesie und barocken Bildgedichten - Probleme einer historischen Parallelisierung. In: buchstäblich Nürnberger wörtliche Tage. Dokumentation von Aktionen und Vorträgen anläßlich der Ausstellung "buchstäblich wörtlich - wörtlich buchstäblich" in der Kunsthalle Nürnberg 1989, hrsg. v. Michael Glasmeier u. Lucius Grisebach, Nürnberg 1990, S. 46 - 55.