I.
Goethe-Gedächtnisrede,
gehalten am 22. März.
Hochgeehrte Versammlung!
Der Genius läßt sich nur dann wahrhaft nachgenießen,
wenn wir mit Anspannung aller unserer geistigen Kräfte versuchen,
seinen Spuren auch bis in die kleinsten Einzelheiten seines Wollens und
Vollbringens ehrfürchtig zu folgen. Nachdem mir heute die Auszeichnung
zuteil
geworden ist, Ihnen, meine Damen und Herren, den Vortrag zum
Gedächtnis unseres großen Meisters halten zu dürfen, glaubte
ich daher dieser hohen Aufgabe nicht besser gerecht werden zu können,
als indem ich Sie in das Verständnis eines solchen Einzelphänomens
Goethescher Dichtkunst einführe, dessen wahrer Wert und weittragende
Bedeutung durch kurzsichtige Bedenken profan-grammatikalische Art bis heute
eine traurige Verschleierung, ja fast eine trübe Negation erfuhren.
Ich meine jene Stelle in dem großen Lebenspoem des Meisters, wo
Gretchen Faustens erster Annäherung entgegnet:
"Bin weder Fräulein, weder schön,
Kann ungeleitet nach
Hause gehn."
Noch heute gibt es, Gott Apollo und den Musen sei es geklagt, allerlei
schwächere Intellekte, die nicht begreifen können, welche tiefen
inneren Notwendigkeiten den Meister hier zwangen, von der grammatikalisch
üblichen Form "weder - noch" in kühner
Überzeugungssicherheit
abzuweichen und dafür die ungewöhnliche, aber
jedes wahrhaft unbefangene Empfinden schon an sich höchst reizvoll
berührende
Form "weder - weder" zu gebrauchen.
Ich will, meine verehrten Damen und Herren, ganz auf den wohlfeilen
Hinweis verzichten, daß der Genius stets seine ureigensten Bahnen
wandelt, und daß es daher gar nicht überraschen könnte,
wenn er ganz grundsätzlich und bei jeder Gelegenheit sich in Widerspruch
mit der gemeinen Normalgrammatik setzen würde. Allein, wie
gesagt, die begeisternde Wahrheit der schrankenlosen Abnormität des
Genius ist ja uns allen so gegenwärtig, daß sie keiner näheren
Beleuchtung bedarf. Vielmehr möchte ich zeigen, daß dieser
allgemeinen
Tatsache, die den Genius nur negativ von uns minderwertigen Sterblichen
unterscheidet, in jenem besonderen Falle der Abweichung auch sehr positive
Rechtfertigungen zur Seite stehen, und zwar in Hülle und Fülle.
Ich maße mir nicht an, diese Fülle der positiven Rechtfertigungen
zu erschöpfen: würden doch meine bescheidenen Kräfte hierfür
ebenso wenig ausreichen als Ihre eigene physische Ausdauer. Aber ich hoffe,
meine verehrten Damen und Herren, daß meine Ausführungen Ihnen
das freudige Bewußtsein von jener unbeirrbar elementaren Treffsicherheit
unseres Meisters geben werden, die sich ausspricht in seinem herrlichen
Wort:
"Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange
Ist sich des rechten
Weges wohl bewußt;"
oder vielleicht noch bezeichnender in der Gedichtstelle "
Das Maultier
sucht im Nebel seinen Weg."
Nach diesen notwendigen Vorbemerkungen trete ich meinem Thema mit der
bewährten Sonde der literarästhetischen Forschung näher
und frage:
Warum ließ Goethe an jener Stelle sein Gretchen "weder -
weder" sagen, und nicht "weder - noch"?
Die Antwort lautet erstens: weil Goethe ein Klassiker war und sich
dementsprechend
auch immer streng-klassisch ausdrücken mußte. Denn was allein
läßt sich als streng-klassische Ausdrucksweise bezeichnen? Offenbar
nur jene Ausdrucksweise, welche der Antike am innigsten angenähert
ist. Wie aber sagte der antike Kulturmensch für "weder - noch"?
Er
sagte als Römer "neque - neque" [...], das heißt: er
wiederholte dasselbe Wort! Es ergab sich
daher für den Klassiker Goethe einfach die immanente Notwendigkeit,
auch seinerseits das gleiche Wort zu wiederholen! Allerdings muß
man dabei annehmen, daß er längere Zeit überlegte, ob er
"noch - noch" oder "weder - weder" schreiben sollte: und
jeder Feinfühlige
wird noch heute die Qualen nachfühlen können, die seine Dichterseele
bei diesem schwierigen Dilemma durchlitt. Zuletzt aber half wieder der
kategorische Imperativ seines streng-klassischen Formbewußtseins.
Denn das Wort "noch" war nur einsilbig, das Wort "weder"
aber zweisilbig,
genau wie das Wort "neque" [...], ferner kam für Goethe mehr
das römische "neque" in Betracht als das griechische [...], weil
er zwar in Rom war, aber nicht in Athen; und da zeigte sich ihm dann zu
seiner frohen Überraschung, daß das Wort "weder" zugleich
in
vokalischem Betracht völlig der klassisch-römischen Vorlage
entsprach, indem wir in "weder" ganz wie in "neque" den
zweifachen E-Laut
beobachten. Somit ist sonnenklar nachgewiesen, daß schon der Drang
des Goethischen Genius, sich möglichst klassisch der Antike
anzuschließen,
geradezu gebieterisch die Form "weder - weder" forderte.
Aber auch noch andere Gründe trieben den Meister zu dieser reizvoll-aparten
Formgebung. Vor allem zweitens: die Notwendigkeit des korrekten und
gefälligen
rhythmischen Versflusses. Man höre nur, wie der fragliche Vers
grammatikalisch
korrekt sich anhören w ürde:
"Bin weder Fräulein noch schön" --
Hätte das nicht entsetzlich abgehackt geklungen? Und anderseits
war es für den Genius völlig ausgeschlossen, Gretchen auf die
Frage Faustens mit einem Satze antworten zu lassen, der auf ihrer Seite
irgendeine geistige Selbständigkeit verraten hätte, indem er
sie zur Versfüllung noch irgendwelche anderen Ausdrücke hätte
gebrauchen lassen als jene, die ihr Faust ohnehin in den Mund legt. Das
hätte einen schreienden Widerspruch bedeutet gegen die süße
Unberührtheit und Einfalt des holden Bürgerkindes! Es gab also
auch in rhythmischer und psychologischer Hinsicht nur die eine Möglichkeit
"weder - weder".
Drittens aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, war diese Form
auch eine schlichte Notwendigkeit im charakteristischen Sinne der momentanen
dramatischen Situation. Der E-Laut hat in unserer geliebten deutschen Sprache
etwas Ablehnendes und Feindseliges an sich, wie schon die Worte
"Ekel",
"Weh", und "Pest" deutlichst bezeugen.
Die dramatische Stimmung der so liebenswerten vorläufigen Sprödigkeit
Gretchens konnte daher gar nicht entsprechender herbeigeführt werden
als wieder durch die Form "weder - weder", die den fast gehässig
ablehnenden E-Laut viermal nachdrücklichst wiederholt. Ich kann mir
hier nicht die Nebenbemerkung versagen, daß auch schon der Name von
Faustens erotischem Objekt für jeden Einsichtsvollen in überraschender
Weise demselben Zwecke dient; denn auch der Eigenname "Gretchen"
enthält
diesen vorläufig zurückweisenden E-Laut zweimal, und zudem
erfreut er durch die weitere Tiefgründigkeit, daß er klanglich
dem Diminutivum von Gräte - ich meine die Fischgräte - ähnelt:
also jenem Knochensurrogat der Wasserbewohner, das den Genußfreudigen
zunächst durch stachlige Feindseligkeit abwehrt; man vergesse dabei
nicht das Backfischalter Gretchens, und man vergleiche in diesem reizvollen
Zusammenhang auch Goethes unsterbliches Gedicht "Heideröslein",
in
dem es bekanntlich heißt:
"Röslein sprach: ich steche dich",
und die mystisch geniale Notwendigkeit auch der Namengebung "Gretchen"
wird Ihnen allen unmittelbar einleuchten.
Viertens aber entsprach die Form "weder - weder" dem dramatischen
Augenblick
auch im mimisch-plastischen Sinne für die Schauspielerin, der die
Darstellung des Gretchen anvertraut ist. Es liegt in der Natur der
schauspielerischen
Wiedergabe jenes Moments der Ablehnung, daß Gretchen ihre Entgegnung,
sie halte sich für kein Fräulein und auch nicht für schön,
mit einem reizend schnippischen Kopfwerfen erst nach links und dann nach
rechts begleitet. Für beide Kopfbewegungen aber muß nach dem
künstlerischen Gesetz der Symmetrie selbstverständlich genau
derselbe Zeitraum zur Verfügung stehen: und dies wiederum ist nur
denkbar, wenn das zweite, den schnippischen Kopfwurf nach rechts einleitende
Wort genau ebenso lang ist wie das erste, das den schnippischen Kopfwurf
nach links einleitet. Auch in der Wahrnehmung der rein schauspielerischen
Interessen hat also hier der Genius instinktiv dem Gesetze der höchsten
Schönheit gehorcht.
Aus der Fülle weiterer künstlerischer Forderungen, die den
erhabenen Meister ganz ebenso zu der Wahl des "weder - weder"
nötigten,
will ich nur noch eines hervorheben: nämlich, daß diese Form
auch im Sinne einer packenden Symbolik des Ewigweiblichen die einzig
entsprechende
war. Wir haben Gretchen bekanntlich als ein Wesen aufzufassen, das a) von
bezaubernder Jugendfrische, b) ausnehmend schön, c) kindlich fromm,
aber d) auch sehr sinnlich veranlagt ist, das ferner e) sich erst sehr
spröde verhält, endlich aber f) sich in ihrer selbstlosen Hingabe
sogar verführen läßt - kurz, meine verehrten Damen und
Herren: wir sehen in Gretchen den idealen Inbegriff der deutschen Jungfrau,
welcher seinerseits wieder der ideale Inbegriff des deutschen Weibes ist.
Was aber lag nun näher, als diese bedeutsame Repräsentation der
echtesten und schönsten Weiblichkeit durch Gretchen auch
lautlich-symbolisch
zum Ausdruck zu bringen? Auch dies wollte der Genius des unsterblichen
Meisters nicht verabsäumen, auch dieser Forderung genügte er
durch die nachdrückliche Wiederholung des
wunderbar-weich-wollüstig-weiblichen
Konsonanten "W" in jenem herrlichen "weder - weder"! Ich
sage daher nicht
zuviel, wenn ich zusammenfassend behaupte, daß die europäische
Dichtkunst, ja wohl die gesamte menschliche Kultur nichts von gleicher
Bedeutsamkeit diesem faustischen "weder - weder" an die Seite zu
stellen
hat: weder bisher, weder in allen kommenden Aeonen!
II.
Schiller-Gedächtnisrede,
gehalten am 9. Mai.
Hochgeehrte Versammlung!
Als ich im März die Auszeichnung hatte, Ihnen Goethes "weder -
weder" in seiner ganzen Bedeutsamkeit und in der Fülle seiner
ästhetischen
Begründungen darzulegen, ahnte ich nicht, daß mir mit fast
beschämender
Einstimmigkeit auch die Rede für den heutigen Gedächtnistag unseres
herrlichen Friedrich Schiller anvertraut werden sollte.
Noch weniger aber ahnte ich, daß sich mir für diesen meinen
zweiten Versuch, einem Großen gerecht zu werden, völlig unverhofft,
ja wie durch höhere Fügung ein Gegenstand bot, der die
Aufeinanderfolge
dieser beiden Vorträge noch in weit höherem Maße rechtfertigen
kann, als es die mich so tief bewegende Wertschätzung meiner
bescheidenen Kräfte an sich vermöchte. Denn dieser Gegenstand
schließt sich nicht nur aufs innigste an das Thema meiner
Ausführungen
am verflossenen Goethe-Gedächtnistage an, er bedeutet auch geradezu
eine notwendige Ergänzung zu dem damals Gesagten, und zwar im Sinne
jener geheimnisvollen inneren Gewißheit, die uns die geliebten
Dichter-Dioskuren
gar nicht anders vorstellen läßt als wie unser heimisches Denkmal
sie zeigt: verschiedenen, ja gegensätzlichen Wesens, aber Schulter
an Schulter in Ebenbürtigkeit vereint! Es war vor fünf Wochen,
am ersten April nachmittags nach 4 Uhr - ich stelle den Zeitpunkt mit
möglichster
Genauigkeit fest, weil ich die Entdeckung, von der sogleich die Rede sein soll,
historisch für mich in Anspruch nehmen muß -, es war
also am 1. April, 4 Uhr 15 Minuten nachmittags, da durchblätterte
ich in Überlegung eines geeigneten Themas für die heutige
Gedächtnisrede
auch den zweiten Akt von Schillers glutvollem Jugenddrama "Don
Carlos".
Und da wurde mein Auge plötzlich auf eine Dialogstelle jenes zehnten
Auftritts zwischen Domingo und Alba gelenkt, die ominöser Weise beginnt:
"DOMINGO
Was wollen Sie mir sagen?
ALBA
Eine wicht'ge
Entdeckung, die ich heut' gemacht.."
als ob der große Dichter hier schon prophetisch auf die Entdeckung
hätte hinweisen wollen, die mich selbst in jener gesegneten Stunde
beglücken sollte! Auf die Frage Albas, wer es auf sich zu nehmen habe,
den König über die erotische Relation zwischen seiner Gemahlin
und dem Infanten aufzuklären, läßt Schiller nämlich
den Domingo erwidern: "Noch Sie, noch ich"--!
Ich sehe, meine Damen und Herren: die Wucht dieser Enthüllung übt
auf Sie zunächst ganz dieselbe fast schreckhaft lähmende Wirkung
aus wie auf mich in jenem geschichtlichen Augenblick. Aber wie es mir geschah,
sobald ich imstande war, mir über die außerordentliche Erscheinung
klarer zu werden, so werden auch Sie, meine verehrten Damen und Herren,
an der Hand meiner Erläuterungen alles erschreckend Befremdliche von
diesem Phänomen abfallen sehen, Sie werden überzeugt werden,
daß es sich nicht etwa um einen Widerspruch gegen die Feststellungen
meiner letzten Goethe-Gedächtnisrede handelt, sondern daß uns
vielmehr in dieser Schillerschen Textstelle und ihrer geheimnisreichen
Beziehung zu dem "weder - weder" Goethes eine unerhörte
Offenbarung
über unser teures Dichterheroenpaar geschenkt ist: und auch Sie werden
sich in freudiger Ergriffenheit sagen, daß etwas, was ich philologische
Vorsehung nennen muß, dieses Gnadengeschenk nur einem Weimarer Forscher
anvertrauen konnte, damit es, wie allein recht und billig, von unserer
geliebten Klassikerstadt aus seine segensreichen Wirkungen verbreite!
Meine
verehrten Damen und Herren! Schon zu jener Zeit, da die beiden
Dichterfürsten
noch auf diesem durch sie geweihten Boden wandelten, Goethe mit dem breiten
Tritt ruhvollen Behagens, Schiller aber in einer Gehweise, die ihn bei
aller Energie des Auftretens immer auch elastisch, gleichsam auf Schwingen
des Ideals halb zu den Sternen emporhob - schon zu jener begnadeten Zeit,
sage ich, litt die Welt unter der bangen Unentschiedenheit des Streites,
welcher von den beiden Dichtern der größere sei. Welch hohe
Bedeutung auch Goethe dieser Frage beimaß, erhellt aus der bekannten
Tatsache, daß er Eckermann gegenüber ausführlich darauf
zu sprechen kam; aus seiner ausweichenden Bemerkung aber, die Nation
möge den Streit nicht weiter verfolgen und sich nur freuen, "zwei
solche Kerle zu besitzen", spricht vernehmbar der quälende Schmerz,
daß das Problem nicht zu lösen sei: und die Folgezeit schien
dieser Resignation auch durchaus recht zu geben. Heute aber, meine Damen
und Herren, wissen wir auf Grund jener parallelen Textstellen, die bei
Goethe wie auch bei Schiller die größte dichterische Kraft in
einem kleinsten und feinsten Punkte gesammelt zeigen, daß keiner
dem andern etwas nachgab!! Schon in meiner Goethe-Gedächtnisrede
habe ich mit gebührendem Nachdruck darauf hingewiesen, wie Gretchens
"weder - weder" den Dichter in jener totalen Unabhängigkeit von
der
profanen Grammatik zeigt, die das sicherste Symptom des überragenden
und beherrschenden Genius ist; nun denn: Domingos "noch - noch" zeigt
auch Schiller im Besitze dieser überragenden und beherrschenden
Genialität,
und zwar, als hätte die Vorsehung uns diese Einsicht ganz besonders
erleichtern wollen, an genau demselben sprachlichen Beispiel! Hinter Goethe
wie hinter Schiller lag hier das Gemeine in wesenlosem Scheine, und zwar
hinter jedem gleich weit! Auch der Verdacht, daß Goethe durch die
Schillersche Textstelle, oder Schiller durch die Goethesche erst zu einem
bezüglichen Wetteifer entflammt worden wäre, auch dieser schon
an sich unwürdige Verdacht läßt sich literarhistorisch
sofort entkräften, findet sich doch das "weder - weder" Goethes
bereits
im Urfaust, den Schiller noch nicht kannte, als er im Jahre 1783 mit fester
Hand sein "noch - noch" in den "Don Carlos" setzte. Nein:
völlig unabhängig
von einander bewährten die beiden Großen an demselben Gegenstand
dieselbe freie Meisterschaft! Aber - und dies führt in die tiefsten
Mysterien des individuellen Schaffens - aber jeder von den beiden Heroen
bewährte sie in seiner besonderen Weise, in der Form, die allein seiner
künstlerischen Persönlichkeit und der ihr vorliegenden dichterischen
Aufgabe entsprach. Wir haben seinerzeit gesehen, aus welchen zwingenden
Gründen Goethe das "weder - weder" auch dem "noch -
noch", das sicher
auch durch seine Seele ging, vorziehen mußte: und heute, meine verehrten
Damen und Herren, werden wir sehen, aus welchen nicht minder zwingenden
Gründen Schiller seinerseits gar nicht anders schreiben konnte als
" noch - noch"!
Da ist denn vor allem hinzuweisen auf Wesen und Richtung der Schillerschen
Produktion im allgemeinen. Während Goethes beschaulich umfassende
Universalität das Dramatische nur mit einschloß als eine dichterische
Ausdrucksform neben vielen anderen, deren er sich bediente, war Schiller,
wie wir ja alle wissen, in erster Instanz Dramatik er. Zu den entscheidendsten
Erfordernissen der dramatischen Kunst zählt aber die möglichste
Knappheit des sprachlichen Ausdrucks. Als sich auch für Schiller in
jenem Augenblicke der Produktion intuitiv die allgemeine Notwendigkeit
ergab, die Fesseln der Vulgärgrammatik zu sprengen, mußte er
daher sofort auch die zweite Notwendigkeit fühlen, den Sprachgebrauch
nach Seite der konzisen Zusammendrängung zu verbessern.
Schon aus diesem Grunde kam für ihn nur mehr das "noch" in
Betracht,
nicht aber das breiter ausladende "weder". Dabei konnte sich ihm nicht
wie Goethe das ernste Bedenken entgegenstellen, mit dem zweisilbigen
"weder"
auch den Wetteifer mit den altklassischen Vorbildern "neque" und [...]
zu verabsäumen; wissen wir doch heute, daß die Klassizität
Schillers im Grunde weit mehr auf dem starken Einflusse der Klassiker des
französischen Dramas, namentlich auf dem Einflusse Racine's beruhte.
Die französische Sprache aber gibt in dem fraglichen grammatikalischen
Falle nur ein ebenso einsilbiges "ni - ni" von sich, das obendrein mit
dem "noch - noch" den Konsonanten "n" gemeinsam hat: so
daß also
Schiller durch sein klassisches Vorbild in der Entscheidung für das
"noch - noch" nur bestärkt werden konnte.
Sieht man aber genauer zu, so geboten Schiller auch noch andere,
künstlerisch-speziellere
Gründe mit aller Entschiedenheit die Wahl des "noch - noch".
Vergegenwärtigen
Sie sich zu diesem Behufe den betreffenden Auftritt des Carlos-Dramas.
Der finstere Alba und der schwarze Domingo stehen beisammen, mächtiges
Unheil brütend. Dieser tiefdüsteren Färbung des Auftritts
mußten auch die Laute der ersten, knappen Worte von Domingos Antwort
auf Albas Frage möglichst entsprechen, und zwar vor allem in ihren
Vokalen. Diese Vokale mußten also möglichst dunkel sein, um
so mehr, als der helle I-Laut in "Sie" und "ich" nicht zu
vermeiden war:
die gleichfalls sehr hellen Vokale des "weder - weder" hätten die
ganze Stimmung der Szene vernichtet, und auch das profan korrekte "weder
Sie, - noch ich" hätte da so gut wie nichts gebessert, weil es gerade
am Beginne der Antwort gleich drei der hellsten Vokale gebracht hätte,
gegen deren Lichtfülle das vereinzelt nachhinkende dunkle "noch"
gar
nicht mehr erfolgreich hätte ankämpfen können. Als einzig
künstlerische Möglichkeit blieb daher unserem Schiller nur mehr
das "noch - noch" übrig, das obendrein den unschätzbaren
Vorteil
bot, Domingos Antwort gleich mit dem tiefdunklen O-Vokal zu beginnen und
hiermit die charakteristisch düstere Wirkung des Auftritts suggestiv
zu erzwingen. Dabei ist auch sehr zu beachten, daß die Vokalfolge
"o - o" in "noch - noch" zugleich der nämlichen
Wiederholung des O-Vokals
in dem dumpf dröhnenden Namen "Domingo" völlig entsprach, so
daß "noch - noch" auch zugleich die Nachtgestalt von Philipps
furchtbarem
Beichtvater sozusagen in einem intensiv tonmalerischen Symbol wiedergibt;
ferner, daß sich in diese Vokalfolge "o-o", die ja rein
klanglich
auch als "oh, oh" gedeutet werden kann, zugleich auch die ganze
ethische
Mißbilligung des Dichters selbst flüchten und suggestiv dem
Publikum sich mitteilen konnte! Aber auch die Konsonanten des "noch -
noch"
waren hier geeignet, der höchsten künstlerischen
Vergegenwärtigung
zu dienen. Der lichtscheue schleichende Mönch, der in feuchtkalt-finsteren
Kloster-, Kapellen- und Grufträumen aufgewachsen ist, konnte sich
sicher keiner intakten Atmungsorgane und Stimmbänder erfreuen, ein
chronischer Rachen- und Kehlkopfkatarrh war bei ihm mit aller Bestimmtheit
anzunehmen, und dieser Rachen- und Kehlkopfkatarrh bedingte eine heiser
keuchende Sprechweise. Wie aber hätte dieses heisere Keuchen Domingos
dem Schauspieler näher gelegt werden können, wie auf
zuverlässigere
Art von ihm erzwungen werden als durch Schillers wundervolles "noch
- noch", das den rauh keuchenden und fauchenden Rachenlaut "ch"
zweimal
kurz hintereinander bringt und durch das dritte "ch" des unmittelbar
darauf
folgenden Wortes "ich" sogar noch gewaltig verstärkt wird? Aber
die
eminente persönlichkeitmalende Kraft des "noch - noch" ist damit
noch nicht erschöpft; auch in seiner vokalisch-konsonantischen Gesamtheit
diente es diesem Zweck, und zwar in bezug auf die allgemeinere
Körperbeschaffenheit
Domingos. Daß der intrigante, von Fanatismus und Streberei verzehrte
Mönch sich einer behäbigen Wohlbeleibtheit erfreut haben könnte,
muß ausgeschlossen erscheinen; man kann sich seine Gestalt nur in
dürrknochiger Hagerkeit vorstellen. Und nun, meine verehrten Damen
und Herren, lassen Sie an Ihre akustische Einbildungskraft noch einmal
die Schallwellen des "noch - noch" schlagen! Deutlich werden Sie jetzt
auch heraushören: "Knochen - Knochen!" Ja, meine Damen und
Herren,
- auch die dürren Knochen Domingos hört man klappern in diesem
unerhört plastischen, malerischen, musikalischen, die Situation
wie die Persönlichkeit erschöpfend schildernden "noch -
noch"!
Was vor allem, hochverehrte Versammlung, macht den großen Dramatiker?
Äußerste Knappheit und Schlagkraft des Ausdrucks, restlos
eindringliche
Zeichnung der vorgeführten Gestalten! Beides bewährte, wie wir
sahen, unser Schiller mit seinem "noch - noch"; immanente
Notwendigkeit
nötigte ihn zu der Neubildung, genau dieselbe immanente Notwendigkeit
des Genius, die Goethe aus ganz anderen Gründen zur Erschaffung des
"weder - weder" zwang! Die Verschiedenheit des künstlerischen
Zwecks
forderte die Verschiedenheit der Form: aber Vollkommenheit, Erfüllung
sämtlicher Gebote der Kunst bewundern wir hier wie dort. Meine verehrten
Damen und Herren! Beseligt durch diese Erkenntnisse lassen Sie uns jetzt
im Geiste noch einmal andachtsvoll vor das gemeinsame Bild der Dioskuren,
vor unser geliebtes heimisches Denkmal treten! Da sehen wir den einen und
einzigen Lorbeerkranz von beiden erfaßt: und wir erkennen in diesem
Lorbeer die ruhmreiche Verwandlung des vulgären "weder - noch" in
eine Form von reinster und freiester künstlerischer Bedeutung. Aber
wir sehen auch, wie Goethes Hand in ihrer ganzen Breite auf dem Kranze
ruht, während Schiller ihn nur mit halber Hand berührt: und es
ist uns, als sähen wir in dieser Differenzierung schon Goethes breites,
vierfüßiges "weder - weder" und Schillers dramatisch
knappes,
zweifüßiges "noch - noch" zum Ausdruck gebracht, wie durch
vorahnende
Eingebung des großen Bildhauers.
Staunende Ehrfurcht läßt uns verstummen; in unseren Herzen
aber klingt der Jubelruf: Weder noch Goethe, noch weder Schiller - nein,
so wohl als auch Schiller, als auch sowohl Goethe ist unser Größter!
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