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Last and Final.
Über das Ende der Jahrestage
2. Teil


von Holger Helbig


Ein Beispiel soll für eine ganze Kette von Verweisen und Motiven einstehen. Gesine, die die Stimmen der Toten hört, fragt ihn unter dem Datum des 16. Mai: "Ja, Herr Kliefoth. Ich hör Sie gut. Sind Sie nun auch tot?" (JT, 1177) Und es kommt zu folgendem Dialog:

Die verlangen ja nur den einen Mitgliedsbeitrag für ihren Club. Den hab ich.
Wann, Herr Kliefoth?
So gegen Abend, wenn in New York Mittag vorbei ist. Ich denke so kommenden November. (ebd.)

Der verlangte Mitgliedsbeitrag ist das Leben, und Kliefoth weiß, wann er ihn zahlen wird.1 Es kommt ihm auf den Tag nicht an. Am 20. August steht der Satz von Kliefoth: "Es ist mehr daher, daß ich von den Überlebenden der Älteste bin. Müßt auf den Friedhof gehen, wollt ich mit jemandem reden." (JT, 1889)

Im letzten Bild des Romans nimmt er die Stelle des Vaters ein. Das ist bisher nur eine auf diese vier Zeilen bezogene These von Colin Riordan, die sich, wie das Beispiel belegt, mühelos auf den ganzen Tag ausdehnen läßt.2 Jenes mit-den-Toten-Reden auf dem Friedhof nämlich ist auch von Cresspahl überliefert. Und ganz wie Cresspahl weiß auch Kliefoth um seinen bevorstehenden Tod.

Es wird kein Deutsch gesprochen in diesen vier Stunden. Gesine, die Geschichtsbewußte, erläutert Kliefoth: "Es erschiene mir geschickt, wenn wir außerhalb des Deutschen blieben. Dies Land ist einmal deutsch besetzt gewesen." (JT, 1888) Im April 1940 hatten deutsche Truppen Dänemark besetzt, die dänische Regierung trat 1943 zurück, als von ihr verlangt wurde, den Ausnahmezustand zu verhängen. Bis zur Kapitulation im Mai 1945 wurde das Land fortan auch formal von deutschen Behörden regiert.

Kliefoth wechselt nach dem Hinweis erst einmal ins Französische, um dann auf Platt fortzufahren. Zusammen mit den dänischen Einsprengseln und Maries Englisch werden die einzelnen Szenen dadurch noch weiter fragmentiert, die Begrüßung, das gemeinsame Essen, die Erinnerungen beim Spazierengehen. Und auch die Ausschnitte aus den Gesprächen sind nicht immer zusammenhängend, so daß es möglich wird, die Sätze und Abschnitte einzeln, für sich zu lesen - und auch zu deuten. So als würden im Verlauf der vier Stunden alle Themen abgeschlossen, als enthielte der letzte Tag die jeweils letzten Steine, um das Bild des Mosaiks zu vollenden.

Anita hat Kliefoth einen Paß besorgt, es mißfiel ihr, daß Gesine in Frankfurt umsteigen solle. Wer außer Anita und dem Zweiundachtzigjährigen sind Gesine noch geblieben? Jetzt, wo auch D.E ... - wenn das Gespräch auf ihn kommt, bricht es ab.

Jakob. Marie erkundigt sich nach ihm, nach einem Toten: "Was ist gesprochen worden an meines Vaters Grab?" (JT, 1889)

"Unfug", sagt Kliefoth.

Und was ist geworden aus Jerichow? Was früher Südfrüchte hieß, ist nicht mehr zu haben. Der Aal, von dem 1928 noch in Anzeigen die Rede war, Tausend Tonnen geräucherter Aal, er ist nicht mehr zu haben. Immer wieder gleitet das Gespräch ab in die Erinnerung, das kann nicht anders sein. Gesine im Mai 1953, das "schönste Damen-Segelwetter", wäre da nicht der "orgelnde Baß" des Alten, seine "schartige Heiserkeit", es wäre eine Idylle (vgl. JT, 1890). "Manchmal träume ich das", gesteht Gesine und zählt die Orte auf, an denen ihre Erinnerung hängt. 3

Die Einfahrt nach Rostock neben dem Alten Strom, Walddurchblicke im Doberaner Forst, der Bahnhof von Wismar oder Gneez [...] Morgende im Winter am Eis, Schilfschatten, Ofenfeuer ... aber Herr Rohlfs ist tot, oder auf seine Art gescheitert an der Majorsecke. Nur auf Durchreise dürfen wir nach Mecklenburg, in einem Hotel absteigen unter Aufsicht; da ist kein Unterkommen nach Belieben. (ebd.)

Der Tod des Hauptmanns der Staatssicherheit ist symbolisch, wie Rudolf Gerstenberg schreibt, was "könnte er bedeuten sollen"?4 So wenig, wie Gesine diese Orte erreichbar sind, so wenig konnte ein Entwurf wie der des Herrn Rohlfs überleben. Mit Rohlfs stirbt eine Hoffnung, die eigentlich nie eine gewesen ist: es ließe sich leben mit der Notwendigkeit und dem Gehorsam. Dennoch lese ich, bei aller Entschiedenheit, die in dieser Festschreibung der Nachgeschichte der Mutmassungen steckt, auch das Bemühen um Anerkennung jener unausgesprochenen Hoffnung mit: Rohlfs ist tot oder auf seine Art gescheitert. Da ist, am Ende dieser Reihe, kein Ort für ihn, so wie auch Gesine Waren, Neustrelitz und Malchin unerreichbar sind. Und Kliefoth erwidert: "Wär jemand wie ich doch vermögend in der Zukunft, Fru Cresspahl. Åpen un ihrlich!" (ebd.)

Offen und ehrlich, ist das mehr als nur ein frommer Wunsch? Wie vermögend sind die Toten, zu denen Kliefoth in der Zukunft gehören wird, als deren Stellvertreter er hier spricht? So sehr die Stimmen der Toten auch Gesines Geschichte verbessert, ergänzt und bestritten haben: Sie hat ihre Entscheidung allein getroffen. Zwar eingedenk der Toten, aber trotz ihrer Stimmen, trotz ihrer Erfahrungen. Und das gilt nicht nur für die narrativen Entscheidungen - von welchem Ereignis Marie erfahren soll oder nicht -, sondern auch für die Entscheidung, nach Prag zu gehen. Prominentes Beispiel dafür ist der 17. Mai, ein Tag der ganz jenen Stimmen vorbehalten ist.5 Gesine wird über die Bedeutung eines Filmtitels belehrt, The Fifth Horseman Is Fear. Eine Anspielung auf die apokalyptischen Reiter, deren fünften die Deutschen für die Tschechen eigens mitgebracht haben: die Angst. Der Tag endet mit einer Warnung, die auch im Namen Kliefoths ausgesprochen wird, einer Warnung vor Prag: "Du kannst da nicht reden, nicht arbeiten, nicht leben. Gib es auf." (JT, 1179)

Das Unvermögen der Toten hieße: Diese Geschichte halten sie nicht auf. So wenig wie sie vermögen, Gesine dauerhaften Zugang zu verschaffen zu den Orten ihrer Kindheit. Was bei Kliefoth als Wunsch formuliert ist, spricht mit Bedauern eine Unmöglichkeit aus. Eine Möglichkeit jedoch bleibt, die einzige, scheint es, Vermögen in der Zukunft zu erlangen. Noch ist sie nicht ausgesprochen. Denn der letzte Satz, den die Toten überliefern, Cresspahls Vermächtnis, steht noch aus. Ich will versuchen anzudeuten, wie sorgsam diese eine, noch nicht ausgesprochene Hoffnung verborgen ist, indem ich eine frühere Fassung dieses Tages zum Vergleich heranziehe.

In den Fahnen, die der Suhrkamp Verlag im Herbst 1984 vor Erscheinen des Buches an die Rezensenten verschickte, findet sich Kliefoths Entgegnung nicht. Auch Gesines Tagtraum endet mit einer deutlicher formulierten Absage. Ein weiterer Satz aus der den Fahnen vorausgehenden Fassung macht den Unterschied dann vollends deutlich.

Ehe der Tagtraum beginnt, an dem nichts verändert wurde, ist zu lesen: "Jeder Staat braucht seine Legende."6 Gemeint ist jener Staat, der Kliefoth die Ausreise und Gesine die Einreise verweigert. Gesine spricht es noch in der Fassung des Rezensionsexemplars aus, wenn sie sich erinnert:

... aber Herr Rohlfs ist tot, oder auf seine Art gescheitert an der Majorsecke. Auf dem Bahnhof Friedrichstraße hat man mir mitgeteilt: Sie sind in der Deutschen Demokratischen Republik unerwünscht.7

Diese Mitteilung gehört noch in die Zeit der Mutmassungen. Kliefoths Antwort lautet:
Heute würde es heißen, Fru Cresspahl: So sind wir richtig, Sie sind so richtig; bleiben Sie wo Sie sind und helfen der Weltrevolution von New York aus.8

Die Veränderungen, so viel wird auf den ersten Blick deutlich, ersetzen das Konkrete durch das Allgemeine. Es geht nicht um den Staat mit ausgeschriebenem Titel, der sich eine Legende schafft, und das Propagandageschwafel von der Weltrevolution. Kliefoths Ironie stellt ein Scheitern aus und eine Hoffnung bloß. Es ist bezeichnend, daß sie in der letzten Fassung gestrichen wurde. In der endgültigen Fassung ist nurmehr von einer Landschaft die Rede, Mecklenburg, und dem Wunsch, dort leben zu können. Der Verweis auf die Majorsecken des Herrn Rohlfs konfrontiert die politischen Zustände genügend mit dem allgemeineren Verlangen nach Zukunft; vor allem aber: mit dem Wunsch nach Erreichbarkeit der Vergangenheit. Denn diese nämlich ist der Ort, wo die Toten sind. - Und wo nun wäre hier, wie behauptet, Hoffnung bewahrt? Sie ist verschwindend gering: Nachdem von der DDR und der Weltrevolution nicht länger die Rede ist, darf Gesine zumindest auf der Durchreise nach Mecklenburg. Es gibt Momente, in denen die Orte der Vergangenheit erreichbar sind, sie sind nicht gänzlich verloren.

Aus drei Gründen scheint mir diese Deutung berechtigt. Zum einen entspricht sie der Bedeutung des Erzählens im Roman: Momente, in denen Vergangenheit überliefert wird, Orte, die Marie so zugänglich gemacht werden. Auf ihr Wissen um die Toten ist diese Hoffnung gestützt.9 Zweitens läßt sich über Rohlfs Majorsecken auch schon in den Begleitumständen nachlesen. Er sei in Ungnade gefallen heißt es da, weshalb er Gesine in New York nicht begegnen könne.10 Hier wie da haben andere dafür gesorgt, daß etwas unmöglich blieb, was er für möglich hielt: ein Besuch in Mecklenburg, ein Besuch in New York. Diese Hoffnung mag nur rückblickend eine sein: es hätte sie gegeben, die Leute wie Rohlfs. Festzuhalten bleibt, daß Johnson die Figur nicht aufgibt. Und zum dritten läßt sich die Deutung komplettieren, das steht noch aus: die Erwähnung Jakobs, Cresspahls Diktum über die Geschichte und das Schlußbild.

Vorerst steht nur Kliefoths Wunsch vom Vermögen in der Zukunft. "Dem alten Mann geht der Hosenbund bis an die Brustwarzen. Seine abgetragene Kleidung wird von Mal zu Mal verkleinert" (JT, 1890). Die Art von Leser, für die die Jahrestage geschrieben worden sind, stoßen spätestens beim nächsten Lesen auf einen Wiedergänger, der eine wichtige Verbindung vorbereitet. Es gibt einen namenlosen alten Mann, von dem Gesine nicht mehr weiß, als daß er sie regelmäßig anruft mit: "Na, Liebling!" (JT, 176)
Er ist sehr sorgfältig gekleidet in seine verjährten Sachen, und im Jackenspalt ist zu sehen, daß ihm der Hosenbund bis dicht unter die Brustwarzen reicht. Sein Blick über die erhobene Tasse weg ist ganz leer gewesen, von einer anderen Ansicht gefüllt. So konnte Cresspahl nach dem Krieg dasitzen, anwesend und weit weggetreten in eine Zeit, die es nur noch in Gedanken gab. (ebd.)

In dieser Szene aus dem ersten Band ist der namenlose Alte der Auslöser für die Erinnerung an Cresspahl, der hätte auch so blicken können. Die Beschreibung der Kleidung dagegen paßt auf Kliefoth; mehr noch, der entsprechende spätere Satz ist ein Echo. Und dieses Mal hat der alte Mann einen Namen. Die Stellvertretung Cresspahls durch Kliefoth ist damit auch motivisch gesichert, ohne daß eine der beiden Figuren dabei an Eigenständigkeit verliert.

Das Nachdenken und das Altern tun Kliefoth weh: "Kliefoth knetet seine Hände, überlegend. Der Schmerz macht ihm die Pupillen eng" (JT, 1891). Der Anblick des Schmerzes löst eine Erinnerung Gesines aus:
Einmal hatt ich mich geschnitten, gab Jakob den Fuß in die Hand aus dem Stand. Er sah sich das an, ließ den Fuß abgleiten im selben Rhythmus wie meine Hand auf seine Schulter sich stütze; die Bewegung ging mir durch den Leib ohne einen Schmerz. Ich glaub das geschieht einem im Leben ein einziges Mal. (ebd.)

Geschehen ist das am Stadtsee von Gneez, die Episode wird zu Beginn des dritten Bandes erzählt, how many lakes did you make in your life now? "Ende Mai 1953, und Jakob nahm mir den zerstochenen Fuß hoch wie einem jungen Pferd, und die Bewegung lief mir durch den Leib nach oben ohne einen Schmerz." (JT, 1018)

Der Verweis ist zwiespältig. Es steckt ja keine Zurücknahme, auch keine Resignation in diesem Satz, Gesine hat jenen Moment erlebt; nun ist er unerreichbar, weil nicht wiederholbar. Diese Konstellation entspricht dem Umstand, daß ein Leben mit Jakob unmöglich war, Marie aber seine Tochter ist. Es könnte durchaus als Realisierung einer Utopie gelesen werden, das Einlösen eines Traums mit Verlusten.11

Der nahezu identische Teilsatz signalisiert eine verfestigte Erinnerung; die Vermutung liegt nahe, das sei in der Intensität des Erlebnisses begründet. Ein einziges Mal im Leben geschieht einem dergleichen: Es hätte des Verweises auf die Einzigartigkeit Jakobs eigentlich nicht bedurft. Dennoch gibt es einen strukturellen Grund, ja geradezu einen Zwang, die Figur Jakob noch einmal aufzurufen - und in dieser Weise. Denn mit dieser Erinnerung Gesines beginnt das Ende vom Ende der Jahrestage.

Das letzte Wort des ersten Bandes lautet: Jakob. Der dazugehörige Satz: "Einmal wird das Kind aussehen wie ich auf den ersten Blick, aber mögen wird die Welt es auf den zweiten, und nicht einmal sie wird wissen, daß sie zurücklächelt wie Jakob" (JT, 478). Die beiden letzten Worte des zweiten Bandes lauten: Jakob. Der zweite Band endet mit dem Eintrag zum 19. April 1968, der dazugehörige Absatz: "Ick häud. Ich hüte: wie Cresspahl sagen konnte auf Befragen nach solcher Tätigkeit. Ich war noch lange Zeit ein Kind, und so sagte es noch Jakob." (JT, 1008) Diesem Tag ist ein Anhang nachgestellt, der endet mit den Sätzen:
Ob Jakob es jetzt schon wissen dürfe.
Jakob, ja. (JT, XVIII)

Vermutlich hat diese Dopplung der Namensnennung dieselbe Ursache wie der Anhang, nämlich etwaigen germanistischen Spekulationen vorzubeugen. Jedenfalls läßt sich auf diese Weise das Signal nicht überlesen.

Das Ende des dritten Bandes, wiewohl sehr poetisch, ist hier nicht von Interesse. Zwar besteht der Roman aus vier Lieferungen, doch macht ihn das noch lange nicht zu einer Tetralogie. Die 122 Tage, die jeweils in den beiden ersten Bänden erzählt werden, sind aus verschiedensten Gründen auf zwei weitere Bände verteilt, das ist schon alles. Wenn also der Name Jakob noch einmal am Ende zu erwarten wäre, dann im vierten Band.

Am 17. August, also an dem Tag, an dessen Ende das zweite Welcome home! steht, wird von Jakob erzählt - und von Jakobs Kind Marie. Die Abfolge der Berichte über Kollmorgens Eheringe aus dem Grab, Jakobs Besuch in Düsseldorf und seinen Tod endet mit den bereits erwähnten "Aufbauten einer Zukunft". Dann ist von Marie die Rede. Hier wird eingelöst, was am Ende des ersten Bandes motivisch angelegt war:12 Marie ist Gesines Tochter und Jakobs Kind. Auch das ist kein Wortspiel, sondern halt Marie auf den ersten Blick und auf den zweiten.

Am 20. August wird das Ende vom zweiten Band eingelöst, und zwar ganz und gar auf die Johnsonsche Art: "Ick häud. Ich hüte." bedeutet nämlich, was Marie "I am keeping a watch on you" (JT, 1008) nennt, wie zuvor erläutert wird. Ich gebe auf dich acht, ich behalte dich im Auge. Gesine sei noch lange Zeit ein Kind gewesen, auf das hätte man Achtgeben müssen, meinte Jakob. Cresspahl hat es getan: "Ick häud." Nun übergibt sein Stellverter Kliefoth den Auftrag an Marie, und zwar - das kann nicht anders sein - auf englisch: "Will you take good care of my friend who is your mother and Mrs. Cresspahl?" (JT, 1891).13

Somit sind auch diese beiden Bögen geschlossen, und beide Male wurde eingelöst, was zuvor zukünftig schien. Der Roman aber ist noch immer nicht zu Ende.

Zwischen diesen beiden Verweisen auf Jakob liegt eine Passage, in der Kliefoth, nach einer privaten Erinnerung, sagt: "Im Grund weiß man vom Leben nur eines: was dem Gesetz des Werdens unterliegt, muß nach diesem Gesetze vergehen" (ebd.).14 Und er fügt hinzu, es ergehe ihm genügend, es sei kein Grund zur Sorge. Kliefoths nahezu apodiktisches Resümeé gilt zuerst für den Einzelnen, für das Individuum. Doch zieht er es nicht nur für sich. Gestrichen worden ist an dieser Stelle ein Verweis auf Schiller. In der letzten Manuskriptfassung ist zu lesen:
Ich weiß vom Leben nur eines: was dem Gesetz des Werdens unterliegt, muß nach diesem Gesetz vergehen. Der Mensch steht ihm gegenüber wie der Jüngling dem verhängten Bilde von Sais. Mir, da seien sie unbesorgt, ergeht es genügend.15

Den wißbegierigen Jüngling in Schillers Das verschleierte Bildnis zu Sais trennt nur ein Schleier von der Wahrheit. Allerdings sagt die Gottheit im Orakel:
[...] Kein Sterblicher, sagt sie,
Rückt diesen Schleier, biß ich selbst ihn hebe.
Und wer mit ungeweihter schuldger Hand
Den heiligen verbotnen früher hebt,
Der, spricht die Gottheit" -
Nun?
"Der sieht die Wahrheit"
Ein seltsamer Orakelspruch!16

Der Jüngling, trotz der Warnung, hebt des nachts den Schleier von dem Bild und wird am anderen Tag gefunden, besinnungslos und bleich. Er verweigert jede Auskunft über das Gesehene und warnt nun seinerseits:

"Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld,
Sie wird ihm nimmermehr erfreulich seyn."17

Der Hinweis auf das Bild zu Sais ist deutlich auf Kliefoths Satz bezogen. Der Mensch steht ihm - dem Leben - gegenüber wie der Jüngling dem Bild: Er kann zu letzter Gewißheit nicht gelangen, zumindest kann er sie nicht mitteilen. An anderer Stelle schreibt Schiller:
Unter einer alten Bildsäule der Isis las man die Worte: "Ich bin, was da ist" und auf einer Pyramide zu Sais fand man die uralte merkwürdige Inschrift: "Ich bin alles was ist, was war, und was seyn wird, kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben."18

Ich bin, was da ist: das korrespondiert Kliefoths Eingeständnis, mehr als die Gewißheit der Vergänglichkeit sei ihm nicht erreichbar. Die Erweiterung, die Schiller verzeichnet, bezieht sich auf eine Dimension jenseits der Geschichte. Vor allem aber auf einen Begriff von Wahrheit, wie er in den Jahrestagen nicht zur Sprache kommt. Schon Herder hatte Schillers Gedicht mit der Begründung kritisiert, Wahrheitsdurst könne nicht zu Schuld führen: "Durst nach Wahrheit ist nie Schuld".19 Wenngleich mir diese Kritik auf einem Mißverständnis zu beruhen zu scheint - den auf das Religiöse bezogenen Wahrheitsbegriff Schillers betreffend -, illustriert sie doch, was mit der Streichung gewonnen wurde. Da der Kontext nicht ausgeweitet ist, spricht Kliefoth seinen Satz über das Wissen vom Leben zuerst für sich - und sodann als Stellvertreter Cresspahls und der Toten. Es wird keine vorformulierte Idee aufgerufen, die Interpretation ist auf den Roman verwiesen. Johnson hat auch den Zweifel an der Mitteilbarkeit des Gesehenen gestrichen. Die Variante belegt einmal mehr, daß er an einer Aussage über die Verbindung von Wahrheit und Schuld gearbeitet hat - und über die historische Dimension einer solchen Erkenntnis.

Das wird überdeutlich, wenn Kliefoth noch einmal von Cresspahl spricht: "Ihr Vater hat mir die Ehre seiner Freundschaft erwiesen. Eine seiner Auffassungen ging dahin: Geschichte ist ein Entwurf." (JT, 1891)

Auf diesen Satz folgt, was den Ausgangspunkt der Überlegungen bildete, die Manuskriptübergabe. Die Geste ist die Erwiderung auf den Satz Cresspahls: Gesine übergibt Kliefoth ihre Geschichte, die somit nun gleichzeitig in Händen der Toten wie in Händen ihrer Tochter ist. Im Manuskript wird der Vorgang noch deutlicher: Auf den Satz "Geschichte ist ein Entwurf" sagt Gesine: "Das haben wir aufgeschrieben bis zu unserer Abreise in Prag [...]".20 Dem läßt sich mühelos entnehmen, daß diese Überzeugung auch Gesines Erzählung zugrunde liegt.

Geschichte ist ein Entwurf: Der Satz ist in beiden historischen Richtungen lesbar. Rückwärts, auf die Deutung dessen bezogen, was uns vom Gewesenen überliefert ist, und vorwärts, die Möglichkeiten betreffend, die sich aus dieser Geschichte ergeben. Beide Male ist nichts gewiß außer eben dieser Feststellung: Geschichte ist ein Entwurf. Daß Kliefoth zuerst ein persönliches Fazit zieht, worauf das geschichtliche folgt, das erste nun einschließend, gibt eine der Grundüberzeugungen Johnsons wieder. Gültig ausgesprochen hat sie Max Frisch; Johnson hat den Satz sowohl verarbeitet als auch, in seinem Frisch-Lesebuch, an exponierte Stelle gesetzt, ans Ende nämlich: "Es ist nicht die Zeit für Ich-Geschichten. Und doch vollzieht sich das menschliche Leben oder verfehlt sich am einzelnen Ich, nirgends sonst."21

In den Ich-Geschichten der Jahrestage bekommt das Wort "Entwurf" eine zweite Bedeutung: Die Entscheidung für New York, so sagte Gesine der Tochter, sei zwar nicht ihr, Maries, Entschluß, wohl aber ihr Entwurf. 1961 erkennt Gesine im Westen Deutschlands Anzeichen für eine erdrückende Kontinuität. Die Synagoge in Köln Weihnachten 1959 beschmiert mit Hakenkreuzen, wieder steht "Juden raus" an den Wänden. Ein Mann, dem der Roman den Namen verweigert, einst "Offizier für wehrgeistige Führung", "aktivistischer Nationalsozialist" (JT, 1873), wird westdeutscher Verteidigungsminister. Gesine zählt die Stationen seiner Karriere auf, sie will "aus dem Land, für eine Weile" (JT, 1872). Zukunft scheint ihr hier nicht möglich. - Wo die Mutter zu Gast ist, wird die Tochter heimisch. Marie macht sich die Stadt zu einem zu Hause, hier will sie leben, auch in Zukunft. New York ist ihr Entwurf.

Geschichte ist ein Entwurf, das steht nicht nur für das gezwungenermaßen Hypothetische eines Rückblicks, sondern ebenso für das noch nicht Reale der Vorausschau. Im zweiten Falle meint Entwurf eine positive Möglichkeit. Die Lesart wird auch durch die Geschichte von Johnny Schlegels Kommune gestützt, die einmal als "Entwurf" (JT, 1841) bezeichnet wird. Doch gerade dieses Beispiel zeigt, wie sich Geschichte am Einzelnen vollzieht, und daß es um Entwürfe dieser Art im Sozialismus nicht gut bestellt war.22

Im Roman steht nun "Wie es uns ergeht, haben wir aufgeschrieben bis zu unserer Abreise in Prag [...]", und ich hatte die Deutung des Präsens eingangs verschoben. Es markiert die eben angesprochene Gleichzeitigkeit von Vergegenwärtigung der Vergangenheit und Hoffnung auf die Zukunft. Das erste, weil so die Manuskriptübergabe übersetzt wird: Das Heute ist nur erklärbar aus der Geschichte der Toten. (Vielleicht sogar: Sie haben ein Anrecht auf die weitere Geschichte.) Das zweite, weil der Verweis auf Prag unmöglich überlesen werden kann.
Was soll uns geschehen mit einer Gesellschaft Ceskoslovenské aeroline C.S.A., die tritt im ausländischen Verkehr auf unter den Buchstaben O und K? Wo wir fest gebucht sind, O.K.? Heute abend rufen wir an aus Prag. (JT, 1891)

Erneut steht das Präsens mit futurischer Bedeutung, die Gewißheit demonstriert. Prag wird erreicht, die Reise beendet werden, ja die Ankunft steht auch dafür, daß diese Reise sich gelohnt haben soll. Auch diese Passage hat Johnson noch überarbeitet, als die Rezensenten ihre Exemplare schon in Händen hatten. Dort stand nur zu lesen: "Was soll uns geschehen mit einer Fluglinie, die hat als internationales Kennzeichen die Buchstaben O und K. O.K.?" (RE, 1891)

Nun ist aus der Fluglinie eine Gesellschaft geworden, eine Veränderung, die allein schon den metaphorischen, fast symbolischen Gehalt der Vokabel sichtbar werden läßt. Was soll uns mit der tschechischen Gesellschaft geschehen - eine überdeutliche Anspielung. Und noch einmal wird das Manuskript um zwei Sätze erweitert, die beide für die Überzeugung stehen, eine richtige Entscheidung getroffen zu haben. Gesine ist fest gebucht für Prag, es ist alles in Ordnung, O.K., noch am selben Tag wird sie anrufen aus Prag.

Noch am selben Tag wird Prag von sowjetischen Truppen besetzt. Das ist der Absturz, vor dem Gesine Angst hat. Es ist mehr als ein Bild, denn die Angst vor dem Fliegen steht auch für die Angst vor dem Verlassen des Landes, in dem Marie eine Heimat sieht, steht auch für die Angst vor dem letzten Versuch mit dem Sozialismus. Johnson führt vor, wie groß die Hoffnungen waren, wie plötzlich trotz aller Skepsis deren Ende.23
If Jahrestage shows progress towards harmony at all, then the harmony has to be attained in Gesine's decision to go to Prague and attempt to work for her socialist ideals, with the final scene of the novel on the beach in Denmark on 20 August 1968 representing a moment of fulfilment.24

Von welcher Erfüllung aber kann gesprochen werden, wie begrenzt ist das Moment der Hoffnung, wenn das Ende des Romans "a fundamental tension between hope and disaster"25 repräsentiert? Sabine Fischer zeigt an vielen Belegen, wie Gesines Hoffnung auf den Prager Sozialismus relativiert wird, sie spricht von einer "zerbrechlichen Utopie".26 Horst Turk, angesichts derselben Befunde, kann lediglich "eine analytische Kraft des Rückerinnerns der Prämissen erkennen, die sich kaum mit einer utopischen Hoffnung im Sinne Blochs vereinbaren läßt".27 Die Spannung, von der Bond sprach, erscheint bei Turk aufgelöst, "die Hoffnung durch die analytische Kraft des Erinnerns ausgestrichen [...], nachdem sich diese nur dank ihrer entfalten konnte".28 Tatsächlich läßt sich eine Einschätzung wie die Robert Havemanns, "die Monate Freiheit von Januar bis August haben genügt, ein lebensfähiges Wesen hervorzubringen, das sich behaupten kann",29 aus den Jahrestagen nicht ableiten. Havemann behauptet, die Hoffnung sei lebendig geblieben; der Roman zeigt, daß es sie gegeben hat. Bewahrt er sie damit auch? Norbert Mecklenburg beantwortet die Frage, indem er dem Erzähler Johnson bescheinigt: "An der Utopie hält er fest, gerade indem er die Tatsachen aufhäuft, die ihr entgegenstehen."30 Mecklenburg sieht die oben benannte Spannung ergänzt durch die zwischen Utopie und Materialismus. Dennoch stelle der "dokumentarische Realismus" die "Grundkonzepte des Historischen Materialismus" nicht grundsätzlich in Frage.31 Diese Kritik wird durch die politische Bedeutung der von Turk dargestellten analytischen Kraft des Erinnerns zumindest relativiert.

"Gesines Hoffnungen waren nur noch einmal an einer scheinbar konkreten Perspektive entzündet worden, um desto nachdrucksvoller enttäuscht zu werden",32 interpretiert Ulrich Fries, räumt dann aber ein: "Und doch will das Moment der Hoffnung nicht aufhören zu existieren, auch wenn dafür kein systematischer Grund mehr angegeben werden kann."33 Der erste Satz läßt sich nur aufrecht erhalten, bezieht man das Wissen des Lesers um den Ausgang des Prager Frühlings mit ein; der zweite Satz versucht, genau davon abzusehen. Diese Konstellation läßt sich als Abbild eines Dilemmas lesen.

Die erzählerische Rekonstruktion an 366 aufeinanderfolgenen Tagen ist in doppelter Hinsicht vollendet: Die kalendarische Form ist komplettiert, Gesine hat ihre Geschichte zu Ende erzählt. Das Einhalten der Kalendergrenze erzeugt gewöhnlich eine offene Form; etwas bleibt unausgesprochen. Das Erzählen von Familiensagas endet gemeinhin mit der Übergabe der Geschichte an die nächste Generation oder - im Falle des Romans - in der Gegenwart; es bleibt nichts, das noch zu sagen wäre. Die Verknüpfung der Familiengeschichte mit der (sicherlich begrenzten) Alltagsgeschichte New Yorks verbindet diese Momente miteinander. Das Verbindungsstück, streng formal betrachtet, sind die drei letzten Tage. Sie stehen nach dem Ende von Gesines Erzählung und vor dem Erreichen der kalendarischen Grenze.

Rückblickend vom Ende der Jahrestage lassen sich zwei Ebenen mit unterschiedlicher interner Chronologie und - damit verbunden - unterschiedlichem Bezug zur Geschichte (history) unterscheiden. Das Verhältnis der Ebenen zueinander wird an den letzten drei Tagen in das Verhältnis beider Ebenen zur Geschichte überführt. Die Spannung, die aus der Verbindung zweier scheinbar entgegengesetzter Erzählstrategien resultiert, wird nicht aufgelöst. Die fragmentarische Form des letzten Tages ist ein Indiz für das Bemühen, sie formal aufrechtzuerhalten.34 Die inhaltliche Entsprechung bildet das schon beschriebene Dilemma.

Es dabei zu belassen, hieße vorschnell ins Abstrakte zu verfallen. Das Ende der Jahrestage ist an ein konkretes Ereignis gebunden. Der Prager Frühling, das läßt sich erst heute, rückblickend von einem deutschen Standpunkt nach 1989 - und auch dann noch mit aller Vorsicht - sagen, ist bei Johnson historisch treffend dargestellt: als der letzte Versuch mit der Sache des Sozialismus.35 Kein "vorerst" in dem Satz: Last and Final.

Die Intervention sowjetischer Truppen war von Anfang an eine Möglichkeit, mit der in Prag gerechnet wurde; je ernsthafter die Bemühungen um eine Veränderung des Sozialismus, desto wahrscheinlicher wurde sie. Auch das ist in den Jahrestagen nachzulesen. Gesine versucht, gegen die Wahrscheinlichkeit zu leben. Und für die Geschichte? - Für eine Hoffnung; das Pathos ist so verhalten wie das Eingeständnis des Irrtums in "und ich dachte zu leben genüge" (JT, 1882). Was wie Verdrängung aussieht, Gesines Beharren auf der Abreise, läßt sich leicht als Handeln wider besseres Wissen lesen. Wäre der Versuch des Prager Frühlings möglich gewesen, ohne die Hoffnung, es würde so weit nicht kommen?

Im letzten Bild wird Kontinuität dargestellt, im Bewußtsein des Todes, im Wissen um Geschichte. Das Bild trägt auch, was in der Handlung bereits realisiert war. Der Satz Cresspahls, diese Feinheit soll nicht unterschlagen werden, wurde an die Mutter überliefert, an die Erzählerin der Familiengeschichte. Marie ist in dieser Szene nicht länger Adressatin einer Erzählung über die Vergangenheit, sondern Zeugin ihrer Überlieferung. Demzufolge wendet sich Kliefoth mit seiner nächsten Bitte direkt an Marie, die nun verantwortlich wird für ihre Mutter, die unterwegs ist zu einer Bank in Prag.

Indem die Geschichte vor der Zerstörung der Hoffnung endet, bewahrt das Erzählen jenes Moment von "noch Hoffnung": und zwar im Bewußtsein ihrer Gefährdung. Mehr war dem Erzählen, und vielleicht der Kunst überhaupt, in diesem Jahrhundert wohl nicht möglich. Diese geringe Hoffnung ist aufgehoben in einem poetischen Moment, in den dreieinhalb Zeilen, die den Roman zurückführen ans Wasser, von wo er seinen Ausgang genommen hat. Und dieser Moment ist nur deshalb erträglich, weil er nicht mehr für eine Hoffnung einsteht, sondern schon gegen ihre Zerstörung gewandt ist. Johnson hält an der Hoffnung fest, so lange es sein Realismus zuläßt.
Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war. (JT, 1891)


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1 Daß es sich hier nicht nur um personelle, sondern auch erzählerische Besonderheiten handelt, bestätigt auch Marie, wenn sie von den sachlichen Beschränkungen des Genossen Schriftsteller berichtet: "Er [der Genosse Schriftstseller] weiss wohl, dass Dr. Kliefoth im November starb, weil er mit 82 Jahren nicht mehr ärztlichen Beistand haben wollte; es kann aber nicht in das Buch getan werden." Johnson, MARIE H: CRESSPAHL (Anm. 7), S. 108.

2 Vgl. Riordan, Colin: The Ethics of Narration. Uwe Johnson's Novels from "Ingrid Babendererde" to "Jahrestage", London 1989, S. 158.

3 Rudolf Gerstenberg nennt die Passage einen "Tagtraum". Vgl. Gerstenberg, Rudolf: Wie Uwe Johnson die Staatssicherheit verfolgte. Eine Absichtserklärung, in: Johnson-Jahrbuch Bd. 1, Göttingen 1994, S. 45-57, hier: S. 50. Es spricht vieles dafür, sie nach Bloch als einen solchen zu interpretieren. "Der Träger der Tagträume ist erfüllt von dem bewußten, bewußt bleibenden, wenn auch verschiedengradigen Willen zum besseren Leben, und der Held der Tagträume ist immer die eigene erwachsene Person." Vgl. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt am Main 1985, S. 96-129, hier: 101. Eine solche Interpretation wird zusätzlich gestützt durch einen gemeinsamen Intertext: In der Passage über Tagträume bezieht sich Bloch auf einen Ausschnitt aus Mörikes Maler Nolten, an dessen Ende die Erwähnung der Insel Orplid steht. Johnson ruft in den Jahrestagen denselben nicht erreichbaren Ort auf, wenn er auf Mörikes Gesang Weylas anspielt: "Das militärische Sperrgebiet, das schwingende Land, es hat geleuchtet aus der Ferne" (JT, 1776).

4 Vgl. dazu Gerstenberg, Wie Uwe Johnson (Anm. 23), S. 50.

5 Und Kliefoth trägt an diesem Tag bereits gleichberechtigt mit vor im Chor derjenigen, die eingangs eigens ausgewiesen werden: "Ich will nichts von den Toten jeden Tag" (JT, 1178).

6 Johnson-Archiv, Jahrestage 4 DF, 103a. Der Satz folgt auf: "Eine Stimme mit einer schartigen Heiserkeit, die bei lockerem Sprechen im Baß orgelt" (JT, 1890).

7 Johnson, Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. 4, Frankfurt am Main 1983, Rezensionsexemplar, S. 1890. Im folgenden zitiert als RE, Seite.

8 RE, 1890. Dann setzen beide Fassungen fort mit: "Dem alten Mann geht der Hosenbund [...]" (JT, 1890).

9 Hinzu kommt, aus gänzlich anderer Perspektive, eine weitere Wirkung des Erzählens: "Marie mußte keine Erbschaft im Sinne der Abgeltung einer Haftung antreten; denn gerade dies hatte Gesine mit ihrem Erzählen für sie getan." Vgl. Turk, Horst: Gewärtigen oder Erinnern? Zum Experiment der den Jahrestage, in: Johnson-Jahrbuch Bd. 2, Göttingen 1995, S. 134-154, hier: S. 152.

10 In den Begleitumständen ist bereits zu lesen, was drei Jahre später noch einmal in Druck gegeben wird: "Der Mann, der sich Mesewinkel nannte oder auch Rohlfs, in einem dienstlichen Auftrag hätte er auftreten können in New York, aber der war an der Majorsecke auf seine Art gescheitert, in Ungnade gefallen seit Februar 1962 [...]" (BU, 407). - Die kontinuierliche und langwierige Arbeit am letzten Tag ist ein Anzeichen für die Bedeutung, die Johnson ihm beimaß.

11 Überhaupt wären die Überlegungen zum Utopiebegriff in den Jahrestagen zu ergänzen durch Analysen der Figurenkonstellation. Und auch eine Deutung der Mutmassungen im Kontext des Gesamtwerks müßte diesem Umstand Rechnung tragen.

12 Das geht über den hier skizzierten Bezug hinaus. Am 17. Dezember trifft unter anderem ein Brief von Kliefoth in New York ein - und Gesine lügt, als sie die Frage beantwortet, ob sie verheiratet sei. (That takes care of that.)

13 Nicht ganz auszuschließen ist, daß hier zusätzlich das Echo eines Satzes vom Ende des ersten Bandes erzeugt wird: über ein Wortspiel. Weil es ein schwaches Echo ist, wurde es nicht in diese Anmerkung aufgenommen.

14 Bernd Neumann schreibt, es handle sich "so schopenhauerisch umwittert wie wortgenau" um ein "Zitat aus einem Buch des Leipziger Indologen Professor Weller". Was das Wortgenaue betrifft, ist die Sache nicht recht überprüfbar. Zum einen enthält sein Zitat aus den Jahrestagen zwei Fehler (die so bei Weller stehen?), zum anderen wird nicht mitgeteilt, um welches Buch es sich handelt. Des weiteren verweist Neumann auf Platons Phaidon, wo den Satz "fast wortgetreu Sokrates spricht". (Hervorhebung d. V.) Vgl. Neumann, Bernd: Uwe Johnson, Hamburg 1994, S. 842. Berdn Auerochs, vorsichtiger und genauer, spricht von einem "Echo eines zentralen Theorems der platonischen Ideenlehre, wie sie Sokrates im Phaidon darlegt". Vgl. Auerochs, Bernd: Erzählte Gesellschaft. Theorie und Praxis des Gesellschaftsromans bei Balzac, Brecht und Uwe Johnson, München 1994, S. 241f. [Inzwischen hat Norbert Mecklenburg die Quelle eindeutig identifiziert, es handelt sich um "Sätze aus einem Brief des Orientalisten Friedrich Weller"; vgl. Mecklenburg, Norbert: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, Frankfurt am Main 1997, S. 329f.]

15 Johnson-Archiv, Jahrestage 4 DF, 103a. In den Rezensionsexemplaren fehlt der Verweis bereits.

16 Schiller, Friedrich: Das verschleierte Bild zu Sais, in: Schillers Werke, Nationalausgabe, Erster Band, hg. von Julius Petersen und Friedrich Beißner, Weimar 1943, S. 254ff., hier: 254f.

17 Ebd., S. 256.

18 Schiller, Friedrich: Die Sendung Moses, in: Schillers Werke, Nationalausgabe, Siebzehnter Band, hg. von Karl-Heinz Hahn, Weimar 1970, S. 377- 397, hier S. 385. Schiller betrachtet die beiden Sätze als Anzeichen für die erhabene, einfache Größe, mit der die Epopten von Gott sprachen. - Im Gedicht erscheint das Moment verändert.

19 Brief Herders an Schiller vom 22. August 1795. Vgl. Schillers Werke, Nationalausgabe, Fünfunddreißigster Band, hg. von Günter Schulz in Verbindung mit Lieselotte Blumenthal, Weimar 1964, S. 298ff., hier: S. 298. "Laßen Sie den armen Jungen [...] vom Anblick der Wahrheit [...] toll oder gar zerschmettert werden; laß ihn blind werden, oder die Wahrheit im Anblick immer coloßalischer sich erheben - wie Sie wollen; nur dies Priesterverbot, und die Schuld, die es wirken soll, - damit habe ich nichts zu schaffen. (Ebd., S. 299.)

20 Johnson-Archiv: Jahrestage 4 (1. Fsg./1), 100.

21 Frisch, Max: Mein Name sei Gantenbein, in: ders., Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Frankfurt am Main 1986, Bd. V, S. 103. Vgl. auch Frisch, Max: Stich-Worte. Ausgesucht von Uwe Johnson, Frankfurt am Main 1985, S. 249.

22 Vgl. Fischer, Sabine: Der Prager Frühling als "Entwurf". Politische Diskurse in Uwe Johnsons "Jahrestagen", in: Carsten Gansel/Bernd Neumann/Nicolai Riedel (Hg.), Internationales Uwe-Johnson-Forum. Beiträge zum Werkverständnis und Materialien zur Rezeptionsgeschichte. Band 3 (1993), Frankfurt am Main 1994, S. 53-104, bes. S. 90f. Vgl. zur Hoffnung, für die Johnny Schlegel einsteht, auch Baker, (Anti-) Utopian Elements (Anm. 19), bes. S. 36f.

23 Zur Darstellung der Vorgeschichte des Scheiterns in den Jahrestagen vgl. Fischer (Anm. 42) und Bond, D. G.: German History and German Identity: Uwe Johnson's "Jahrestage", Amsterdam 1993, bes. S. 47-70. - "1968 wurde das Jahr der großen Hoffnungen und der bitteren Enttäuschungen. In der CSSR wurde bewiesen, daß Sozialismus und Freiheit miteinander vereinbar sind, ja mehr noch, daß ohne Freiheit kein wahrer Sozialismus und ohne Sozialismus keine wahre Freiheit möglich ist." So schreibt Robert Havemann zwei Jahre später. Havemann, Robert: Fragen Antworten Fragen. Aus der Biographie eines deutschen Marxisten, München 1990, S. 213.

24 Bond, German History (Anm. 43), S. 40.

25 Ebd.

26 Fischer, (Anm. 41), S. 59. Fischer spricht durchgehend von einer konkreten Utopie im Sinne Blochs - mit eingrenzendem Verweis auf das Prinzip Hoffnung ("aktiv bewußte Teilnahme am [...] Prozeß revolutionärer Umbildung der Gesellschaft") - und deutet die Hoffnung Prag am Ende als Modell, das dem Versuch eines "richtigen Leben im falschen" entgegenstünde. Der Sinn der Gegenüberstellung entgeht mir. Diese Deutung verwandelt die Spannung zwischen Hoffnung und Desaster in zwei konkurrierende theoretische Konzepte. Der Einwand als Frage formuliert: Schließt nicht Blochs Utopiebegriff die Hoffnung auf ein mögliches richtiges Leben (unter welchen Umständen auch immer) ein und erkennt sie als Vorerscheinung an?

27 Turk, Gewärtigen oder Erinnern? (Anm. 29), S. 134.

28 Ebd.

29 Havemann, Fragen Antworten Fragen (Anm. 43), S. 145.

30 Mecklenburg, Norbert: "Märchen vom unfremden Leben." Uwe Johnson und der Sozialismus, in: Das Argument 34, 1992, S. 219-233, hier: S. 230. Mecklenburgs Befund stützt sich nicht nur auf die Jahrestage.

31 Vgl. ebd. Hier ist sorgfältig zu unterscheiden zwischen der Analyse des politischen Standpunkts eines Autors und der Bestimmung einer (eventuellen) politischen Aussage eines Romans.

32 Fries, "Jahrestage" (Anm. 3), S. 174.

33 Ebd., S. 177.

34 Weiterführende Überlegungen zu einem dementsprechenden Werk- und Realismusbegriff könnten hier ihren Ausgang nehmen.

35 Gesine betrachtet ihr Vorhaben so: "Wenn auch dies nicht gelingt, gäbe ich auf, D.E." (JT, 683). Vgl. dazu Bond, German History (Anm. 43), S. 65-70.
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Letzte Aenderung: 30.09.2000
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