Ophelia und die Wasserleichen:
Die Rimbaud-Rezeption im deutschen Expressionismus
von Barbara Glöckler
Inhaltsverzeichnis:
Der Mythos Rimbaud
Expressionistische Wasserleichenpoesie
Georg Heyms Gedicht "Die Tote im Wasser"
Bibliographie
1. Der "Mythos Rimbaud"
Arthur Rimbauds Leben (1854-1891)
1
Schon sein kurzes aber bewegtes Leben fand in der jungen Dichtergeneration
der Wilhelminischen Ära Bewunderer und Nachahmer. Seine Ausbruchversuche
aus dem bürgerlichen Elternhaus, seine für das jugendliche Alter
herausragende literarische Begabung, seine skandalumwitterten Beziehungen
zu den Pariser Künstlerkreisen und vor allem sein rigoroser Bruch
mit jeder Form literarischer Betätigung 1873, gefolgt von seiner nicht
minder skandalumwitterten Abenteurerexistenz in Nordafrika schürten
den "Mythos Rimbaud". Die Darstellung seiner Biographie in Deutschland
machte den "poéte maudit" zum Vorbild der Expressionisten
im Sinne von Nietzsches "neuem Menschen", der für ein aktives,
erlebnisintensives Dasein in Afrika dem Elfenbeinturm der Kunst und der
bürgerlich geprägten europäischen Zivilisation den Rücken
kehrte.
Die Dichtung Rimbauds
Doch hätte sein Leben kaum diese Beachtung gefunden, hätte
Rimbaud in den zwei Jahren schriftstellerischer Aktivität nicht ein
Oeuvre geschaffen, das für die europäische Dichtung neue
Maßstäbe
verlangte. Sein Frühwerk, so auch die
"Ophélie"
(1870)
2
, sind durchaus dem symbolistischen
Stil der "Parnasse"- Autoren verhaftet. Doch bereits im "Bateau
ivre" (1871), das Rimbauds bekanntestes Gedicht sein dürfte,
realisiert er in noch strenger äußerer Form, was er in den
"lettres
de voyant", den "Seher"-Briefen an seinen Freund und Lehrer
Isambard, vom modernen Schriftsteller auch theoretisch fordert: Völlige
Selbsterfahrung bis hin zur Selbstzerstörung durch extreme sinnliche
Eindrücke und Empfindungen sollen den Autor befähigen, aus den
Abgründen seiner Seele neue, authentische Formen und Inhalte zu
schöpfen,
die auf den Leser wiederum intensiv sinnlich wirken können. In den
"Illuminations" (1872) sowie in "Une saison en enfer"
(1873) sprengt Rimbaud dann auch konsequent die Normen der traditionellen
Poetik.: Seine "poémes en prose" setzen sich über
die Forderung nach Kohärenz der Einzelbilder innerhalb eines Werkes
ebenso hinweg wie über formale Kriterien der Reim- und Gedichtformen.
Dem konventionellen Gegenstand der Dichtung, dem Bedeutsamen
("Wahren")
und Ästhetischen ("Schönen") setzt er ganz im Sinne
Baudelaires die Schockwirkung abstoßender ekelerregender Bilder und
überrealer expressiver Farben bis hin zur Synästhesie entgegen.
Stilistisch führt Rimbaud als erster die absolute Metapher in die
Dichtung ein, die später bei der sog. "hermetischen Lyrik"
zum wesentlichen Verfahren wird.
Die Rezeption Rimbauds in Deutschland
All dies sind formale, stilistische und inhaltliche Neuerungen, an die
die Expressionisten zu ihrer Zeit anknüpfen konnten. 1907 ermöglichte
die erste Übertragung ins Deutsche durch den k.u.k. Dragonerleutnant
Karl Klammer (erschienen unter dem Pseudonym K.L.Ammer) einem breiteren
Publikum die Auseinandersetzung mit Rimbauds Gesamtwerk. Wie verschieden
Rimbaud von der jungen Dichtergeneration im Deutschland der Vorkriegszeit
rezipiert wurde, und wie seine Ansätze verändert und
weitergeführt
wurden, soll im Folgenden am Beispiel seines Gedichtes
"Ophélie"
(deutsch: "Ophelia") aufgezeigt werden. Aufgrund der thematischen
Verwandtschaft werde ich auch häufiger auf "Le bateau ivre"
(deutsch: "Trunkenes Schiff") Bezug nehmen. Das Ophelia-Bild
der Zeit Rimbauds stützte sich in erster Linie auf den Dramentext
Shakespeares und auf Illustration dazu. Es erfreute sich großer
Popularität,
zum einen war es von den Malern des Symbolismus verstärkt aufgegriffen
worden, zum anderen war in breiten Teilen der französischen
Bevölkerung
der Gipsabdruck eines lächelnden Mädchengesichtes (Abbildung)
beliebt, den man angeblich einer unbekannten Toten aus der Seine abgenommen
hatte. Rilke erwähnt die "Inconnue de la Seine" sogar in
seinen "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge".
2. Die Wasserleichenpoesie des Expressionismus
Rimbauds Gedicht "Ophélie", genauer gesagt
Karl
Klammers Übertragung
3
desselben löste
bei den deutschen Expressionisten eine wahre "Schwemme" sogenannter
"Wasserleichenpoesie" aus: Die bedeutendsten Werke aus diesem
Kontext sind von Georg Heym
"Die Tote im Wasser"
(1910)
4
,
"Ophelia"
(1910)
5
und "Tod der Liebenden im Meer"
(in zwei Fassungen), von Gottfried Benn
"Schöne
Jugend" (1912)
6
aus dem Morgue-Zyklus,
von Paul Zech "Wasserleiche", von Armin T. Wegener "Die
Ertrunkenen" (1917), bei Georg Trakl findet man Anlehnungen an das
Motiv in "Wind, weiße Stimme" und in "Westliche
Dämmerung"
(1911). Bertolt Brecht kann sicherlich nicht mehr zu den Expressionisten
gerechnet werden, soll aber an dieser Stelle dennoch Erwähnung finden.
Zum einen, weil bei keinem Autor die "Wasserleiche" so zahlreiche
Bearbeitungen erfahren hat, (genannt seien hier: "Ballade vom
Liebestod",
"Gesang aus dem Aquarium", "Dunkel im Weidengrund"
und die "Legende der Dirne Evlyn Roe" ), zum anderen weil sein
Gedicht "Vom ertrunkenen Mädchen" (1920) das Bild noch einmal
um neue Aspekte bereichert, den Motivkreis damit aber auch abrundet und
schließt. In diesem knapp bemessenen Rahmen möchte ich mich
vor allem auf Georg Heyms "Die Tote im Wasser" konzentrieren,
das früheste und gleichzeitig ein charakteristisches Beispiel der
expressionistischen "Wasserleichenpoesie". Andere Variationen
des "Ophelia"-Stoffes sollen als Vergleich in die Analyse und
Interpretation mit einbezogen werden.
3. Georg Heyms Gedicht "Die Tote im Wasser"
als Beispiel expressionistischer Wasserleichenpoesie
Die Entstehung
Georg Heym greift im August 1910 erstmals wieder auf das Motiv der Wasserleiche
zurück. Daß ihm dabei Rimbauds Gedicht als Vorlage bzw. als
Inspirationsquelle diente, wird bei dem vier Monate später fertiggestellten
Gedicht "Ophelia" nachweisbar, da Übereinstimmungen in der
Darstellungsweise (Ophelia als eine vom Zeitlichen entbundene Figur) und
im Inventar der Szene (Abend, Schilf, Ophelias Brust, Nest, Weide etc.)
andere Quellen weitgehend ausschließen lassen.
Der formale Aufbau
Das siebenstrophige Gedicht weist wie die meisten Gedichte Heyms (und
damit im Gegensatz zu der gängigen Vorstellung von der
"Formzertrümmerung"
im Expressionismus) eine strenge formale Gliederung auf: jeweils vier Verse
aus fünfhebigen Jamben sind gemäß dem umarmenden Reimschema
angeordnet. Die ersten vier Strophen schließen männlich, zur
fünften Strophe hin folgt ein inhaltlich begründbarer Wechsel
der Reimendung. Die Verse der Schlußstrophe enden wieder alle einsilbig.
Die Einzelbilder des Gedichts zeigen einen kohärenten Blickverlauf,
Enjambements verbinden sie auch formal miteinander.
Der Titel
Schon der Titel "Die Tote im Wasser" gibt einen Hinweis, wie
Heym sein Vorbild modifizierte: es ist nicht die Rede von Ophelia, die
bei Rimbaud noch als Person mit individuellem Schicksal gezeigt wird: zwar
ihrer Zeit entrückt ("schon mehr als tausend Jahre sind es, /
daß sie, ein bleich Phantom, die schwarze Flut hinzieht" (Vers
5f.), aber dennoch in ihren lokalen ("Norwegs Gletscher", V.20),
personalen ("ein Prinz", V.27) und damit historischen Kontext
eingebettet. Bei Heym fällt ihr Name nicht, die Tote bleibt auch im
weiteren Verlauf des Gedichts anonym. Über ihr Schicksal, ihre Todesursache
erfährt der Leser nichts genaues, vereinzelte Hinweise lassen bestenfalls
wage Schlüsse zu. Im Gegensatz zu Heyms "Ophelia" wird noch
nicht einmal nach den näheren Umständen gefragt. Diese Tendenz
zur Entindividualisierung der Ophelia-Figur läßt sich in allen
Gedichten dieses Themenkreises nachweisen; am extremsten vielleicht in
Benns "Schöne Jugend", wo in erster Linie die Ratten, die
die Leiche zerfressen, Gegenstand der Darstellung sind, nicht das Opfer.
Der Motivgehalt des Ophelia-Stoffes wird hier allein durch die zwei Begriffe
"Mädchen" und "Schilf" evoziert. Ophelia wurde
zur Wasserleiche.
Verbindungen zu anderen Motivkreisen
Indem die Autoren seit Rimbaud Ophelia aus ihrem literarischen Kontext
der Shakespeare-Tragödie lösten, wurde eine Erweiterung des Bildes
um neue Bedeutungsaspekte möglich, indem es mit anderen Motivkomplexen
verquickt wurde: Zum einen bekommt Ophelia bei Rimbaud die Funktion einer
Muse
7
, in deren aus dem
Wahnsinn geborenen Liedern sich der Dichter mit seinen Visionen selbst
wiedererkennt, und die nur durch die Kunst des Dichters vor dem Vergessen
und somit dem Zerfall bewahrt wird. Zweitens steht die anonyme Wasserleiche
in den Werken der Expressionisten in enger Verbindung mit dem Motiv vom
"gefallenen Mädchen", der Jungfrau, die sich ihrem Geliebten
oder Bräutigam hingibt und daraufhin von diesem verlassen wird, obwohl
sie ein Kind von ihm erwartet. Aus Verzweiflung darüber, sich aus
der sozialen und meist auch religiösen Gemeinschaft ausgestoßen
zu sehen, und / oder aus dem Unvermögen, für sich und das Kind
Sorge zu tragen, sieht sie mit ihrem ungeborenen Kind im Freitod den letzten
Ausweg aus der Misere. Dieser Motivkomplex beinhaltet ein ähnliches
sozialkritisches Potential wie der der Kindsmörderin; vor allem Brecht
greift immer wieder darauf zurück. Als Drittes sei erwähnt, daß
der "Fluß", der bei Shakespeare im Bericht der Königin
über Ophelias Tod in erster Linie eine Kulisse des Geschehens darstellt,
sich bei den Expressionisten zu einem vielschichtigen Bild
erweitert
8
.
Schon bei Rimbaud werden aus dem kurzen Moment, den die ausgebreiteten
Kleider Ophelia noch über Wasser halten, bevor sie untergeht, ein
"mehr als tausend Jahre" (V.5) dauerndes Dahintreiben auf dem
Wasser. Rimbauds Gedicht "Bateau ivre" enthält eine vergleichbare
Bewegung: Ein Schiff, mit dem das lyrische Ich gleichgesetzt ist, vollführt
eine wilde, rauschhafte Fahrt den Fluß hinab ins offene Meer und
sinkt dort, zufrieden ob der vielen Erlebnisse. In vielen
"Wasserleichen"-
Gedichten kommt es zu einer paradoxen Verbindung beider Vorlagen: Die Leiche,
die den Strom herabgeschwemmt wird, erfährt darin quasi eine zweite,
symbolische "Lebensreise", ihre "Erlebnisse" auf dieser
Fahrt werden wiedergegeben. Nicht umsonst wecken diese fließenden
Gewässer zwiespältige Assoziationen: In Anlehnung an den Fluß
Lethe der antiken Mythologie steht der Fluß bzw. das Meer für
das Reich der Toten oder für den Tod selbst. Gleichzeitig erscheint
der Fluß, und mit ihm die ganze umgebende Natur auffallend belebt:
zum Teil nimmt sie in personifizierter Gestalt Anteil an Ophelias Los (Rimbaud,
Heym, Brecht: "Vom ertrunkenen Mädchen"), zum Teil sind
die urwaldähnlichen Ufer von einer Unzahl an Lebewesen bevölkert
(Rimbaud, Heym: "Ophelia", Brecht: "Vom ertrunkenen
Mädchen"),
zum Teil Übernehmen diese Tiere den aktiv handelnden Part im Gedicht,
während die Leiche passiv vorbeigetrieben wird (Rimbaud, Heym: "Die
Tote im Wasser", Benn).
Die Szenerie
Das Herauslösen der Opheliagestalt aus ihrem Kontext ermöglicht
den Autoren einen freien Umgang mit dem Gegenstand. So versetzen beinah
alle Expressionisten ihr Bild vom ertrunkenen Mädchen in die Gegenwart:
Bei Heym und in einigen Gedichten Brechts wird die Großstadt zur
Kulisse des Geschehens, Benn nimmt der Szene durch anatomische Fachtermini
jeden sagenhaften Anstrich. Beim Gedicht "Die Tote im Wasser"
zeigen die ersten zwei Strophen eine Hafenlandschaft am frühen Abend.
Das Inventar, Speicher, Dampfer, Mastkräne erinnern stark an Heyms
Großstadtgedicht
"Berlin I"
9
,
es ist die für ihn bezeichnende negative Darstellungsweise der Stadt
als lebensfeindlichem zerstörerischem Raum, die technischen
Errungenschaften
der Zivilisation stehen für Tod und Untergang. Auch hier ist das Bild
menschenleer, und selbst die Hinweise auf menschliches Leben sind entweder
Abfallprodukte, oder sie wirken "tot" (V.3), "morsch und
im Verfall" (V.4) oder "wie ein verbrannter Wald" (V.2),
ganz im Gegensatz zur Tradition des Ophelia-Bildes, das ja wie schon
erwähnt,
der Toten eine auffällig belebte Umgebung entgegenzustellen pflegte.
In seinem späteren Gedicht "Ophelia" reicht Heym dann den
vitalistischen "Urwald" und den "Moloch" der Städte
aneinander. Die Bedrohlichkeit der Stadt kommt dort explizit zum Ausdruck
im Bild vom "Kran mit Riesenarmen" (V.32), "ein mächtige
Tyrann" (V.33). In der "Toten im Wasser" wird diese
Atmosphäre
subtiler hervorgerufen durch die negative Konnotation der Farbworte
"grau"
(V.1), "Rot" (V.2), "schwarz" (V.3) und
"weiß",
wobei auf letztere an späterer Stelle genauer eingegangen wird, durch
den akustischen Eindruck "Dumpf tönt der Schall" (V.5),
durch Verben wie "stieren" (V.4) oder "reiben" (V.7)
und natürlich durch die Todesmetaphorik.
Die Darstellung der Leiche
Bei dem Blick über das Hafengelände fällt das Auge des
Betrachters, der jedoch nie selbst als lyrisches Ich in Erscheinung tritt,
auf die Abwässer, die "wie eine weiße Haut" (V.7)
im Hafenbecken treiben; ein Kunstgriff Heyms: Zum einen greift dieser Vergleich
vor auf die Leiche im weißen Tanzkleid, zum anderen wird die
Aufmerksamkeit
des Lesers in einem schon beinahe filmischen Verfahren von der Totalen
des Hafens durch eine Verengung des Bildausschnittes wie in einem Zoom
zur "Nahaufnahme" von Details gelenkt. "Staub, Obst, Papier"
(V.9), der Abfall der Stadt wird bezeichnenderweise "ganz" (V.10)
aus der Kanalisation geschwemmt, mit der Reihung "Rauch, Ruß,
Gestank" (V.7) aus "Berlin I" auch metrisch übereinstimmend.
Aus dem Fluß des ursprünglichen Ophelia-Motives wurden
Abwasserröhren,
die ins Hafenbecken münden. Den drei Objekten folgen drei weitere:
"Ein weißes Tanzkleid" (V.11), "Ein nackter Hals"
und "ein Gesicht" (V.12). Auf dieselbe Ebene mit Kot und Müll
gesetzt, tritt die Wasserleiche zunächst stückweise ins Bild,
schon allein dadurch ein Zeichen der Verwesung und des Verfalls. Auch im
weiteren Gedicht erscheint sie mehr in Einzelteilen ("Augen"
V.15 und "dicker Bauch" V.22), seltener als ganze Gestalt. Dies
ist ebenfalls ein Verfahren zur Entindividualisierung, die Benn in
"Schöne
Jugend" durch die anatomische Präzision der Begriffe noch
überspitzt
("Speiseröhre" V.3 und "Zwerchfell" V.4). Erst
in der vierten Strophe kommt die Leiche "ganz" (V.13) ins Blickfeld,
ihr folgt der Betrachter bis zum Ende des Gedichtes.
Die Verwendung der Farbe Weiß
Bei der Beschreibung der Toten nennt Heym viermal das Adjektiv
"weiß",
das schon bei Rimbaud die Farbe Ophelias ist. "Weiß" steht
grundsätzlich für Reinheit, für das Freisein von Sünde
im religiösen Verständnis. Kommt nun hinzu, daß es sich
bei der "weißen" Person um ein Mädchen handelt, erweitert
sich der Symbolgehalt durch das Bild der Jungfrau und Braut, bei einer
Toten dementsprechend um den ganzen Motivbereich des "gefallenen
Mädchens".
Dabei darf nicht vergessen werden, daß Weiß gleichzeitig immer
auch schon die Farbe des Todes, der Totenblässe war. Im Bild der
"weißen
Lilie"(V.2) bei Rimbaud findet diese Doppeldeutigkeit gleich zweifach
Niederschlag. Heym setzt das Weiß zunächst schlicht als die
Farbe des Kleides, das die Tote trägt. Aber gerade das Tanzkleid paßt
lückenlos in das Bild, verweist es doch implizit auf einen Partner
(wie das Brautkleid auch), sowie durch das unverbindliche Amüsement
des Tanzens auf eine flüchtige Liebesbeziehung. Dies kann wohl als
wage Andeutung auf den Grund für ihren Tod gelesen werden. An späterer
Stelle, wenn es heißt "Ihr dicker Bauch entragt / Dem Wasser
groß, zerhöhlt" (V.22f.) festigt sich diese Vermutung,
ihr schwangerer Körper weist sie als "Gefallene" aus. Doch
Heym beläßt es nicht bei dieser beinahe romantisch-geheimnisvollen
Vorstellung, er demontiert sie schon im Vorraus durch die "weiße
Haut" auf der Kloake, durch das "bleiweiß" (V.12)
und den "fetten Glanz" (V.11) zerstört er das Bild vom
schönen,
ästhetischen Tod, wie er in der bildenden Kunst bei der Darstellung
des
Ophelia-Motives
10
gebräuchlich ist. Heym entwickelt das Symbol des Tanzkleides sofort
weiter: im Vergleich in Vers 14 wird es zum Segel, die Leiche zum Schiff
verdinglicht, vermutlich in Anlehnung an Rimbauds "Bateau ivre".
Mit dieser Metamorphose geht eine umfassende Veränderung im Gedicht
einher, die sich auch in einem anderen Reimschluß in den Strophen
fünf und sechs manifestiert.
Komik und Groteskes
Die "toten Augen" (V.15) leiten diese Verwandlung ein. Sie
zeigen auf schockierende Weise, daß gerade nicht wie in vielen anderen
Ophelia-Gedichten (Rimbaud, Heyms "Ophelia") von Schlaf oder
Traum der Titelfigur die Rede sein kann. Dennoch erwecken ihre Augen beim
Betrachter der Szene den Eindruck, als blickte die Tote in den Himmel,
in einen Himmel "voll rosa Wolken" (V.16), eine Metapher für
unbekümmerte Illusionen und irreale Wunschvorstellungen. In diesem
Paradox erscheint das Bild ironisch gebrochen, eine Leiche kann nichts
sehen, selbst wenn der starre Blick so scheinen mag, und wenn sie es
könnte,
sie hätte wahrlich keinen Anlaß dazu, "rosa Wolken"
zu sehen. Die letzten drei Strophen unterscheiden sich grundlegend vom
Anfang des Gedichts: nicht mehr dämonisierende Metaphern für
eine durchaus realistische Szenerie, vielmehr die komisierende Darstellung
einer märchenhaften Welt prägen den Sprachstil. In diesem krassen
Gegensatz wird das Ophelia-Motiv von Heym ironisch distanziert vorgeführt,
erhält es Züge des Grotesken. Benn und Brecht verwenden in ihren
Gedichten ganz ähnliche Verfahren, indem sie zunächst positiv
konnotierte Felder aktivieren, um beim Leser eine bestimmte Lesererwartung
zu evozieren, daraufhin enthüllen sie in schockierenden Bildern das
Markabre der Szene. Schockierend bedeutet in diesem Zusammenhang sowohl
abstoßend, ekelerregend, als auch dem tragischen Gegenstand unangemessen
komisch bzw. banal. Heym parodiert das Ophelia-Motiv im zweiten Teil seines
Gedichts, indem er auf Gegenstände und Bräuche aus der Schiffahrt
anspielt. Die Mannschaft des "Schiffes" setzt sich aus Ratten
zusammen, die mit diesem Gedicht ins feste Inventar der Wasserleichenpoesie
eingegangen sind. In einem heroischen Stapellauf verläßt das
Boot "stolz" (V.19) und "froh" (V.21) mit der
hereinkommenden
Flut den Hafen, die Farbadjektive "rosa"(V.16) und
"lila"(V.17)
geben der Szene eine heitere Atmosphäre. Die Leiche läßt
den Hafen in seiner Bedrohlichkeit und damit den Bereich der Zivilisation
hinter sich, wie auch den der Realität, nicht um ewig ziellos
umherzutreiben
(vgl. Rimbaud, Heyms "Ophelia"), sondern allein um aus dem Schmutz
der Stadt in die Freiheit zu entkommen und wie Rimbauds "Bateau ivre"
unterzugehen. In diese Untergangsfahrt brechen aber immer wieder
abstoßende
Bilder ein und erinnern, daß dies nur eine Illusion ist. Im aufgedunsenen,
zerfressenen Leib, der den Ratten als Nahrungsquelle dient und der hohl
von ihren Bissen "dröhnt" (V.24) klingt etwas vom Schrecken
der Anfangsszenerie mit. (Benn baut diese Anspielung auf die Mutterschaft
der Toten aus und spielt mit dem Bild, das Mädchen ginge mit Ratten
schwanger.) Doch von der Abreise an wird im weiteren Gedicht alles wie
durch die blinden Augen der Toten gesehen, immer jedoch aus ironischer
Distanz. Es scheint dem Wunschtraum der Toten zu entspringen, wenn ein
Abschiedssalut von Neptun (vgl. V.25), der Parodie auf einen Gott der Unterwelt,
ihrem Untergang eine heroische Geste gibt, bevor sie letztendlich in der
Umarmung der "feisten Kraken" ausruhen darf (V.28). Heym stellt
gerade in dieser Romantisierung von Ophelias Ende, in dieser letzten Anspielung
auf ihr unglückliches Liebeserlebnis die grauenhafte Realität
bloß: Ihr Körper wird von den Ratten und den Meerestieren
aufgefressen.
Heym zeigt deutlich, welche im Grunde perverse Vorstellung sich hinter
dem Ophelia-Motiv verbirgt, zeigt, daß dieser Tod nicht geheimnisvoll,
ästhetisch, friedlich oder tragisch ist. Den Euphemismus vom
"schönen
Tod" entzaubert er, indem er die Beschönigung ins Groteske
übertreibt
und eine Anteilnahme beim Leser durch Komik verhindert, ohne dabei den
schockierenden Anblick der Szene aus den Augen zu verlieren.
Heyms Gedicht als Vorbild späterer Wasserleichenpoesie
Man kann davon ausgehen, daß die meisten späteren Ophelia-Gedichte
auf Heym zurückgreifen. Trakl muß hier als Ausnahme genannt
werden: er hat vor allem Rimbauds Texte rezipiert, und etliche beinahe
wörtliche Zitate aus der Klammer-Übersetzung lassen sich als
Versatzstücke in seinem Wortschatz wiederfinden11.
Der "sanfte Wahnsinn" taucht beispielsweise schon in der "Ophélie"
auf. Benn führt die pathologische Seite des Ereignisses in die Wasserleichenpoesie
ein, Brecht betont eher die sozialkritischen Töne oder wendet sich
gegen eine jenseitsorientierte Christlichkeitsethik. Die meisten Bilder,
wie auch die komisierende Darstellungsweise sind in der "Toten im
Wasser" aber bereits angelegt und lassen sich, wie man hier sehen
konnte, oftmals bis zu Rimbauds "Ophélie" zurückverfolgen.
Anmerkungen:
1 Ein Bild
Rimbauds findet man unter: http://inform.umd.edu/Pictures/Sexual_Orientation/PictureGallery/rimbaud.html
2
Die Originaltexte - u. a. "Opélie",
"Le bateau irve"
3
Arthur Rimbaud (1870), deutsche Übersetzung
von Karl Klammer (1907):
OPHELIA
I.
Auf stiller, dunkler Flut, im Widerschein der Sterne,
geschmiegt in ihre Schleier, schwimmt Ophelia bleich,
sehr langsam, einer großen weißen Lilie gleich.
Jagdrufe hört man aus dem Wald verklingen ferne.
Schon mehr als tausend Jahre sind es,
daß sie, ein bleich Phantom, die schwarze Flut hinzieht,
und mehr als tausend Jahre flüstert schon sein Lied
ihr sanfter Wahnsinn in den Hauch des Abendwindes.
Die Lüfte küssen ihre Brüste sacht und bauschen
zu Blüten ihre Schleier, die das Wasser wiegt.
Es weint das Schilf, das sich auf ihre Schulter biegt.
Die Weiden über ihrer hohen Stirne rauschen.
Im Schlummer einer Erle weckt sie hin und wieder
Ein Nest, aus dem ein kleines Flügelflattern schlägt.
Die Wasserrosen seufzen, wenn sie sie bewegt.
Ein Weiheklang fällt von den goldnen Sternen nieder.
II.
Ophelia, bleiche Jungfrau, wie der Schnee so schön,
die du, ein Kind noch, starbst in Wassers tiefem Grunde:
weil dir von rauher Freiheit ihre leise Kunde
die Stürme gaben, die von Norwegs Gletschern wehn.
Weil fremd ein Föhn, der dir die Haare peitschte, kam
Und Wundermär in deinen Träumersinn getragen;
weil in dem Seufzerlaut der Bäume und im Klagen
der Nacht dein Herz die Stimme der Natur vernahm.
Weil wie ein ungeheures Röcheln deinen Sinn,
den süßen Kindersinn, des Meeres Schrei gebrochen;
weil schön und bleich ein Prinz, der nicht ein Wort gesprochen,
im Mai, ein armer Narr, dir saß zu deinen Knien.
Von Liebe träumtest du, von Freiheit, Seligkeit;
du gingst in ihnen auf wie leichter Schnee im Feuer.
Dein Wort erwürgten deiner Träume Ungeheuer.
Dein blaues Auge löschte die Unendlichkeit.
III.
Nun sagt der Dichter, daß im Schoß der Nacht du bleich
die Blumen, die du pflücktest, suchst, in deine Schleier
gehüllt, dahinziehst auf dem dunklen, stillen Weiher,
im Schein der Sterne, einer großen Lilie gleich.
4
Georg Heym (1910)
DIE TOTE IM WASSER
Die Masten ragen an dem grauen Wall
Wie ein verbrannter Wald ins frühe Rot,
So schwarz wie Schlacke. Wo das Wasser tot
Zu Speichern stiert, die morsch und im Verfall.
Dumpf tönt der Schall, da wiederkehrt die Flut,
Den Kai entlang. Der Stadtnacht Spülicht treibt
Wie eine weiße Haut im Strom und reibt
Sich an dem Dampfer, der im Docke ruht.
Staub, Obst, Papier, in einer dicken Schicht,
So treibt der Kot aus seinen Röhren ganz.
Ein weißes Tanzkleid kommt, in fettem Glanz
Ein nackter Hals und bleiweiß ein Gesicht.
Die Leiche wälzt sich ganz heraus. Es bläht
Das Kleid sich wie ein weißes Schiff im Wind.
Die toten Augen starren groß und blind
Zum Himmel, der voll rosa Wolken steht.
Das lila Wasser bebt von kleiner Welle.
- Der Wasserratten Fährte, die bemannen
Das weiße Schiff. Nun treibt es stolz von dannen,
Voll grauer Köpfe und voll schwarzer Felle.
Die Tote segelt froh hinaus, gerissen
Von Wind und Flut. Ihr dicker Bauch entragt
Dem Wasser groß, zerhöhlt und fast zernagt.
Wie eine Grotte dröhnt er von den Bissen.
Sie treibt ins Meer. Ihr salutiert Neptun
Von einem Wrack, da sie das Meer verschlingt,
Darinnen sie zur grünen Tiefe sinkt,
Im Arm der feisten Kraken auszuruhn.
5 Georg
Heym (1910)
OPHELIA
I
Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten,
Und die beringten Hände auf der Flut
Wie Flossen, also treibt sie durch den Schatten
Des großen Urwalds, der im Wasser ruht.
Die letzte Sonne, die im Dunkel irrt,
Versenkt sich tief in ihres Hirnes Schrein.
Warum sie starb? Warum sie so allein
Im Wasser treibt, das Farn und Kraut verwirrt?
Im dichten Röhricht steht der Wind. Er scheucht
Wie ein Hand die Fledermäuse auf.
Mit dunklem Fittich, von dem Wasser feucht
Stehn sie wie Rauch im dunklen Wasserlauf,
Wie Nachtgewölk. Ein langer, weißer Aal
Schlüpft über ihre Brust. Ein Glühwurm scheint
Auf ihrer Stirn. Und eine Weide weint
Das Laub auf sie und ihre stumme Qual.
II
Korn. Saaten. Und des Mittags roter Schweiß.
Der Felder gelbe Winde schlafen still.
Sie kommt, ein Vogel, der entschlafen will.
Der Schwäne Fittich überdacht sie weiß.
Die blauen Lider schatten sanft herab.
Und bei der Sensen blanken Melodien
Träumt sie von eines Kusses Karmoisin
Den ewigen Traum in ihrem ewigen Grab.
Vorbei, vorbei. Wo an das Ufer dröhnt
Der Schall der Städte. Wo durch Dämme zwingt
Der weiße Strom. Der Widerhall erklingt
Mit weitem Echo. Wo herunter tönt
Hall voller Straßen. Glocken und Geläut.
Maschinenkreischen. Kampf. Wo westlich droht
In blinden Scheiben dumpfes Abendrot,
In dem ein Kran mit Riesenarmen dräut,
Mit schwarzer Stirn, ein mächtiger Tyrann,
Ein Moloch, drum die schwarzen Knechte knien.
Last schwerer Brücken, die darüber ziehn
Wie Ketten auf dem Strom, und harter Bann.
Unsichtbar schwimmt sie in der Flut Geleit,
Doch wo sie treibt, jagt weit der Menschenschwarm
Mit großem Fittich auf ein dunkler Harm,
Der schattet über beide Ufer breit.
Vorbei, vorbei. Da sich dem Dunkel weiht
Der westlich hohe Tag des Sommers spät.
Wo in dem Dunkelgrün der Wiesen steht
Des fernen Abends zarte Müdigkeit.
Der Strom trägt weit sie fort, die untertaucht,
Durch manchen Winters trauervollen Port.
Die Zeit hinab. Durch Ewigkeiten fort,
Davon der Horizont wie Feuer raucht.
6 Gedichte Benns im Internet finden Sie
hier!
7 Vgl.:
Würffel, Stefan Bodo: Ophelia. Figur und Entfremdung. Bern 1985, S.14
f.
8 Vgl.:
Rüesch, Jürg Peter: Ophelia. Zum Wandel des lyrischen Bildes
im Motiv der "navigatio vitae" bei Arthur Rimbaud und im deutschen
Expressionismus. Zürich 1964.
9 Zum
Motiv der Großstadt in der Lyrik des Expressionismus, sowie zu Georg
Heyms "Berlin I": (Link zur Seite von Nadja Streeck)
10 Eine
sehr große Auswahl an Ophelia - Darstellungen findet man unter http://www.cc.emory.edu/ENGLISH/classes/Shakespeare_Illustrated/OpheliaGallery1.html
und den darauffolgenden Seiten.
Ophelia-Gemälde aus verschiedenen Epochen: http://un2sg1.unige.ch/www/athena/ophelia/ophelia.html
11 Vgl.:
Grimm, Reinhold: Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud. In: GRM 9 (1959),
S.288-315.
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