glogo0.jpg (2K)




Johnson
U. Johnson von Andreas Lemberg



Last and Final.
Über das Ende der Jahrestage

von Holger Helbig


Zum zweiten Teil Zum zweiten Teil

What might have been and what has been
Point to one end, which is always present.

T.S. Eliot, Four Quartets

In einem Brief zum 70. Geburtstag von Otto Hamkens, einem Buchhändler von der Sorte, die vom Aussterben bedroht ist, fällt Uwe Johnson etwas auf. "Es fällt mir jetzt auf, dass ein Anfang meiner 'Jahrestage' sich ereignet gegenüber dem Priwall",1 schreibt er dem in Lübeck wohnenden Jubilar. Nun ist bekannt, daß die Jahrestage nicht nur einen Anfang haben. Am Priwall beginnt im August 1931, was nach einer Liebesgeschichte aussieht. Da war die zweitjüngste von den Töchtern Papenbrocks fünfundzwanzig Jahre alt. "Sie allein hatte gemerkt, daß der Mann, der sie ebenmäßig ohne ein Nicken beobachtete, ihnen nachgegangen war von der Priwallfähre bis an den nächsten freien Gartentisch."2 Noch am selben Abend "fuhr Cresspahl mit einem gemieteten Auto zurück nach Mecklenburg, über den Priwall, entlang der Pötenitzer Wiek, entlang der Küste nach Jerichow" (JT, 18). Dies findet sich unter dem Datum des 23. August 1967, im dritten datierten Eintrag. Erst hier beginnt formal die vermeintliche Erzählung Gesines, das ist am Erzählton deutlich zu hören.3

Aber der Roman beginnt früher. Er beginnt mit etwas, das Ulrich Fries "a chapter without a date" genannt hat, ein undatiertes Kapitel, in dem wichtige Motive und Themen präludiert werden.4 Erst danach beginnt die Datierung. Der Roman hat also, strenggenommen, zwei Anfänge. Zumindest zwei, folgt man Johnson. Kommt ein solches Buch mit einem Ende aus?

Die Datierung des letzten Tages ist dazu angetan, Verdacht zu erregen: "20. August, 1968 Last and Final" (JT, 1888). Zwei Enden an einem Tag? Die Übersetzung für den Kommentar wird wohl "Zuletzt und endgültig" lauten. Zur Begründung dieser Übertragung ist anzuführen, daß es für das deutsche "schließlich und endlich" eine englische Redewendung gibt, at long last, was ja nicht ausschließt, daß auch "last and final" eine idiomatische Wendung ist. Man könnte sich auf das Wort "letztendlich" einigen, aber die Anstrengung, die beiden Bedeutungskomponenten in einem Wort zu erkennen, kommt etwa der gleich, aus dem Wort "Jahrestage" oder gar "Anniversaries" herauszulesen, es handle sich um alle Tage eines Jahres. Das Wörterbuch führt "last" auch als Synonym zu "final" in der Bedeutung von: "leaving nothing more to be said or done".5 Eben dieses Moment von Endgültigkeit hebt den letzten Tag aus der Reihe der ihm vorangehenden 365 Tage heraus. Wäre er wie diese auch, und fiele das Ende gerade auf ihn, nur weil das Erzählen vor einem Jahr begonnen wurde: er wäre halt der letzte Tag: the last one. Das ist er auch. Auch: durch Zwang des Kalenders, als Konsequenz der Struktur. An dem "last" wird deutlich, daß die Entscheidung für eine bestimmte Form notwendig inhaltliche Konsequenzen hat. Hat ein Roman einen Anfang, dann hat er auch ein Ende. Oder bräuchte ausgerechnet dieser Roman eigentlich gar keinen Schluß, wie Christoph Brecht wohlberechnet provokativ vermutet? "Das Erzählen ist am Ende, wenn das Jahr vorüber ist":6 wenn das so einfach wäre. Schon der Umstand, daß es sich um ausgerechnet ein Jahr handelt, ist nur konzeptionell zu erklären, durch eine wie auch immer geartete theoretische Überlegung, und nicht aus der Handlung heraus. Wiewohl Johnson auch hier vorgesorgt hat, indem Gesine dem Genossen Schriftsteller nur genau ein Jahr zur Beschreibung zur Verfügung gestellt hat,7 scheitert sein Bemühen an dem, was man die entschieden romanhafte Konstruktion, den "hochliterarischen Zufall"8 nennen könnte. Wo der Zufall sowjetische Truppen am 20. August 1968 in Prag einmarschieren läßt und so einem Roman zu Hilfe kommt, auf dessen ersten Seiten bereits von einem Toten in Prag die Rede ist, in Prag, dem keinesfalls zufälligen Reiseziel der beiden Hauptfiguren, wird jede Interpretation beliebig. Der Roman, das ist vorerst nicht mehr als eine These, die die Wahrscheinlichkeit auf ihrer Seite hat, ist von seinem Ende her gedacht. Einzig von dort aus läßt sich erklären, weshalb der erste datierte Tag auf den 21. August 1967 fällt. Etwas anderes zu behaupten (und tatsächlich steht zumindest eine solche Andeutung auf der allerletzten Seite der Jahrestage), hieße, die historische Dimension des Romans in Zweifel zu ziehen.

Johnson hat versucht, das eine zu tun und das andere zu lassen. Dem Roman sind zwei Daten nachgestellt, die den Arbeitszeitraum bezeichnen: "29. Januar 1968, New York, N.Y. - 17. April 1983, Sheerness, Kent" (JT, 1892). Dasselbe Datum für den Schreibbeginn gibt er in den Begleitumständen an, räumt ein, sich schon früher Notizen gemacht zu haben, und demonstriert Ahnungslosigkeit: "So wurde der 20. August 1967 der Tag für das erste Kapitel, ohne Ahnung von dem, der ihm gegenüberstehen sollte binnen Jahresfrist."9 Auch das berühmte Treffen mit Mrs. Cresspahl "auf der Südseite der 42. Strasse" (BU, 406) läßt sich genau datieren: es war der 18. April 1967. Dieser Tag liegt ebenfalls vor dem Beginn des Schreibens, fällt nicht mit ihm zusammen, als mythisches Ereignis etwa. Gewonnen ist mit dieser Feststellung freilich nichts, denn ohnehin ist das nachgestellte Datum kaum fiktionsrelevant. Es ist eben nur, daß der 29. Januar 1968 einer der Tage der Jahrestage ist - vom Beginn des Schreibens ist ihm nichts anzumerken. Für die Deutung allerdings äußert sich darin, was man das Beharren auf der Fiktion nennen könnte, und das verdient bei einem derart geschichtsträchtigen Roman denn doch Beachtung.10

Es sei zumindest erwähnt, wie Johnson versucht, das andere zu lassen; mehr noch, wie er ausdrücklich auf jene historische Dimension verweist, ebenfalls in den Begleitumständen: "Der 20. August 1968, der Einmarsch sowjetischer Truppen in die Sozialistische Tschechoslowakei ab 23 Uhr, das Verstummen von Radio Prag gegen 1:30 Uhr am folgenden Morgen, es war die endgültige Auskunft und Bestätigung für die Richtung, in die die geplante Erzählung zu einem Ende gedrückt worden war" (BU, 426).

Worin also besteht das Ende, das Finale? Was an diesem Tag kann Gültigkeit beanspruchen, was kann einstehen für alle gewesenen Tage - und für die kommenden? Die letzte Frage ließe sich auch anders, nämlich hintersinnig, stellen: Wie, auf welche Art und Weise, wird auf dieses doppelte Ende hin erzählt?

Die letzten vier Zeilen der Jahrestage gehören zu den meistzitierten des Romans. "Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war." (JT, 1891) So hört das Ende auf, aber wo fängt es an?

Von den Seltsamkeiten des letzten Tages ist dies wohl die auffälligste: Gesine übergibt Kliefoth - nennen wir es für den Moment viel Papier: "Wie es uns ergeht, haben wir aufgeschrieben bis zu unserer Arbeit in Prag, 1875 Seiten; mit Ihrer Erlaubnis werden wir es Ihnen überreichen. Nachzutragen sind an die zwei Stunden Flug in den Süden." (JT, 1891)

Die Frage, warum der Satz im Präsens steht, und es nicht heißt: wie es uns ergangen ist, wird vorerst zurückgestellt. Denn wie es den beiden, Marie und Gesine, ergangen ist, das ist in den Jahrestagen nachzulesen, mehr noch, auch wie es Cresspahl und Jakob erging, von denen eben noch die Rede war zwischen Kliefoth und Gesine, steht in diesem Roman. Was übergeben wird, ist das Manuskript. Trägt man die zwei Stunden nach, dann sind Gesine und Marie in Prag, dann wären sie angekommen. Diese metafiktionale Inszenierung ist der Abschluß des Versteckspiels mit dem Erzähler, aber nicht nur das. Die Seitenzahl enthält einen Hinweis, sie markiert den Anfang vom Ende. Ehe diese These belegt werden soll, noch eine Anmerkung: Die Büchergilde Gutenberg hat 1992 eine Lizenzausgabe der Jahrestage verlegt, und bei der Gelegenheit den Text auf 788 Seiten und diese in zwei Bänden untergebracht. Trotzdem ist auf Seite 787 derselbe Satz zu lesen, der von den 1875 Seiten.11 Man erfährt an dieser Stelle - im besten Falle - etwas über den Umfang eines imaginären Manuskripts. Eigentlich erfährt man etwas über die Lizenzausgaben der Büchergilde Gutenberg.

Im Manuskript der Jahrestage, wie es im Johnson-Archiv einzusehen ist, fehlt diese Zahl. Das belegt, daß der Autor noch etwas vorhatte mit ihr, die Möglichkeit eines imaginären Manuskripts kann ausgeschlossen werden. Selbst die Fassung, die der Suhrkamp Verlag im Herbst 1984 an die Rezensenten verschickte, enthält noch keine Zahl, sondern drei dicke schwarze Punkte.

In der korrigierten Fahne, die Johnson an den Verlag gesandt hat, steht neben der freigelassenen Stelle die Bemerkung "Nummer der Seite, auf der die Punkte erscheinen".12 Was bedeutet, daß er ursprünglich, die Seitenzahl 1891, also die letzte der Druckfassung, einsetzen lassen wollte. Hier wird das Spiel mit der Fiktion ganz deutlich; daß es bei dieser Zahl nicht geblieben ist, belegt, daß Johnson dem Spiel noch einen Sinn abzugewinnen wußte.13

Am 17. August, drei Tage vor der Abreise, bekommt Gesine bestätigt, es bedürfe erheblichen Mutes, auf Sicherungen zu verzichten; "obgleich das nach den Erfahrungen Ihres Lebens aussehen könnte wie Fahrlässigkeit" (JT, 1857). So schreibt ihr ein Psychologe, das Schreiben ist mit A.M. gezeichnet. Er hält sie für "gerüstet für eine Arbeit in einem Ausland, in Prag" (ebd.). Der Abschnitt schließt zuversichtlich: "Wenn am Tage nach Übermorgen die Abgesandte einer new yorker Bank auftritt in der Hauptstadt eines kleineren kommunistischen Landes, was ist denn dabei" (ebd.). Der Satz steht im Präsens mit futurischer Bedeutung. Daran schließt sich ein Stück Familiengeschichte an.

Nach dem Bericht über Kollmorgens Eheringe und die Anstrengungen Gesines, in Düsseldorf heimisch zu werden, folgt ein Geständnis über eine Dienstfahrt in den Osten. Den Lesern der Mutmassungen ist bereits bekannt, was es mit dem Herrn Rohlfs auf sich hat. Gesine erzählt von Jakobs Besuch in Düsseldorf. "Er hätte bleiben können", sagt Marie.

"Was wir beredet haben für das Jahr danach bis 1983, Veranstaltungen im Unsichtbaren, Aufbauten einer Zukunft, es sind nunmehr Geschichten wie die, da fallen kleine Kinder in eine Wassertonne; da hängt es an den Fäden einer Minute, ob einer kommt und rettet sie" (JT, 1867). Die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft verwandelt in Geschichten, die besser nicht erzählt werden; Cresspahl entscheidet nicht nur über Jakobs Begräbnis. "Frau Abs und seiner Tochter gab er erst Bescheid, als Jakob unter der Erde war" (JT, 1868). "Als der Selbstmord mir verboten wurde, war er beinahe vergessen", gesteht Gesine ihrer Tochter und nennt als Grund "eine kräftige Person. Wenn ich ihr einen Finger in die Handfläche steckte, machte sie eine Faust; einen Meter hoch im Freien schwebte sie an ihrem festen Griff. Eine zufriedene Person, schlief ausdauernd, wachte auf mit leisen Kehllauten." (ebd.) Marie. Etwas von jenen "Aufbauten einer Zukunft" ist in Marie bewahrt.14 Aber nicht nur das.

Cresspahl, bald neunundsechzig, "steigt zum ersten Mal in ein Flugzeug, einen Kontoauszug nach Düsseldorf zu bringen" (JT, 1870). Am Bett sitzend betrachtet er seine Erbin. Und von Cresspahl gibt es mehr zu erben als nur zwei Haufen englisches Geld. Frau Abs kommt in den Westen, nicht zu Gesine, sie will allein leben und sterben; als Marie davon hört, fragt sie: "Warum fehlt das in meiner Erinnerung?" (JT, 1871)

Dann ist die Rede von Cresspahl, der geht aus demselben Grund zurück, der Frau Abs bleiben läßt. Er will beim Sterben allein sein. Noch ist es nur Andeutung und Anspielung, aber schon ausgesprochen: "Bi't sterben sünt wi all Meisters un Lihrjungs. Er wollte das alleine abmachen." (ebd.) Und Marie weiß schon, wie es weitergeht: "Unverhofft machst du dich auf die Socken nach Amerika, ein schutzloses Kind unter dem Arm! Gesine!" (JT, 1872) Gesine erklärt diesem vorlauten Kind die Gründe für die Abreise, das Kind ist erstaunt:

"- Bis heute hast du mich glauben lassen, New York sei mein Entschluß!
- Es ist dein Entwurf.", antwortet die Mutter. (JT, 1872) Das Wort läßt aufhorchen, es wird noch zu verhandeln sein.

Marie drängt die Mutter: "Jetzt sind wir im März 1961, unterwegs nach NYC. New York City!" (JT, 1874) Die Erzählung der Familiengeschichte bewegt sich auf den Ort zu, der sie beherbergen wird. Der Ort, an dem das Erzählen beginnt. Gesine erzählt noch von dem Besuch bei Anita in Berlin, von dort aus flog sie mit Marie nach Paris. Marie kann das Ende der Geschichte, die Abreise kaum erwarten, anders als damals:

- Und nun auf die France, ab nach New York!
- Jedoch weiß ich von einem Kind, das konnte noch lange aufzeichnen, wie die Möbel gestellt waren an den Gartenfenstern von Düsseldorf. Das den Tränen nahe war, wenn sie zurückdachte zu einem Kindergeburtstag, da sang ein Chor: Du bist jetzt Drei! Du bist jetzt Drei!
- In New York wurde ich vier. Endlich sind wir angekommen, wo meine Erinnerung Bescheid weiß. Welcome home! (JT, 1875)

Damit ist die Eintragung zu diesem Tag zu Ende: auf der Seite 1875. Die Erwähnung der Tode von Jakob, Frau Abs und Cresspahl ist ein überdeutliches Signal für den Abschluß der Geschichte. Nicht nur, weil es danach kaum noch etwas zu erzählen gäbe, da die Protagonisten der Geschichte nicht mehr zur Verfügung stehen. Von nun an könnte auch Marie erzählen, worüber ihre Erinnerung Bescheid weiß. Gesine hat an diesem Punkt die Geschichte ihrer Familie an Marie überliefert. Dieses Ende ist ein neuer Anfang: Marie. Doch noch ist der Roman nicht zu Ende; die Aufbauten der Zukunft reichen über das Private hinaus: Prag.

Ehe verfolgt werden soll, wie auf dieses Ende hin erzählt wird, muß ausgesprochen sein, daß Welcome home! zwei Heimaten meint. Es stand schon am Ende des vorangegangen Tages, des 16. August. Gesine und Marie kamen von ihrem Ausflug nach San Francisco und New Orleans zurück. Unter den Flügeln einer DC-10 erblickten sie Manhattan. Und Marie kommentierte: "Welcome home, Gesine!" (JT, 1855) Sie begrüßte ihre Mutter in der Stadt, von der sie annimmt, sie sei ihr ein zu Hause geworden. Am Ende des nächsten Tages, wird, zur Unterscheidung, ausgesprochen, worin das zu Hause besteht: wo meine Erinnerung Bescheid weiß. Das meint den Ort New York als Vorrat fürs Gedächtnis. Das ist die fast schon sprichwörtlich gewordene Heimat im Vergangenen. New York wird - auch für Marie - vergangen sein. Noch sind drei Tage Zeit. (Zumindest beiläufig soll erwähnt sein, daß Johnson auch mit der magischen Zahl umzugehen verstand.)15

Der erste dieser drei Tage, der 18. August, beginnt auf der Seite 1875. Die Eintragung ist kurz, für die Verhältnisse im vierten Band erstaunlich knapp. Auffällig ist auch die Häufung der kurzen Sätze. Wenn man aber erst einmal bemerkt hat, was sich in diesen Sätzen ereignet, ist es nicht mehr weit zu der Behauptung, dies sei eine der beeindruckendsten und zugleich anrührendsten Passagen des Romans.

Cresspahls Tochter lebte in New York, als er starb im Herbst 1962. Amerika ist mir zu weit zum Denken. Fœundsœbentich is nauch.
Er versuchte auf dem Rücken liegend einzuschlafen. Er wollte nahe genug am Morgen gefunden werden. Sie sollten keine Mühe haben mit dem steifen Körper, weil er anders lag als er liegen sollte im Sarg. Früher hatten sie solchen die Knochen gebrochen. (ebd.)

Was hier erzählt wird, ist Cresspahls Tod. Cresspahls Tod wurde schon einmal erzählt, unter dem Datum des 26. September 1967, im ersten Band. Die beiden Sätze "Amerika ist mir zu weit zum Denken. Fœundsœbentich is nauch." signalisieren die Wiederholung, sie finden sich an beiden Tagen.16 Der Spruch von den Meistern und Lehrjungen ließ eine Erinnerung an den ersten Bericht von Cresspahls Tod schon anklingen: "In Malchow wurde ein Meister noch nur von Meistern auf den Wagen gesetzt und ins Grab gelassen" (JT, 121). Bei der ersten Erwähnung seines Todes wird berichtet, wie Cresspahl auf den Friedhof geht, um es ein letzes Mal zu tun: "Zu Jakobs Grab ging er. Mit Jakob unterhielt er sich. Na, Jakob. Und du? Ja Cresspahl. Sühst, ich lieg hier zum Ansehen." (ebd.) Jakobs Freund Jöche schickte jeden Morgen seine Frau zu Cresspahl, nach ihm sehen. "Ob ich wohl lebe." Und Jöche hatte das Land nun doch umgegraben: "Gras will er säen" (ebd.).

Am Ende des vierten Bandes wird das erste Ereignis zum zweiten Mal erzählt, das ist, nach allem bisher Gesagten, nur konsequent. Das Ende der von Gesine erzählten Geschichte ist erreicht, ein erneutes Erzählen von der Vergangenheit muß somit Wiederholung sein. Die Jahrestage werden an dieser Stelle zu Cresspahls Buch: was mit der zweiten Erzählung seines Todes an motivischer und symbolischer Konstruktion vollendet wird, kann hier nur angedeutet werden. Ulrich Fries schließt, nachdem er zuvor auf Benjamins Erzähleraufsatz verwiesen hat, seine vorbildliche Analyse der beiden Eintragungen mit der Feststellung: "Indem der Tod hier fungiert als Grenze der Vergangenheitserzählung, aber auch als eine die Gegenwartshandlung determinierende Instanz, stellt er [...] die zentrale Vermittlungsinstanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit dar."17 Nur scheinbar beschädigt eine solche Setzung den Anspruch, "Geschichte, und nicht nur Familiengeschichten, erfahrbar zu machen".18 Tatsächlich führt sie zur zentralen Frage, der nach dem Geschichtsbild und seinem Einfluß auf das Erzählen. Denn die erzählerische Kohärenz wird ja durch die Wiederaufnahme nicht in Frage gestellt, im Gegenteil - und hierher gehört der Verweis auf Benjamin -, der Tod autorisiert das Erzählen. Nicht der Tod Cresspahls macht weiteres Erzählen unmöglich, sondern die Zerstörung einer Utopie.19

Auf Cresspahls Tod folgen die Abschiedsmotive, das letzte Wort des Tages lautet "Abschied" (JT, 1876). Zuvor aber, als Verbindung zwischen der Erinnerung an den Tod und dem Erzählen vom Leben hat ein Satz eine Zeile ganz für sich: "Den Tag noch einmal beginnen" (JT, 1876). Er ist nicht nur quasi-mimetischer Bericht über Gesines Versuch, die Bilder des Aufwachens zu verdrängen und sich ganz auf Maries Abschiedsgesellschaft zu konzentrieren, sondern auch eine Beschreibung für die Situation Gesines, trotz ihrer bisherigen Erfahrungen sich auf die Reise nach Prag einzulassen. Der Beginn des Tages läßt sich nicht wiederholen, Gesine wird im Bewußtsein dieses Beginns einen neuen Anfang suchen.

Am vorletzten Tag wird der Bogen vom Welcome home! bis zur Abreise geschlagen, eine Reihung von Motiven und Episoden von der Ankunft in New York im März 1961 bis zum Nachmittag des 19. August 1968. Es werden, um es auf den strukturalistischen Punkt zu bringen, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Hin- und Rückflug erzählt. Die den Roman beherrschenden Themen werden aufgerufen, deutlich bis zur Überzeichnung: der Vietnamkrieg, die Kubakrise, der Mauerbau, die Schuld an den Juden. Der summarische Charakter, das schonungslose Bilanzieren ist gerechtfertigt durch die bevorstehende Abreise. Der Blick zurück beginnt mit "Als wir unterwegs waren nach den Vereinigten Staaten" (JT, 1877), wird variiert durch "Als wir ankamen" (JT, 1877) und reicht bis zum "Glück auf die Reise" (JT; 1886) der Zollkontrolle. Der Wilsonbahnhof in Prag wird erwähnt, der schon im ersten datierten Eintrag eine Rolle spielte, und von Jakob ist die Rede, das Schlußbild wird durch eine Erinnerung Gesines vorbereitet. Marie kommt in die Bar, in der Mr McIntyre bediente, und betrachtet ihre Mutter ernst und freundlich, wie Jakob es tat. "Dann gingen wir Hand in Hand auf der abfallenden Straße dem Riverside Park entgegen, und ich dachte zu leben genüge" (JT, 1882). Auch das ist ein Abschied. Die Vokabel fällt erneut: "Die Abschiede wurden schwierig" (JT, 1883), heißt es.

Über diese Zeit hätte auch Marie erzählen können, es sind aber deutlich die Erinnerungen ihrer Mutter. Marie denkt bei New York an anderes. "Marie ließ sich unsere Tickets zeigen, überprüfte sie auf eine Buchung zurück zu dem Ort, den zu verlassen uns bevorstand" (ebd.). Gesine tut ihr den Gefallen, wie sie auch Robinson Adlerauges Verdacht zerstreut, sie gäbe eine Wohnung auf. "Am Klingeln des Telefons können Sie hören, daß wir ein Lebensrecht behalten möchten am Riverside Drive" (JT, 1886). Die Motive sprechen dagegen. Der Bahnhof Grand Central signalisierte im "chapter without a date" die Ankunft, nun steht er für die Abreise. Auch die Lexington Avenue wird noch einmal erwähnt, aber: "Wir gehen in der falschen Richtung [...]" (JT, 1887). Schließlich der Flughafen. "Please proceed to the gate now. Begeben Sie sich zum Ausgang" (ebd.), sind die letzten Sätze des 19. August, die beiden haben bis zum letzten Aufruf gewartet. "Bis sie sagen werden, dies sei der letzte, der endgültige Aufruf zum Betreten der Flugmaschine" (ebd.). Der letzte, der endgültige: last and final.

Am letzten Tag liest Gesine nicht in der New York Times. Die Stadt, die zu der Zeitung gehört, hat sie am Vortag zusammen mit ihrer Tochter verlassen. Sie sind nicht mehr, wo sie herkommen, aber auch noch nicht dort, wo sie hinwollen. Sie sind unterwegs, auf der Reise, bewegen sich auf ein Ziel zu. Zu erzählen wäre also noch die Ankunft.

Nicht zufällig liest sich die Eröffnung des 20. August wie eine Regieanweisung: "In einem Badehotel an der dänischen Küste, Schweden gegenüber. In einem Speisezimmer für Familienbegebnisse; Rohrmöbel, Damasttischtuch. Im Garten, hinter dem Gebüsch zur Promenade. Am Strand. Von zwölf bis sechzehn Uhr." (JT, 1888) Entworfen wird ein Bild, eine Szene, die dem erzählerischen Moment entspricht, ganz im Sinne des Wortes: eine Momentaufnahme. Ein Tableaux zwischen Abreise und Ankunft, das sich seinerseits aus einzelnen Aufnahmen zusammensetzt. Die Fragmente, Gesprächsfetzen und einzelne Sätze, werden äußerlich durch die vorangestellten Regieanweisungen zusammengehalten.

Die Begründung für diese Art von Darstellung ließe sich ganz aus dem situativen Kontext entwickeln, die Geschichte wird angehalten, ehe sie ihr Ziel erreicht. Es soll aber, wie eingangs versprochen, gezeigt werden, daß die Konstruktion des Romans notwendig auf dieses Ende hinausläuft, daß jedes denkbare andere Ende die Vollendung der Konzeption gefährdet hätte. Und es soll dabei weniger spekulativ zugehen, als diese Formulierung vermuten läßt.

In den letzten vier Stunden treten auf: "Ein elfjähriges Kind, das vor Müdigkeit leise spricht, matt. Eine Dame um die Fündunddreißig, die hinter Marie die Treppe hinuntersteigt, vorfreudig, weil zum Empfang gerufen." (ebd.) Anita tritt nicht auf. Stattdessen ein Herr.

Ein Herr steht auf der Terrasse, geschrumpft, eigenwillig aufrecht, schwarzweiß gekleidet, unter schlohweißen Haaren, mit erhobenen Armen kostet er den Empfang aus, ein Rabe, der seine Bewegung verbergen will. (ebd.)

Nun lernt Marie Dr. Kliefoth kennen, Gesines "Lehrer für Englisch und Anstand" (ebd.). Die Ereignisse an den zuvor benannten Schauplätzen werden nahezu ausschließlich in wörtlicher Rede wiedergegeben, Dialoge, wie in einem Theaterstück. Einzig von Gesines Beobachtungen an Kliefoth unterbrochen.

In der Erschöpfung hält er die Augen geschlossen. Unter die Brillenbügel greifend massiert er mit Daumen und Zeigefinger einer Hand die Schläfen. Die Augenhaut ist grau, vielfach gefältelt, ohne Regung. Sitzt da wie ein Toter; bis er sich weckt mit den kletternden Fingern. (JT, 1889)

Wie ein Toter, das ist nur eine der Anspielungen auf den besonderen Status des Dr. Kliefoth. Als (provokative) These formuliert: Julius Kliefoth ist das personifizierte Gedächtnis des Romans, sein Lebenslauf steht nicht nur für die wichtigsten Themen ein, sondern auch für die Möglichkeit, moralisch integer zu leben, will heißen: mit der Schuld umzugehen. Gary Lee Baker hat bereits darauf hingewiesen, daß Kliefoth die einzige Figur ist, "that has lived during the entire narrated time (- from the Kapp Putsch 1920 to August 20, 1968 -) with an adult awareness of the changing times."20 Darüber hinaus, das kann hier nur angedeutet werden, ist er eine erzählerische Besonderheit in vielerlei Hinsicht.


Zum zweiten Teil Zum zweiten Teil

Zurueck zum Hauptverzeichnis Zum Ede-Hauptverzeichnis

1 Johnson, Uwe: "Was mir an Ihrem 'Lübecker Podium' gefiel." Otto Hamkens zum siebzigsten Geburtstag, in: ders., Porträts und Erinnerungen, hg. von Eberhard Fahlke, Frankfurt am Main 1988, S. 78-80, hier: S. 79. Hervorhebung H.H. - Bei dem Aufsatz handelt es sich um die leicht aktualisierte Fassung meines Vortrags Last and Final, gehalten am 19.09.1994 auf der Londoner Tagung "'... und hätte England nie verlassen.' Uwe Johnson zum Gedenken".

2 Johnson, Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. I-IV, Frankfurt am Main 1988, S. 17.

3 Vgl. Fries, Ulrich: Uwe Johnsons "Jahrestage". Erzählstruktur und Politische Subjektivität, Göttingen 1990, S. 47f.

4 Vgl. ebd., S. 19-37 und Neumann, Uwe: "Behandlen Sie den Anfang so unnachsichtig wie möglich". Vorläufiges zu Romananfängen bei Uwe Johnson, in: Johnson-Jahrbuch Bd. 3, Göttingen 1996, S. 19-49.

5 Hornby, A. S.: Advanced Learner's Dictionary of Current English, Oxford 1974, S. 476. Weniger poetisch im Webster's: "emphasizes definite, decisive closing or ending of a series or process". Webster's Third New International Dictionary of the English Language, Springfield 1986, S. 1274.

6 Brecht, Christoph: "You could say it was done with mirrors". Erzählen und Erzähltes in Uwe Johnsons Jahrestagen, in: Johnson Jahrbuch Bd. 1, Göttingen 1994, S. 95-126, hier: S. 108.

7 Vgl. JT, 1426f.; Fries, "Jahrestage" (Anm. 3), S. 130. - "Am 20. August 1967 war Gesine an der See, in New Jersey. Diesen Tag hat der Schriftsteller als ersten genommen. Und weil er ein Buch aus Jahrestagen machen wollte, hörte er genau ein Jahr später auf." Johnson, Uwe: MARIE H. CRESSPAHL, 2.-3. Januar 1972, in: Eberhard Fahlke (Hg.), "Ich überlege mir die Geschichte ...", Uwe Johnson im Gespräch, Frankfurt am Main 1988, S. 90-110, hier: 108.

8 Brecht, "You could say ..." (Anm. 6), S. 102.

9 Johnson, Uwe: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1980, S. 425. Das Datum steht auf S. 424.

10 Ich habe versucht, dem auf anderem Wege nachzugehen. Vgl. Helbig, Holger: In einem anderen Sinn Geschichte. Erzählen und Historie in Uwe Johnsons Jahrestagen, in: Johnson-Jahrbuch Bd. 2, Göttingen 1995, S. 119-133.

11 Vgl. Johnson, Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Frankfurt am Main 1992, S. 787.

12 Johnson-Archiv: 4 DF Jahrestage, 103a. Ich danke dem Uwe Johnson-Archiv und dem Suhrkamp Verlag für die Erlaubnis, aus dem Archivmaterial zitieren zu dürfen.

13 Der Verlauf der letzten Korrektur ist nicht vollständig zu rekonstruieren. Im Exemplar von Siegfried Unseld sind pergamentene Seiten hinzugefügt, und zwar den letzten Tag betreffend. Das Exemplar war auf einer Ausstellung zu sehen. [Ergänzung 2000: Inzwischen ist der Briefwechsel Johnson-Unseld erschienen, der zumindest eine genauere Rekonstruktion gestattet.]

14 Zur Figur der Marie vgl. Siemon, Johann: Liebe Maria, dear Mary, dorogaja Marija. Das Kind als Hoffnungsträger in Uwe Johnsons Jahrestagen, in: Johnson-Jahrbuch Bd. 3, Göttingen 1996, S. 123-145 und Paefgen, Elisabeth K.: Joseph und Marie. Zur Darstellung von Initiationsmomenten in Joseph und seine Brüder und Jahrestage, in: ebd., S. 146-172.

15 Auch bei "Welcome Home!" handelt es sich genaugenommen um eine dreifache Variation. An den Anfang der Reihe gehört Maries "Welcome to San Francisco, Gesine!" (JT, 1845).

16 Vgl. JT, 121 u. JT, 1875. Die plattdeutsche Schreibung der vierundsiebzig ist allerdings nicht einheitlich.

17 Fries, "Jahrestage" (Anm. 3), S. 88.

18 Ebd. Fries ist dementsprechend unwohl bei seiner Behauptung; vgl. seine Anm. 23 auf derselben Seite.

19 Das steht an dieser Stelle als These - und soll durch die weitere Argumentation belegt werden. Der Verlauf der Argumentation folgt dem Text ebenso wie Benjamin: "Jedwede Untersuchung einer bestimmten epischen Form hat es mit dem Verhältnis zu tun, in dem diese Form zur Geschichtsschreibung steht." Vgl. Benjamin, Walter: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schwepphäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 438-465, hier: S. 451.

20 Baker, Gary Lee: (Anti-) Utopian Elements in Uwe Johnson's Jahrestage: Traces of Ernst Bloch, in: The Germanic Review 68, 1993, S. 32-45, hier: S. 45, Anm. 38.

Zum zweiten Teil Zum zweiten Teil

Zurueck zum Hauptverzeichnis Zum Ede-Hauptverzeichnis

Letzte Aenderung: 30.09.2000
Mail an hrhelbig@phil.uni-erlangen.de
© Holger Helbig