Goethe Ede Ede Hauptverzeichnis



 
Theorie und Geschichte der Parodie / Teil IV

von Theodor Verweyen





Inhaltsverzeichnis:

I. Einführung und Begründung des Vorlesungsgegenstandes
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
1. „Parodie”: Geschichte der Wortverwendung
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
2. „Kontrafaktur”: Terminologische Erneuerung eines Begriffs der Literaturgeschichte
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
3. Terminologische Entscheidungen zu „Parodie” und „Kontrafaktur”
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
4. Parodie und Urheberrecht
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 1. Die pseudo-homerische „Batrachomyomachia” als Beispiel hellenistischer Epos-Parodie
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 2. Die Parodie im Mittelalter: am Beispiel parodistischer Verarbeitungen in Heinrich Wittenwilers „Der Ring”
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 3. „Die Dunkelmännerbriefe” („Epistolae obscurorum virorum”): ein Beispiel humanistischer Satire und Parodie
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 4. Parodie und Travestie im barocken Roman: Grimmelshausens „Simplicissimus Teutsch”
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie:
1. Friedrich Nicolai: „Eyn feyner kleyner Almanach” - Parodie aus dem Geist der Aufklärung
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie:
2. Die Parodie als Klassik-kritisches Mittel: am Beispiel einer Schiller-Parodie A.W. Schlegels aus der Zeit um 1800
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie:
3. Parodistische Literaturkritik im 19. und 20. Jahrhundert: von Ludwig Eichrodt bis Eckhard Henscheid
Literaturhinweise

Verweis Lenore fuhr ums Morgenrot
Die Parodie-Sammlung der Erlanger Liste.
 
 

2. Die Parodie als Klassik-kritisches Mittel: am Beispiel einer Schiller-Parodie A.W. Schlegels aus der Zeit um 1800

a) Vorbemerkungen

Es war in der Vorlesung wiederholt von „Lachkultur” die Rede; Parodieren und Travestieren hatten darin ihren auf vielfältige Weise changierenden Rang. Es könnte somit die Annahme nahegelegt sein, im folgenden, d. h. auch: aufgrund einer historischen Zäsur wäre entsprechend viel und häufig von „Lachfeindschaft in der Kultur” zu sprechen. Diese Annahme ist nicht abwegig – vor allem wenn man sich etwa der lachfeindlichen „Regel” August Hermann Franckes erinnert; und dennoch ist eine solche Annahme irrig. „Lachfeindschaft” dürfte, wie die Komik- und Humorforschung vermutet und teilweise schon nachgewiesen hat, ein ziemlich konstantes Phänomen der abendländischen Kulturgeschichte sein. Mein Konstanzer Literaturlehrer, Wolfgang Preisendanz, auf dessen bedeutende Arbeiten zu Humor und Komik, Ironie und Witz ich im einzelnen schon gar nicht mehr aufmerksam machen muß, hat eine Geschichte der Lachfeindschaft in Literatur und Kunst von der Antike bis zur Gegenwart gefordert und gegen sich selber die Erwartungen auf eine solche Lachfeindschaftsgeschichte geweckt – ob sie noch zustande kommt, muß ich leider bezweifeln. Gleichviel: Mit meiner Skepsis verringert sich natürlich die Dringlichkeit einer Geschichte der Lachfeindlichkeit keineswegs – das Gegenteil ist der Fall! In ihr wären dann auch die Parodie und ‚verwandte’ Schreibweisen und Verfahren der Komisierung entsprechend zu verorten – Verfahren und Schreibweisen der Komisierung, die W. Preisendanz selber in seinen Humor- und Komikforschungen merkwürdigerweise immer außen vor gelassen hat. Zweifellos hätte in der Geschichte der Lachfeindschaft auch ein Kapitel über ‚Klassik und Komik’, d. h. über ‚die Klassik und ihr Verhältnis zu Lach- bzw. Verlachritualen’ zu stehen. Dabei sind Nuancierungen selbstverständlich zu berücksichtigen und möglicherweise sogar als interessante Momente jener Geschichte auszumachen. Im großen und ganzen aber dürfte Lachfeindlichkeit die Poetik der Klassiker dominieren.

Da ich mit Versen und Strophen der „Aeneis”-Travestie A. Blumauers das vorhergehende Kapitel geschlossen habe, beginne ich jetzt zunächst mit Äußerungen Goethes über die Travestie des österreichischen Aufklärers. Bei Gelegenheit einer Studie zu „Byrons Don Juan” von 1821 versucht Goethe in einem Nachtrag, das „Deutschkomische” im Vergleich mit dem Komischen englischer Poesie zu bestimmen. Er kommt dabei zu dem Schluß, das „Deutschkomische” liege „vorzüglich im Sinn, weniger in der Behandlung”, und führt als Beispiel Blumauers Travestie an:

„Selbst bei Blumauer, dessen Vers- und Reimbildung den komischen Inhalt leicht dahinträgt, ist es eigentlich der schroffe Gegensatz vom Alten und Neuen, Edlen und Gemeinen, Erhabenen und Niederträchtigen, was uns belustigt. Sehen wir weiter umher, so finden wir, daß der Deutsche, um drollig zu sein, einige Jahrhunderte zurückschreitet und nur in Knittelreimen eigentlich naiv und anmuthig zu werden das Glück hat.”1

Diese verhalten positive Einschätzung will – ohne daß ich exhaustiv werden kann – so gar nicht zum wenig früher geäußerten Urteil Goethes über die „Aeneis”-Travestie passen; denn in den „Tag- und Jahres-Heften” von 1820 heißt es über sie:

„In eine frühere Zeit jedoch durch Blumauers Aeneis versetzt, erschrak ich ganz eigentlich, indem ich mir vergegenwärtigen wollte, wie eine so gränzenlose Nüchternheit und Plattheit doch auch einmal dem Tag willkommen und gemäß hatte sein können.”2

Und noch weniger als dieses bereits ziemlich harsch anmutende Urteil scheint sich die gelegentlich schon angeführte Notiz in einem Brief Goethes an seinen Altersfreund C.F. Zelter vom 26. Juni 1824 mit der vergleichsweise positiven Einschätzung von Blumauers Travestie harmonisieren zu lassen; denn er, Goethe, bekennt sich darin ja als „ein Todfeind [...] von allem Parodiren und Travestiren”, „weil dieses garstige Gezücht das Schöne, Edle, Große” herunterziehe, „um es zu vernichten”.3

Schon diese wenigen Äußerungen geben prima vista ein sehr widersprüchliches Bild der Einschätzung parodistischer und travestierender Darstellungen und Darstellungsformen wieder. Ein gemeinsamer Nenner scheint sich auf den ersten Blick somit nicht zu zeigen. Allerdings: Man hat seine Vermutung dann auf eine neue Grundlage zu stellen, wenn man Goethes Aufsatz von 1824 aus den „Schriften zur Literatur” mit heranzieht; der Titel des Aufsatzes lautet „Über die Parodie bei den Alten” – ein Aufsatz, der in unmittelbarer Nachbarschaft zum soeben zitierten Brief an Zelter steht. Goethe entwickelt in ihm mit Blick auf die griechische Literatur – auf die Kunst der „Alten” – die Relation von Sujet und Behandlungsart hinsichtlich ‚Parodie’/’Travestie’. Das womöglich überraschende Ergebnis, für das Aristophanes „die unverwerflichsten Zeugnisse” abgebe, lautet:

indem der Grieche „die niedrigsten Gegenstände und Handlungen durch hohes Kunstvermögen ebenfalls im großen Styl zu behandeln wußte, so brachte er etwas Unbegreifliches und höchst Überraschendes vor”. „Man wird” – so Goethe im selben Zusammenhang fortfahrend – „durch die große Kunst in Erstaunen gesetzt und das Unanständige [bzw. ‚Niedrige’, ‚Sittenlose’, von dem sich ‚der Gebildete mit Abscheu’ wegwende] hört auf es zu seyn, weil es uns auf das gründlichste von der Würde des kunstreichen Dichters überzeugt”.4

Bei diesen Bemerkungen haben wir es also mit einem wichtigen - wenn auch nicht sonderlich elaborierten – Gedanken der Poetik der Weimarer Klassik zu tun: die Behandlungsart nämlich ist es, die über die Kunst- und Poesiewürdigkeit des behandelten Stoffes – komme er woher er wolle – entscheidet! Dieser zentrale Aspekt der klassischen Poetik und Klassizitätspoetik stellt nachdrücklich einerseits rhetorisch bestimmte Vorstellungen vom „aptum” in Frage – dazu wäre nun viel zu sagen; zudem weist jener Aspekt noch unmittelbarer auf Goethes Weggefährten F. Schiller zurück. Dessen poetologische Maxime in ‚klassischer Zeit’ lautet in gedrängter Phrase ja, daß ‚die Form den Stoff zernichte’.

Schiller und Goethe stehen hier in einer dem Klassiker-Denkmal in Weimar vergleichbaren Weise beieinander. Das bezeugt der Aufsatz Schillers von 1802 mit dem Titel „Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst”5eindrucksvoll, zumal er im Umkreis der poetologischen Arbeit „Vom Erhabenen” entstanden sein dürfte. Darin heißt es:

„Es gibt zwar Fälle, wo das Niedrige auch in der Kunst gestattet werden kann; da nämlich, wo es Lachen erregen soll. Auch ein Mensch von feinen Sitten kann zuweilen, ohne einen verderbten Geschmack zu verraten, an dem rohen, aber wahren Ausdruck der Natur und an dem Kontrast zwischen den Sitten der feinen Welt und des Pöbels sich belustigen. Die Betrunkenheit eines Menschen von Stande würde, wo sie auch vorkäme, Mißfallen erregen; aber ein betrunkener Postillion, Matrose und Karrenschieber macht uns lachen. Scherze, die uns an einem Menschen von Erziehung unerträglich sein würden, belustigen uns im Mund des Pöbels. Von dieser Art sind viele Szenen des Aristophanes, die aber zuweilen auch diese Grenze überschreiten und schlechterdings verwerflich sind. Deswegen ergötzen wir uns an Parodien, wo Gesinnungen, Redensarten und Verrichtungen des gemeinen Pöbels denselben vornehmen Personen untergeschoben werden, die der Dichter mit aller Würde und Anstand behandelt hat. Sobald es der Dichter bloß auf ein Lachstück anlegt und weiter nichts will, als uns belustigen, so können wir ihm auch das Niedrige hingehen lassen, nur muß er nie Unwillen oder Ekel erregen. Unwillen erregt er, wenn er das Niedrige da anbringt, wo wir es schlechterdings nicht verzeihen können, bei Menschen nämlich, von denen wir berechtigt sind feinere Sitten zu fordern […].”6

Schillers Aufsatz thematisiert hier – und im weiteren – das Problem der Lachfreiheit in der Kunst. Er thematisiert es in doppelter Richtung: einmal im Hinblick auf die Beziehung des Menschen von feinen Sitten zum dargestellten Niedrigen, sodann im Hinblick auf die Darstellungsrelation des Menschen von feinen Sitten und seiner niedrigen und belustigenden ‚Behandlung’. Interessant ist nun, wie die Lachfreiheit in der Kunst durch Parzellierung eingeschränkt wird, indem sie nur in bestimmten Grenzen und für bestimmte Fälle der ‚Behandlung’ zugelassen ist: Das aber läßt als eigentliches Thema der kunsttheoretischen Überlegungen Schillers über das „Gemeine” und „Niedrige” fast den Gedanken an den Erlaß eines Lachverbots aufkommen. Die begrenzte Zulassung der Lachfreiheit in engsten Grenzen erinnert an zwei Filiationen: einmal an die folgenreiche, als Ständeklausel (miß-)verstandene Unterscheidung in der „Poetik” des Aristoteles, der zufolge nur in der Parodie die komische Nachahmung „schlechterer” Menschen freigestellt war; in der Geschichte der Rezeption wurde aus der poetologischen Kategorie der „schlechteren” (= einfachen) Menschen eine soziale Kategorie der ständischen Unterschichten von den dienenden Ständen bis zu den Vertretern der ambulanten Gewerbe und den noch anrüchigeren Outcasts und Outlaws. Darüber hinaus liegt der begrenzten Zulassung der Lachfreiheit in der Kunst eine Vorstellung zugrunde, die zwar nicht mehr die Ständeklausel-Problematik impliziert, dafür aber einen Dignitätskatalog solcher Themen und Mustertexte (siehe etwa Schillers Plädoyer für Vergils „Aeneis”), solcher Textmuster und Darstellungsarten als Orientierung zu kanonisieren versucht, die der komischen Behandlung entzogen, mit dem – unausgesprochenen – Lachverbot versehen und in diesem Sinne tabuisiert werden.7
Schiller wie Goethe formulieren also Restriktionen, die zu einer weitreichenden Einschränkung der Lachfreiheit in der Kunst führen sollen. Die dabei zugelassenen Gegenstände, Aspekte und Formen des Lachens liegen noch weit unterhalb jenes Niveaus, das von M. Bachtin mit der Kategorie des „reduzierten Lachens” gekennzeichnet worden ist. Und Schillers wie Goethes Restriktionen haben – lachfeindlichkeitsgeschichtlich betrachtet – derart gewirkt, daß Literarhistoriker ebenso wie Literaturkritiker gemeint haben, Werke wie „Die Wahlverwandtschaften” seien nicht parodierbar bzw. Werke wie die „Iphigenie auf Tauris” bewiesen ihre ästhetische Sonderstellung gerade dadurch, daß sie nicht parodiert worden seien. Nun, diese nachgerade topisch verfestigten Ansichten nicht zuletzt in der Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik lassen sich relativ leicht falsifizieren, wenn man die Empirie nur ernst genug nimmt. So kommt Wolfdietrich Rasch das Verdienst zu, in seiner Arbeit über „Goethes ‚Iphigenie auf Tauris’ als Drama der Autonomie” von 1979 eher beiläufig an versteckter Stelle den Hinweis „zu einer parodistischen Version des Iphigenie-Stoffes” gegeben zu haben.8Die komisierende Verarbeitung stammt von dem 1933 ausgebürgerten und am 10. Mai des Machtergreifungsjahres ‚verbrannten’ Autor Werner Hegemann und ist – wenn auch nur in einem Auszug – in der „Walpurga”-Anthologie seit 1924 erstmals wieder zugänglich gemacht. Eine Kostprobe (vgl. Verweyen/Witting, Walpurga, S. 89):

Werner Hegemann

THOAS(lachend)
Da bin ich schon zurück. Dein Bruder schläft, schläft wie ein Säugling mit geballten Fäusten, und schnarcht dazu. Den heilst du gut und schnell. Drum weg die Sorgen! Laß an‘s Fest uns denken, das wir den jungen Fürsten geben müssen.
Laß mich gestehn, ich hab‘ schon vorgegriffen und hab‘ in meines Herzens froher Regung dem Volk die Wundermär bereits verkündet. Das alles ist zu schön! Wer könnt‘ da schweigen?
(mit scherzender Steigerung)
Bedenke, wie das klingt: Da kommen Fürsten aus Griechenland zu unserem Heiligtum in frommer Wallfahrt hergepilgert. O! Du hättest selbst die Wirkung sehen sollen, die solche Nachricht auf dem Markte tat! Wie schmunzelnd sich die würd‘gen Herren Räte die Bärte strichen! Weiter meld‘ ich dann:
Die weisen Könige aus dem Land der Künste bewundern fromm das Götterbild der Taurier! Hört! Hört! Na endlich! tönt‘s von allen Seiten; und als ich gar die wunderbare Heilung verkündete, die heut die Göttin wirkte, da gab‘s dem Jubel keine Grenzen mehr: den Gästen ward ein Ehrenfest beschlossen mit Spiel und Tanz und griechischem Feuer.
(lacht laut auf)
Die Krämer rechnen drauf, daß Fest und Wunderheilung große Pilgerscharen von nah‘ und fern zur Hauptstadt locken werden und haben dreist die Preise schon gesteigert.
IPHIGENIE(lachend zu Pylades)
So wird dein Anschlag auf das Bild belohnt! Du kamst zu stehlen und wirst hoch geehrt.

Diese Parodie auf das sog. Drama der „reinen Menschlichkeit” würde Theodor Wiesengrund Adorno zweifellos zum Erbleichen gebracht haben.

Das darf mit noch bei weitem mehr Recht für eine Goethe-Parodie angenommen werden, die alle ‚klassischen’ Restriktionen in Bezug auf die Geltung der Lachfreiheit in der Kunst aufhebt – eine Goethe-Parodie, die das „Niedrige”, „Unanständige”, „Sittenlose” zum Thema macht, und zwar im Gegenstand ebenso wie in der Behandlungsart der Adaption; mithin eine Parodie, welche die Möglichkeiten der ‚karnevalisierten Literatur’ weitreichend ausschöpft: Es ist die anonym wohl 1971 erschienene Porno-Parodie auf Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften”, also auf jenes Erzählwerk des alternden Autors, das als einzigartig gilt und dessen Rang als „tragischer Liebes- und Eheroman” gerade auch durch die Rezeptionsgeschichte und deren Aufarbeitung durch Jürgen Kolbe eher verfestigt worden ist. Sie, meine Damen und Herren, wollen mir bitte die Lesung der Porno-Parodie erlassen. Sie können sie vor dem Hintergrund meiner Ausführungen ja in der stillen Studierstube nachholen:

Hinweis auf Verweyen/Witting: Walpurga, S. 123-128.

Im übrigen zu meinem Hinweis eine Empfehlung: Sie sollten die Parodie nur auf der Folie des originalen Romans lesen, um die Brillanz der Adaption wirklich ästhetisch wahrnehmen zu können und zugleich auch das Skandalöse oder besser noch Skandalisierende der parodistischen Demontage begreiflich zu finden.

Zwischenzeitlich könnte vielleicht die kritische Anfrage kommen, warum ich dem eigentlichen Hauptgeschäft derart ausführliche Vorbemerkungen vorausgeschickt habe. Eine Antwort liegt in doppelter Richtung auf der Hand: Zum einen hat der der Literatur, Kunst und Kultur der Weimarer Klassik inhärente Dignitätsanspruch zu einem derartigen Rezeptionsprozeß geführt, daß Bertolt Brecht im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit dem „Urfaust” Anfang der 50er Jahre analytisch scharfsinnig von „Einschüchterung durch die Klassizität” hat sprechen können (Schriften zum Theater 3 = Gesammelte Werke, Frankfurt a.M. 1967, Bd. 17, S. 1276):

Diese Einschüchterung kommt zustande durch eine falsche, äußerliche Auffassung von der Klassizität eines Werkes. Die Größe der klassischen Werke besteht in ihrer menschlichen Größe, nicht in einer äußerlichen Größe in Anführungszeichen. Die Tradition der Aufführungen, lange Zeit an den Hoftheatern „gepflegt”, hat sich auf den Theatern des niedergehenden und verkommenden Bürgertums immer mehr von dieser menschlichen Größe entfernt, und die Experimente der Formalisten haben da nur noch nachgeholfen. An Stelle des echten Pathos der großen bürgerlichen Humanisten trat das falsche Pathos der Hohenzollern, an Stelle des Ideals trat die Idealisierung, an Stelle des Schwungs, der eine Beschwingtheit war, das Reißerische, an Stelle der Feierlichkeit das Salbungsvolle und so weiter und so weiter. Es entstand eine falsche Größe, die nur öde war.

Auf den Kontext dieses Abschnitts will ich hier nicht weiter eingehen. Der Abschnitt selber zeigt, daß sich die fortwährende Lachfeindschaft in der Kunst als Resultat der andauernden Rezeption einer bestimmten Klassik-Auffassung denken läßt.

In der „Einschüchterung durch die Klassizität” liegt freilich auch – und damit komme ich zum zweiten Gesichtspunkt – die Chance der ‚Lachkultur’ mit ihren verschiedenen Möglichkeiten und Formen respektloser Bezugnahme, wie es die „parodistische Version des Iphigenie-Stoffes” aus den 20er Jahren oder die „Porno-Parodie” auf die „Wahlverwandtschaften” aus den 70er Jahren belegen. Um es noch einmal mit Bertolt Brecht (Schriften zum Theater 3 = GW 17, S. 1277) zu sagen:

Wenn wir uns einschüchtern lassen durch eine falsche, oberflächliche, dekadente, spießige Auffassung von der Klassizität, werden wir niemals zu lebendigen, menschlichen Darstellungen der großen Werke kommen. Der echte Respekt, den diese Werke verlangen können, fordert es, daß wir den scheinheiligen, lippedienerischen, falschen Respekt entlarven.

Zumindest eine – im übrigen zugleich prinzipielle – Einschränkung ist hier nun doch an Brechts Darlegungen zu machen: „die Einschüchterung durch die Klassizität” ist nämlich nicht allein und ausschließlich erst das Ergebnis einer in der Rezeption entstehenden „gewohnheitsdiktierten Art”, die „klassischen Werke” zu sehen. Die „klassischen Werke” selber können mit dem mit ihnen verbundenen und transportierten Dignitätsanspruch „Einschüchterung” hervorrufen; mehr noch – „Einschüchterung” kann das gezielte Resultat einer literatur- und kulturkritischen Aktivität und Strategie der Weimarer Dioskuren sein, um eine klassische Literaturkultur zu etablieren: Goethes und Schillers „Xenienkrieg” von 1796/97 etwa, geführt mit den späten Aufklärern (z. B. Friedrich Nicolai) ebenso wie mit den „Modernen” (also den Romantikern), ist dafür ein untrügliches Indiz. Somit dürfte klar sein, daß sich die verschiedenen Möglichkeiten und Formen literarischer Respektlosigkeit durchaus auch auf den unmittelbaren Anspruch eines Werkes und Autors selbst und nicht erst auf das rezeptionsvermittelte Erwartungsschema beziehen können. Das folgende Textbeispiel mag das paradigmatisch illustrieren, wobei ich es hier nur kurz behandle und dazu im übrigen auf das entsprechende Kapitel in der systematischen Einführung zur Parodie verweise.9

b) A.W. Schlegels Parodie auf Schillers „Würde der Frauen”

1795 publizierte Friedrich Schiller das Gedicht „Würde der Frauen” in seinem „Musen-Almanach für das Jahr 1796” (in: Sämtliche Werke, hrsg. v. G. Fricke u. H.G. Göpfert, München 41965, Bd. 1, S. 218-220.):

Würde der Frauen

Ehret die Frauen! sie flechten und weben
Himmlische Rosen ins irdische Leben,
Flechten der Liebe beglückendes Band,
Und in der Grazie züchtigem Schleier
Nähren sie wachsam das ewige Feuer
Schöner Gefühle mit heiliger Hand.

Ewig aus der Wahrheit Schranken
Schweift des Mannes wilde Kraft,
Unstet treiben die Gedanken
Auf dem Meer der Leidenschaft.
Gierig greift er in die Ferne,
Nimmer wird sein Herz gestillt,
Rastlos durch entlegne Sterne
Jagt er seines Traumes Bild.

Aber mit zauberisch fesselndem Blicke
Winken die Frauen den Flüchtling zurücke,
Warnend zurück in der Gegenwart Spur.
In der Mutter bescheidener Hütte
Sind sie geblieben mit schamhafter Sitte,
Treue Töchter der frommen Natur.

Feindlich ist des Mannes Streben,
Mit zermalmender Gewalt
Geht der wilde durch das Leben,
Ohne Rast und Aufenthalt.
Was er schuf, zerstört er wieder,
Nimmer ruht der Wünsche Streit,
Nimmer, wie das Haupt der Hyder
Ewig fällt und sich erneut.

Aber, zufrieden mit stillerem Ruhme,
Brechen die Frauen des Augenblicks Blume,
Nähren sie sorgsam mit liebendem Fleiß,
Freier in ihrem gebundenen Wirken,
Reicher als er in des Wissens Bezirken
Und in der Dichtung unendlichem Kreis.

Streng und stolz sich selbst genügend,
Kennt des Mannes kalte Brust,
Herzlich an ein Herz sich schmiegend,
Nicht der Liebe Gönnerlust,
Kennet nicht den Tausch der Seelen,
Nicht in Tränen schmilzt er hin,
Selbst des Lebens Kämpfe stählen
Härter seinen harten Sinn.

Aber, wie leise vom Zephir erschüttert
Schnell die äolische Harfe erzittert,
Also die fühlende Seele der Frau.
Zärtlich geängstigt vom Bilde der Qualen,
Wallet der liebende Busen, es strahlen
Perlend die Augen von himmlischem Tau.

In der Männer Herrschergebiete
Gilt der Stärke trotzig Recht,
Mit dem Schwert beweist der Scythe,
Und der Perser wird zum Knecht.
Es befehden sich im Grimme
Die Begierden wild und roh,
Und der Eris rauhe Stimme
Waltet, wo die Charis floh.

Aber mit sanft überredender Bitte
Führen die Frauen den Szepter der Sitte,
Löschen die Zwietracht, die tobend entglüht,
Lehren die Kräfte, die feindlich sich hassen,
Sich in der lieblichen Form zu umfassen,
Und vereinen, was ewig sich flieht.

Dieses Gedicht gehört zur Gruppe der sog. „Philosophischen Gedichte”; für die Band-Herausgeber ist es ein „didaktisches Gedicht”. Es steht in einem von Schiller oft behandelten Themenkreis: „Die Geschlechter”, „Macht des Weibes”, „Tugend des Weibes”, „Weibliches Urteil”, „Forum des Weibes”, „Das weibliche Ideal” und auch „Lied von der Glocke” – all die verwandten Titel deuten schon ein ähnliches Sujet an. Bestimmte Aspekte dieser Gedichte weisen zudem zurück auf Aufsätze Wilhelm von Humboldts: „Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur” und „Über die männliche und weibliche Form” – Aufsätze, die v. Humboldt für Schillers Zeitschrift „Die Horen” von 1795 verfaßt hat. Grundlegend ist in diesen Aufsätzen so gut wie in den Gedichten Schillers die thematische Relation Frau-Mann, die sich – wie schon die Lesung der „Würde der Frauen” zu Gehör bringen kann – bis in das metrische und versifikatorische Strukturmuster auswirkt; sie bestimmt beispielsweise den alternierenden Wechsel daktylisch und trochäisch geprägter Strophen, nutzt mithin im Sinne einer historischen Semantik vershafter Rede die Möglichkeiten des regelmäßigen Wechsels hüpfend-leichtfüßiger ‚Weiblichkeit’ und stakkatohaft-laufender ‚Männlichkeit’ für die Unterstreichung der thematischen Opposition; das sei mit den ersten beiden Strophen nochmals gezeigt:

Schiller: „Würde der Frauen”, 1. und 2. Strophe!

Selbstverständlich müssen wir bei der Semantisierung formaler Beziehungen in einem literarischen Text Vorsicht walten lassen. In diesem Fall aber bietet sie sich wohl in der angedeuteten Weise an. Freilich ist uns hier die die Semantisierung der versifikatorischen Elemente tragende thematische Opposition wichtiger. Was deren zeitgenössische Einschätzung angeht, dafür ist das spitze Urteil Caroline Schlegels recht charakteristisch.

Caroline Schlegel, die Frau August Wilhelms, von ihrer Schwägerin Dorothea Veit-Schlegel „Madame Lucifer” genannt, hat über jene – von mir aufgezählten – Gedichte Schillers das böse Wort von den „hochfahrenden Poesien”, den „gereimten Metaphysiken und Moralen”, den „versifizierten Humboldeschen Weiblichkeiten” gesprochen. Und hinsichtlich des „Liedes von der Glocke” schrieb sie etwa ihrer Tochter Auguste: „[...] über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen, es ist a la Voss, a la Tiek, a la Teufel, wenigstens um des Teufels zu werden”.

Bei einer solchen Einschätzung – alles andere als das Ergebnis einer „Einschüchterung durch die Klassizität” – kann einem im Hinblick auf August Wilhelm Schlegels Nachahmung von Schillers „Würde der Frauen” nichts Gutes schwanen, zumal wahrscheinlich ist, daß die Adaption nicht ohne die Soufflierkunst Carolines verfaßt wurde. Hatte beispielsweise Caroline doch bald nach dem Brief an ihre Tochter einem Freund der Familie geschrieben: „Die Glocke hat uns an einem schönen Mittag mit Lachen vom Tisch weg fast unter den Tisch gebracht. Die ließe sich herrlich parodiren” – ein Gedankenspiel, das August Wilhelm offenkundig aufgenommen hat, als er sich an die Parodie auf das „Lied von der Glocke” machte. Nimmt man noch ein anderes sprechendes Zeugnis der Rezeption hinzu, wird anschaulich klar, was es ist, das hier der literarischen Kritik Schlegels anheimfallen sollte: Es sind – mit Heinrich Heines Worten aus dem ersten Buch der „Romantischen Schule” (1833) – „jene hochgerühmten hochidealischen Gestalten, jene Altarbilder der Tugend und Sittlichkeit”. Und an anderer Stelle – in den „Reisebildern”, und zwar in der dritten Abteilung der „Nordsee” (1827) – läßt Heine zwei „hannövrische Nobili” über die Streitfrage befinden, „ob Goethe größer sei als Schiller, oder umgekehrt”. Der eine, „ein lang-magerer, quecksilbergefüllter Jüngling, der wie ein Barometer aussah”, pries „die Schillersche Tugend und Reinheit”,

„während der andere, ebenfalls ein langaufgeschossener Jüngling, einige Verse aus der ‚Würde der Frauen’ hinlispelte und dabei so süß lächelte wie ein Esel, der den Kopf in ein Sirupfaß gesteckt hatte und sich wohlgefällig die Schnauze ableckt. Beide Jünglinge verstärkten ihre Behauptungen beständig mit dem beteuernden Refrain: ‚Er ist doch größer, Er ist wirklich größer, wahrhaftig, Er ist größer, ich versichere Sie auf Ehre, Er ist größer’.”10

Angriffsziel der romantischen Kritik sind demnach offenkundig die „Altarbilder der Tugend und Sittlichkeit, die Schiller aufgestellt”, und nicht – wie Heine in der „Romantischen Schule” an zitierter Stelle andeutet – „jene sündhaften, kleinweltlichen, befleckten Wesen, die uns Goethe in seinen Werken erblicken läßt”.

Bevor ich nun endlich den Text der Schlegel-Parodie vorlese, möchte ich noch schnell einen Hinweis auf einen Aufsatz von Benno von Wiese geben, der das Verhältnis von Heine und Schiller behandelt und dabei ein sehr differenziertes Bild zeichnet, differenzierter jedenfalls, als es meine (etwas einseitige) Zitatauswahl nahelegt.11(Übrigens ist die Parodie A.W. Schlegels in vielen Parodie-Anthologien zu finden und auch in unsere Reclam-Sammlung der „Lyrik-Parodien” von 1983, S. 33f. eingegangen):

August Wilhelm Schlegel
Schillers Lob der Frauen.
Parodie.

Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe,
Wollig und warm, zu durchwaten die Sümpfe,
Flicken zerrißene Pantalons aus;
Kochen dem Manne die kräftigen Suppen,
Putzen den Kindern die niedlichen Puppen,
Halten mit mäßigem Wochengeld Haus.

Doch der Mann, der tölpelhafte
Find‘t am Zarten nicht Geschmack.
Zum gegohrnen Gerstensafte
Raucht er immerfort Taback;
Brummt, wie Bären an der Kette,
Knufft die Kinder spat und fruh;
Und dem Weibchen, nachts im Bette,
Kehrt er gleich den Rücken zu. usw.
(nach: Erwin Rotermund, Gegengesänge, 1964, S. 160.)

Wollte man detaillierte Vergleiche zwischen der Vorlage („Würde der Frauen”) und dem Nachfolgetext in rein textstruktureller Hinsicht anstellen, ließe sich rasch eine Fülle von Übereinstimmungen auf den verschiedensten Ebenen nachweisen: von der phonetischen über die metrische und versifikatorische bis hin zur syntaktischen und strophischen, obwohl mittels der Änderungsoperation der Detraktion der Umfang der Vorlage von neun Strophen auf zwei in der Adaption verringert und dabei die Fortsetzungsabbreviatur „u.s.w.” mit meta-ähnlichem Textstatus die Verkürzung in komischer Legitimation gar rechtfertigen soll. Über die Vergleichbarkeiten im Bereich der Sekundärstrukturierung hinaus bleibt selbst die thematische Relation Frau-Mann erhalten, wobei hier nun allerdings mit dem Änderungsverfahren der Substitution den Relaten ‚Frau’ und ‚Mann’ ständig Attribute aus ganz anderen Paradigmen zugeteilt werden – nämlich in gezielter Überzeichnung Attribute aus den Paradigmen banalster Ehealltäglichkeit. Dabei darf Banalisierung, das Herabstimmen der „hochfahrenden Poesien” auf die – mit Peter Rühmkorf gesprochen – Dimension eines Butterbrotes, als Zweck der parodistischen Handlung im Text-Text-Bezug gelten.

Und die Banalisierung zielt zugleich auf mehr. Caroline Schlegels briefliche Bemerkungen zeigen die Gründe und Motive der parodistischen Kritik an. Die genannten Gedichte Schillers ebenso wie die Aufsätze W. v. Humboldts haben ja nicht nur ein gemeinsames Thema, sondern auch eine einheitliche Perspektive. Die hat Friedrich Schlegel in der zweiten Fassung seines Aufsatzes „Über die Diotima” von 1797 – nach H. Eichner ein „Markstein in der Geschichte der Frauenemanzipation” – als Vorurteil angegriffen (vgl. Verweyen/Witting, Die Parodie, 1979, S. 167):

„Was ist häßlicher als die überladne Weiblichkeit, was ist ekelhafter als die übertriebne Männlichkeit, die in unsern Sitten, in unsern Meinungen, ja auch in unsrer bessern Kunst, herrscht?

Und weiter:

„der herrschsüchtige Ungestüm des Mannes, und die selbstlose Hingegebenheit der Weibes, ist (...) übertrieben und häßlich. Nur selbständige Weiblichkeit, nur sanfte Männlichkeit, ist gut und schön”.

Und in den Athenäums-Fragmenten von 1798, bei denen ja eine große Unsicherheit der Zuweisung zu Friedrich und August Wilhelm besteht, heißt es modellhaft zugespitzt:

„Die Frauen werden in der Poesie ebenso ungerecht behandelt wie im Leben. Die weiblichen sind nicht idealisch, und die idealischen sind nicht weiblich”.

Mit diesem etwas längeren Zitat möchte ich das Beispiel der Parodie als ein Klassik-kritisches Mittel abschließen. Zwei Hinweise möchte ich allerdings noch ergänzend hinzufügen: Zum einen ist es der Erwähnung wert, daß A. W. Schlegels Parodie auf Schillers Gedicht „Würde der Frauen” erst im Rahmen der Ausgabe der „Sämmtlichen Werke” von 1846 an die breitere literarische Öffentlichkeit gelangt ist – d. h. man darf hier vermuten, daß die von Brecht so genannte „Einschüchterung durch die Klassizität” auf die Rezeption und Publizität der sie kritisierenden Literatur sehr wohl sich auswirken kann. Hinzu kommt sodann, daß Schiller – in Unkenntnis der Parodien A.W. Schlegels zwar, aber vor dem Hintergrund der Kritiken und Rezensionen der Brüder Schlegel in wichtigen Zeitschriften der sog. ‚Moderne’ – August Wilhelm die Folgen des ‚Zerwürfnisses’ unverblümt mitgeteilt hat (Brief vom 31.5.1797; vgl. Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 165f.):

„Es hat mir Vergnügen gemacht, Ihnen durch Einrückung Ihrer Uebersetzungen aus Dante und Shakespeare in den Horen zu einer Einnahme Gelegenheit zu geben, wie man sie nicht immer haben kann, da ich aber vernehmen muß, daß mich HE. Frid. Schlegel zu der nehmlichen Zeit, wo ich Ihnen diesen Vortheil verschaffe, öffentlich deßwegen schilt, (...) so werden Sie mich für die Zukunft entschuldigen. Und um Sie, einmal für allemal, von einem Verhältniß frei zu machen, das für eine offene Denkungsart und eine zarte Gesinnung nothwendig lästig seyn muß, so lassen Sie mich überhaupt eine Verbindung abbrechen, die unter so bewandten Umständen gar zu sonderbar ist, und mein Vertrauen zu oft schon compromittierte.”

In der hier sichtbar werdenden Liquidierung einer elementaren Lebensgrundlage zeigt sich „Einschüchterung” durch die Klassizisten auch von ihrer pragmatischen Seite. Korrekturen an der Vorstellung von „Klassik” als Kunst des Ausdruckswillens zu ‚edler Einfalt und stiller Größe’ sind auch in solcher Hinsicht angebracht.

c) Ausblick

Ich verspreche, später noch eine rezeptionsgeschichtlich interessante Adaption des Schillerschen Gedichts von der „Würde der Frauen” durch Julius Stettenheim zu skizzieren. Zuvor möchte ich jedoch in der Art von Ausblicken einige Hinweise auf die Klassiker-Parodie unter anderem in der Romantik geben. Erneut stehe ich hierbei vor dem Dilemma, weder eine gediegene Aufarbeitung der primären Textgeschichte (etwa in Form einer Bibliographie oder einer Textsammlung) noch eine solide literarhistorische Forschungslage benennen zu können. Wieder kann ich nur Hinweise geben, nicht einmal Skizzen, geschweige denn eine geschlossene Darstellung.

Einer der Gründe dafür, daß besonders gern Texte Schillers Gegenstand komisch-kritischer Angriffe wurden, dürfte mit Heines Wort über Schillers Neigung, literarische „Altarbilder der Tugend und Sittlichkeit” aufzurichten, angeführt sein. Denn eine in der Ästhetik und Poetik des „Erhabenen” fundierte Dichtungsauffassung und literarische Praxis erweist sich als besonders anfällig für parodistischen Witz und komische Herabsetzung – und zwar in einem solchen Maße, daß Sigmund Freud sogar glaubte, darin die generell zutreffende Funktionsbestimmung von Parodie, Travestie und Karikatur sehen zu können; schreibt er doch in seiner bekannten Abhandlung „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten”:

„Karikatur, Parodie und Travestie, sowie deren praktisches Gegenstück: die Entlarvung, richten sich gegen Personen und Objekte, die Autorität und Respekt beanspruchen, in irgend einem Sinne erhaben sind. Es sind Verfahren zur Herabsetzung, wie der glückliche Ausdruck der deutschen Sprache besagt”.12

Diese Bestimmung ist ebenso trefflich wie einseitig. In unserer systematischen Einführung haben wir die Einseitigkeit erörtert. Die Erörterung erfolgte allerdings nicht in der Absicht, Freuds Überlegungen für gänzlich unangemessen zu erklären – durchaus nicht!13Schillers Äußerungen über „den schmutzigen Witz des Herrn Blumauer” (in der theoretischen Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung”) und sein Verhalten etwa gegenüber August Wilhelm und Friedrich Schlegel bestätigen Freuds Ansicht zur Genüge. Vor diesem zur Vorsicht gemahnenden Hintergrund gebe ich nun noch einige Texthinweise, die allerdings nicht nach dem Motto ‚Schiller-Parodien und kein Ende’ fungieren sollen.

In der „Walpurga”-Anthologie (S. 109-112) ist ein Auszug aus der Literaturkomödie „Gustav Wasa” von Clemens Brentano abgedruckt. Sie wurde in den ersten Tagen des Jahres 1800 im Weimarischen Theater aufgeführt – eine für Schiller schmerzliche Aufführung an einem für ihn so wichtigen Ort; schmerzlich umso mehr, als sich Brentano in der Teiltextparodie auf die im „Musen-Almanach” für 1800 erschienene „Glocke” als Parteigänger der Schlegels in der Auseinandersetzung mit Schiller erweist (vgl. als Vorlage den Teiltext aus „Das Lied von der Glocke” Vers 155ff.).

In der „Walpurga”-Anthologie (S. 101) ist „Das Distichon” von Matthias Claudius abgedruckt – eine Parodie auf die gleichnamige Xenie aus dem Textkorpus zum „Xenienkrieg” Schillers und Goethes, den diese um der Grundlegung einer klassischen Kunst und Kultur willen mit den kulturellen, ästhetischen und literarischen Tendenzen der Zeit führten und dabei über ihre Gegner aus nahezu allen Lagern teilweise mit rüdem Spott herfielen:

M. Claudius
Das Distichon

Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein;
Im Pentameter drauf läßt er ihn wieder heraus.

In die parodistische Klassik-Kritik ist natürlich auch Goethe einbezogen. An Brentanos „mutwillige” Parodie auf die „Thule”-Ballade (vgl. die ersten Stunden der Vorlesung) will ich nur noch beiläufig erinnern, um ohne Umschweife zu Eichendorffs Verarbeitung des „Nachtgesangs” von Goethe überzugehen: sie erschien als parodistische Einlage in dem Jugendroman „Ahnung und Gegenwart” von 1815, der seinerseits ja eine kritische Aufnahme des Vorbildes „Wilhelm Meisters Lehrjahre” ist. Dabei ist für Eichendorff, wie man aus seiner „Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands” zuverlässig erschließen kann, die parodistische Kritik eine der Formen der Auseinandersetzung mit Goethe: dem, wie Eichendorff nicht ohne pejorativen Beigeschmack meint, „eigentlichen Führer der modernen Kultur”. (Den Text der Parodie und der Vorlage finden Sie in Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, 1983, S. 38f. und S. 188f. mit den dazugehörigen Anmerkungen und interpretativen Hinweisen.)

Ein anderes Beispiel unter den vielen Goethe-Parodien hat als Partialparodie Herbert Singer in E.T.A. Hoffmanns Roman „Lebensansichten des Kater Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern” (1819) ausgemacht – und zwar schon 1963, als eine nennenswerte Parodie-Forschung sich im Grunde nur mit dem Namen Erwin Rotermunds verband. Im ersten Teil seiner Analyse legt H. Singer an der „Katerbiographie” überzeugend dar, daß Murr zwar einen „zweiten ‚Wilhelm Meister’” zu schreiben beabsichtigt und von diesem Vorbild „ganz unverkennbar das Aufbauschema seiner Memoiren” bezieht und auch „die Kategorien, unter denen er sein Leben betrachtet”; zudem sind auch die Anspielungen auf die „Lehrjahre der Männlichkeit”, „das Kernstück” von F. Schlegels „Lucinde”, unübersehbar.

H. Singer über: Hoffmann, Kater Murr, in: Benno von Wiese (Hrsg.), Der deutsche Roman, Bd. 1, 1963, S. 304:

Wenn Murrs Plan, einen neuen „Wilhelm Meister” zu schreiben, mißlingt, so nicht einfach deshab, weil er ein Tier ist, sondern wegen seiner Unzulänglichkeit, wegen der Defekte, mit denen ihn sein Erfinder ausgestattet hat. Diese Defekte resultieren nicht daraus, daß dem Kater zur Ausbildung höherer menschlicher Eigenschaften die Voraussetzungen fehlten; Murr repräsentiert vielmehr, wie die Tiere der Äsopischen Fabel, einen menschlichen Typus mit all seinen Vorzügen und Schwächen.

Des Katers gelehrte Ignoranz, sein egozentrischer Hang zur Selbstbespiegelung und Selbstbemitleidung, seine philiströse Beschränktheit und Überheblichkeit, seine bornierte Eitelkeit und seine grenzenlose Selbstüberschätzung leiten ihn naturgemäß auch bei der Abfassung seiner Denkwürdigkeiten, sie bestimmen die Perspektive, unter der er sich und die Welt sieht. Damit aber wird die Perspektive zum Zerrspiegel, und die Lebensansichten werden zur Groteske. Murrs Bildungsroman ist eine unfreiwillige Parodie, ein Anti-Meister. Das heißt aber: Hoffmanns Katerbuch ist eine wohlzubereitete Satire.

Die Katerbiographie beschränkt sich nun nicht darauf, „eine literarische Form zu parodieren”. Hoffmann unternimmt „nichts Geringeres, als das Gesamtphänomen von Kultur und Gesellschaft der glanzvollsten Epoche der deutschen Geistesgeschichte, der Goethezeit, planvoll zu negieren und zu zerstören”: die Begriffswelt der Aufklärung ebenso wie das Begriffsarsenal der Empfindsamkeit und des Geniekults oder die Wertvorstellungen, die der Aufklärung teuer waren: „Erziehung und Bildung, Natur und Vaterland, Weisheit und Menschlichkeit”. Hoffmann geht aber noch einen Schritt weiter und erlaubt seinem Kater, sich als Romantiker zu bezeichnen, so daß vollends in den Gedichteinlagen „Parodien romantischer Poesie” zum Zuge kommen und eine komische Kritik des eigenen Zeitalters, nicht nur einer vergangenen Epoche erlauben. Freilich, darauf weist H. Singer nachdrücklich hin, bilden Kritik und Parodie nur die eine Seite der gesellschaftskritischen Bezugnahme des Fragmentromans, sie sind Teil, nicht das Ganze;14welche Funktion ihnen im Ganzen zukommt, ist hier nicht darzulegen, nur darauf aufmerksam zu machen; aber interessant ist bereits die textinterne Funktion.

Ein letztes Beispiel, mit dem ich nochmals zu dem Thema „Schiller und die Parodie/Travestie” zurückkehre. Das Beispiel betrifft in gleicher Weise die Klassik wie eine ihrer Grundlagen, nämlich die antike Mythologie: Heines Gedicht „Unterwelt”, das wegen seines eigenwilligen Charakters die besondere Aufmerksamkeit Ludwig Marcuses und Benno von Wieses gefunden hat.15Der Text ist 1840, in Heines mittlerer Schaffensperiode, entstanden und zunächst in vier Teile gegliedert, bevor es 1842 noch einen fünften Abschnitt erhielt, der besondere Interpretationsprobleme aufwirft. Dabei ist – auch von B. von Wiese – nicht bestritten, daß „Unterwelt” zu den zahlreichen mythenkritischen Travestien bzw. Parodien im poetischen Werk Heines gehört; um einige Beispiele zu nennen:

Im ersten Zyklus der „Nordsee”-Gedichte (von 1825-1826) gibt es etwa folgende Mythentravestie (in: „Die Nordsee” I/5: E. Elster [Hrsg.], Sämtliche Werke, Bd. 1, Leipzig/Wien, S. 168f.):

Heinrich Heine
Poseidon

Die Sonnenlichter spielten
Über das weithinrollende Meer;
Fern auf der Reede glänzte das Schiff,
Das mich zur Heimat tragen sollte;
Aber es fehlte an gutem Fahrtwind,
Und ich saß noch ruhig auf weißer Düne
Am einsamen Strand,
Und ich las das Lied vom Odysseus,
Das alte, das ewig junge Lied,
Aus dessen meerdurchrauschten Blättern
Mir freudig entgegenstieg
Der Atem der Götter,
Und der leuchtende Menschenfrühling,
Und der blühende Himmel von Hellas.

Mein edles Herz begleitete treulich
Den Sohn des Laertes, in Irrfahrt und Drangsal,
Setzt‘ sich mit ihm, seelenbekümmert,
An gastliche Herde,
Wo Königinnen Purpur spinnen,
Und half ihm lügen und glücklich entrinnen
Aus Riesenhöhlen und Nymphenarmen,
Folgte ihm nach in kimmerische Nacht,
Und in Sturm und Schiffbruch,
Und duldet‘ mit ihm unsägliches Elend.

Seufzend sprach ich: Du blöder Poseidon,
Dein Zorn ist furchtbar,
Und mir selber bangt
Ob der eignen Heimkehr.

Kaum sprach ich die Worte,
Da schäumte das Meer,
Und aus den weißen Wellen stieg
Das schilfbekränzte Haupt des Meergotts,
Und höhnisch rief er:

Fürchte dich nicht, Poetlein!
Ich will nicht im g‘ringsten gefährden
Dein armes Schiffchen,
Und nicht dein liebes Leben beängst‘gen
Mit allzu bedenklichem Schaukeln.
Denn du, Poetlein, hast nie mich erzürnt,
Du hast kein einziges Türmchen verletzt
An Priamos‘ heiliger Feste,
Kein einziges Härchen hast du versengt
Am Aug‘ meines Sohns Polyphemos,
Und dich hat niemals ratend beschützt
Die Göttin der Klugheit, Pallas Athene.

Also rief Poseidon
Und tauchte zurück ins Meer;
Und über den groben Seemannswitz
Lachten unter dem Wasser
Amphitrite, das plumpe Fischweib,
Und die dummen Töchter des Nereus,

B. von Wiese spricht hier nach gelungener Paraphrase von „der gewollten Zersetzung des Mythos in der Travestie, in der die Götter nur allzu menschlich werden”, zumal die komische Kritik des Poseidon-Mythos in der Travestie „Untergang der Sonne” ihre Fortsetzung findet (in: „Die Nordsee” II/4: E. Elster, Bd. 1, S. 183f.).16

In die Sammlung „Neue Gedichte” (von 1844) ist der Kleinzyklus „Schöpfungslieder” eingegangen, der hauptsächlich 1833, teilweise aber auch erst 1844 bzw. 1851 entstanden sein dürfte; Verweyen/Witting haben ihn in die „Walpurga”-Anthologie (S. 29-31) übernommen, und zwar als Beispiel für die Travestie des biblisch-alttestamentlichen Schöpfungsmythos.

Das erste Buch des zum Spätwerk gehörenden „Romanzero” (von 1851) mit dem Titel „Historien” enthält das Gedicht „Der Apollogott” (Elster, Bd. 1, S. 348-352): „Wenn der antike Mythos” – so nun B. von Wiese hierzu – „in die moderne Welt verpflanzt werden sollte, konnte es nur in einer Umwandlung geschehen, die sich auch aller modernen Mittel der Reflexion und der Ironie bedient, ja noch an die Stelle des Hymnus sogar den couplethaften Gassenhauer zu setzen wagt”. Allerdings, so B. v. Wiese auch, sei Heines Lyrik am eindrucksvollsten, „wo sie” – wie in der „Apollogott”-Travestie – „den Mythos zugleich verklärt und travestiert”.17(Auf das hier sich abzeichnende Interpretationsproblem will ich jetzt nicht eingehen.) Mir ist fürs erste nur an dem paradigmatischen Aufweis gelegen, daß in das poetisch-lyrische Werk Heines ein konstanter Zug travestierender und parodierender Formen und Textstrukturen eingezogen ist.

Ein wichtiges Element dieses konstanten Zuges bildet nun das in der mittleren Schaffensperiode entstandene fünfteilige Gedicht „Unterwelt” aus der Abteilung „Romanzen”, von dem ich ausgegangen war.18Den bereits angedeuteten Rückbezug auf den Aspekt ‚Schiller und die Parodie/Travestie’ legt nun dieses Gedicht besonders nahe. Denn in seinem dritten Teil – in der Textmitte – bezieht sich „Unterwelt” auf F. Schillers Gedicht aus dem „Musen-Almanach für 1797” mit dem Titel „Klage der Ceres”; d. h. genau genommen: Im mittleren Gedichtteil Heines werden aus Schillers großer Elegie in der Abteilung der „philosophischen Gedichte” die ersten drei Strophen zitiert und dabei zugleich in einen spezifischen Kotext eingebettet. Diesen drei Strophen Schillers „geht” nämlich, so hat es B. von Wiese paraphrasiert, „eine respektlose Schilderung voraus: eine verrückte Göttin, ohne Haube, ohne Kragen, die schlotterbusig durch das Land läuft und die die ‚euch allen’ wohlbekannten Klagen von Schiller deklamiert” (s. Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, Reclam, 1983, S. 79f.):

Heinrich Heine
Unterwelt (Teil III, Str. 1)

Während solcherlei Beschwerde
In der Unterwelt sich häuft,
Jammert Ceres auf der Erde.
Die verrückte Göttin läuft,
Ohne Haube, ohne Kragen,
Schlotterbusig durch das Land,
Deklamierend jene Klagen,
Die euch allen wohlbekannt:

„Wollte Heine die [folgenden] Schillerschen Verse damit entwerten?” – so fragt B. v. Wiese, um dann die Frage zu verneinen: „[…] das Zitat hat hier keine parodierende Funktion”.19Diese Antwort ist freilich mit Ludwig Marcuse entschieden zu bestreiten. Für ihn verdient nämlich „kein anderes Heine-Gedicht [...] so sehr [...] ‚Parodie’ genannt zu werden”; indem Heine die Strophen Schillers in einen neuen Kontext einbettet, werde nicht nur die mythische Vorstellungswelt entmythologisiert – und zwar in der Form der Travestie –, sondern zugleich, wie L. Marcuse weiter schreibt, „auch das Getragene, in dem oft Sakrales sich ausspricht, dem nur noch eine traditionelle Ehrfurcht entspricht”.20Interessanterweise geht selbst B. von Wiese, der übrigens L. Marcuses Aufsatz nicht diskutiert, davon aus, daß Heine den ‚poetischen’ Anspruch der Schillerschen Elegie ironisiere – und zwar sowohl „durch das vorangestellte, bizarr komische Erscheinungsbild der Göttin” als auch „durch die Herabstimmung dieser Poesie zur bloßen Deklamation”.21Der ins Allzu-Irdische ‚herabgeholte’ Götterhimmel der antik-paganen Mythologie ist Thema der Travestie; die Umbuchung und ‚Herabstimmung’ des elegisch-klassischen Sprechens zur bloßen Deklamation ist Gegenstand der Parodie. Zwei Schreibweisen – Travestie und Parodie – überlagern sich und verstärken wechselseitig ihren funktionskritischen Status. Dessen funktionsgeschichtlicher Sinn aber dürfte vor allem im Zusammenhang mit einer rezeptionsgeschichtlichen Kritik zu suchen sein, die nicht nur den antiken Götterhimmel – mit Hugo Friedrich zu sprechen – als „leere Transzendenz”, sondern auch dessen klassisches Wiederaufleben im schönen Schein der Dichtung – nochmals mit Hugo Friedrich – als „leere Idealität” aufzeigt.22

Solche Auffassung der Funktionen des Parodistischen und Travestierenden im Werk H. Heines erführe eine nachdrückliche Unterstreichung, wenn man – in einem weiteren und weiter ausgreifenden Ausblick – die literarhistorischen und kulturgeschichtlichen Kontexte der Zeit einbezöge. Ich kann das hier nicht leisten und verweise statt dessen beispielsweise auf die feine Textsammlung „Parodien des Wiener Volkstheaters” von Jürgen Hein, die in Reclams Universal-Bibliothek 1986 erschienen ist.23Diese Auswahl gibt – ohne daß ich hier auf den ‚Parodie’-Begriff eingehen möchte, der wohl eher in Richtung auf den der ‚Travestie’ zu erörtern wäre – acht Stücke aus einer über ein Jahrhundert mit großen Bühnenerfolgen belebten Theatertradition zwischen 1750 und 1860 wieder, die J. Hein in einem „Chronologischen Verzeichnis Wiener Parodie” belegt, 24ohne übrigens Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Zudem soll die Auswahl, so Jürgen Hein im Nachwort (S. 398f.), „mit den verschiedenen Beispielen das Spektrum der Gegenstände und Stilrichtungen der Parodien im Wiener Volkstheater zeigen; in ihrer chronologischen Reihenfolge dokumentieren die Beispiele zugleich die Entwicklung dieser beliebten theatralischen Form”:

Neben Philipp Hafners Gattungsparodie Evakathel und Schnudi (1764) steht mit der „mythologischen Karikatur” Orpheus und Euridice (1813) von Karl Meisl eine Stoffparodie. Ferdinand Kringsteiners „lokale Posse” Werthers Leiden (1807) ist weniger Parodie auf Goethes Roman als das durch ihn ausgelöste „Wertherfieber”, also auf eine literarische Mode; sein Othello, der Mohr in Wien (1806) zeigt Formen parodistischer Lokalisierung. Meisls Frau Ahndel (1817) ist die komische Übersetzung Grillparzers und reflektiert parodistisch Formen des Schicksaldramas. In Adolf Bäuerles Kabale und Liebe (1827) liegt die Verbindung zweier auf dem Volkstheater beliebter theatralischer Formen vor: Zauberspiel und Parodie. Lokalisierende Parodie auf Ritterdrama und romantische Stimmung ist Karl Meisls Kathi von Hollabrunn (1831). Johann Nestroy verarbeitet in seinem Tannhäuser (1857) parodistisch Richard Wagners „Zukunftsmusik”. Damit reicht das Spektrum von der Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition über den lokalisierenden literarischen Spaß und die Verbindung theatralischer Formen, über Gattungs- und Stilparodie bis zur Parodie als Mittel literarischer Kritik, und die Parodien vermitteln auf ihre Weise auch einen Einblick in ein Stück Klassiker-Rezeption auf dem Volkstheater.

Nach dieser Revue sei zumindest an einer Stelle noch – erneut mit Jürgen Hein (S. 403) – eine kurze Konkretisierung und Illustration hinzugefügt, wobei wir uns erneut nicht bei der etwas beliebigen Termini-Verwendung J. Heins aufhalten wollen; zu Karl Meisls „Orpheus und Euridice” schreibt er:

Meisls Orpheus-Karikatur, am 20. Februar 1813 im Theater in der Leopoldstadt uraufgeführt, im selben Jahr gedruckt, bezieht sich nicht auf eine bestimmte Vorlage, sondern setzt „nur ganz im allgemeinen die damals noch fast bei jedermann vorhandene Vertrautheit mit der antiken Mythologie voraus” und will „von alteingewurzelter Ehrfurcht lustvoll entlasten”, gleichzeitig ist sie ein satirisches Zeitbild. Meisl wertet bereits mehrfach bearbeitete und parodierte Sagen aus, fügt neue Motive hinzu und entwirft eine Revue der Wiener Sitten und Lebensformen.
Charakteristisch für das Genre der „mythologischen Karikatur” ist die durchgängige Verwienerung der Götterwelt und die anachronistische Verkoppelung mit der Wiener Alltagswelt, in der die Götter als Bierhaus-Harfenisten, Hausfrauen usw. auftreten und an allen modischen Dingen der Neuzeit interessiert sind. Die Götter haben menschliche Schwächen und sind wie die Menschen in Familienzwistigkeiten verstrickt; Zeus ist der stets zu einem Seitensprung bereite, von seiner Frau beherrschte Ehemann, Juno ist putz- und herrschsüchtig, hat ein Verhältnis mit Orpherl usw.

Dem Vorgang der Banalisierung fügt sich auch die „Travestie in einem Akt” von Johann Nepomuk Nestroy, die in die „Walpurga”-Anthologie (S. 145-171) Eingang gefunden hat, zwanglos ein: „Judith und Holofernes” von 1849. Bereits unsere Kurzkommentierung (ebd., S. 171) vermag wohl anzudeuten, daß diese Travestie – von Hans Grellmann die „witzigste und zugleich gefährlichste Parodie” Nestroys genannt25– der Tragödie „Judith” von Friedrich Hebbel ebenso wie der hehren alttestamentlichen Geschichte und Thematik schonungslos zu Leibe rückt,26und zwar nicht zuletzt durch jene Verarbeitungstendenz, die schon 1930 der beste Kenner des „Alt-Wiener Volkstheaters”, Otto Rommel, „Verwienerung des Olymp” genannt hat – sei dieser „Olymp” nun antik-pagan oder antik-christlich.

Und dieser Vorgang könnte leicht eine illustrative Ausweitung erfahren, wenn man nun etwa auch die sog. „Wagner-Parodien” einbeziehen wollte. Dieter Borchmeyer und Stephan Kohler haben eine kleine Sammlung solcher Texte, in der Mehrzahl eher als „Travestien” zu bezeichnen, 1983 in der Reihe „Insel-Taschenbuch” veranstaltet – und zwar mit 5 Beispielen aus dem 19. Jahrhundert,27von denen in die „Walpurga”-Anthologie (S. 195-200) Fritz Mauthners Parodie auf Richard Wagners literarisches Werk aufgenommen ist. Hinzuweisen ist hier zudem auf den sehr informativen Beitrag von Manfred Eger im Richard-Wagner-Handbuch von 1986 mit dem Titel „Richard Wagner in Parodie und Karikatur”, in dem auf weit über 50 Wagner-Travestien, -Parodien und -Possen aufmerksam gemacht wird. Aus dem Beitrag ein signifikantes Zitat:28

Kaum ein anderer Operndichter und -komponist wurde so oft parodiert, kein anderer Künstler so oft karikiert wie Richard Wagner. Es hat aber auch kein anderer derart dazu herausgefordert. Die ungewohnte und unbequeme Neuartigkeit seiner Musik, Form und Anspruch seines musikalischen Mythendramas mit seiner „Spannung zwischen archaischer dramatischer Gebärde und moderner Sensibilität” (Borchmeyer), manche mißverstandene Schlagworte („Zukunftsmusik”), der Sprachgestus seiner Gestalten und besonders der typische Stabreim: all dies reizte Parodisten immer wieder dazu, den kleinen Schritt vom Erhabenen zum Trivialen zu tun. Wagners ausgeprägte Physiognomie, sein Barett, sein demonstratives Selbstbewußtsein, die aufwendige Lebensführung, das Verhältnis zu Cosima v. Bülow, die massiven Geldforderungen an König Ludwig II. oder die antifranzösischen Äußerungen verlockten die Karikaturisten ebenso wie der ungewöhnliche orchestrale Einsatz von Pauken und Blech oder die utopischen Dimensionen seiner Pläne. Bewunderer wie Gegner trugen gleichermaßen zu jener – durch leidenschaftliche Parteinahme noch geförderten – Popularisierung von Person und Werk bei, die Parodie und Karikatur erst verständlich und wirksam machen.

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Ein Resümee kann nun lauten: Mythentravestie und Klassiker-Parodie, wie sie uns bei Heine begegnen, sind alles andere als eine singuläre Erscheinung. Die bei Heine beobachtbare komisch-kritische Auseinandersetzung um den antiken Götterhimmel und seine Wiederkehr ist nur Teil eines seit der Mitte des 18. Jahrhunderts beispielsweise auf den Pariser Vorstadttheatern in Form von über 700 Mythentravestien ausgetragenen Kampfes insgesamt: sowohl für als auch wider die Mythologie – die antike ebenso wie die christliche!

Wenn ich den Ausblick im folgenden noch etwas weiterführe, so geschieht dies in der Absicht, wenigstens zwei mir wichtig erscheinende Aspekte noch thematisieren zu können.

Der erste Aspekt: Parodie und Travestie sind keineswegs nur (komisch inszenierte) Kritik am Alten aus dem Geist des Neuen. Parodien und Travestien sind

„gewiß keine Instrumente des ‘Weltgeistes‘ oder verwandter Institutionen. Wertungen wie „gesellschaftskritisch” oder „durch und durch progressiv” sind hier völlig fehl am Platze. Friedrich Torbergs „Angewandte Lyrik” bleibt natürlich eine Parodie, auch wenn ihr Verfasser nicht eben zu den literarisch und politisch ‘progressiven‘ Autoren gehört; und Peter Rühmkorfs Schiller-Parodie wird nicht dadurch parodistischer, daß sich an ihr auch eine gesellschaftskritische Absicht ablesen läßt. Gegen gewisse Mythen aus dem Geist von 1968 sollte man also an der Trivialität festhalten, daß beide Verfahren, Parodie und Travestie, gegenüber solchen Bestimmungen neutral sind; weder stets innovativ noch progressiv werden sie von Autoren verwendet mit all ihren widerstreitenden Interessen, Motiven und Idiosynkrasien.(vgl. Verweyen/Witting: Walpurga, S. 476)

Diese Beobachtung soll rasch mit drei Beispielen aus der klassisch-romantischen Epoche belegt werden. Zunächst mit dem Text von (vgl. Verweyen/Witting: Walpurga, S. 113-115):

Johann Heinrich Voß
Bußlied eines Romantikers

Alles, was mit Qual und Zoren
Wir gedudelt, geht verloren;
Hat‘s auch kein Prophet beschworen.

Welch ein Graun wird sein und Zagen,
Prüft der Richter ernst mit Fragen
Kleine so wie große Klagen!

Hinposaunt mit Schreckentone,
Gehen wir zum Richterthrone,
Wer mit Geist gereimt, und ohne.

Auch mich Armen wird man sehen
Mit den Sündern auferstehen,
Zur Verantwortung zu gehen.

Manches Büchlein wird entfalten,
Wie wir, feind den hohen Alten,
Hier modern=romantisch lallten.

Ohn‘ Erbarmen wird gerichtet,
Was wir, gleich als wär‘s gedichtet,
Firlefanzisch aufgeschichtet.

Ach, was werd‘ ich Armer sagen,
Wann der Kunst Geweihte klagen,
Und wir Süd=Kunstmacher zagen?

Gnade, ruf‘ ich, Herr, mir Knaben!
Frei ja gabst du deine Gaben;
Konntest du mich auch nicht laben?

Thatst du (woll‘ es, Herr, erwägen!)
Je ein Wunder meinetwegen,
Mein Gemüt mit Kraft zu pflegen?

Trotz dem Angstschweiß meines Strebens,
Nachzuäffen Geist des Lebens;
Alle Mühe war vergebens!

Richter der gerechten Rache,
Nachsicht üb‘ in meiner Sache,
Wenn ich, wie ich kann, es mache.

Scham und Reue muß ich dulden;
Tief erröt‘ ich ob den Schulden,
Wie ein Kreuzer unter Gulden.

Hab‘ ich reimend mich verschrieen,
Du, der Schächern selbst verziehen,
Laß es gehn für Melodieen!

Achte nicht mein Schrei‘n so teuer,
Daß ich darum, o du Treuer,
Brennen sollt‘ in ewgem Feuer.

Zu den Schafen laß mich kommen,
Von den stößigen, nicht frommen,
Bundesböcken ausgenommen.

Wird auch Feuer ohne Schonung
Meinen Reimen zur Belohnung,
Nimm doch mich in deine Wohnung.

Herz, zerknirscht im tiefsten Grunde,
Ruf‘ Ade dem Schwärmerbunde,
Daß ich zu Vernunft gesunde!

Wer gesündigt hat mit Zoren,
Muß dort ewig, ewig schmoren.
Aber mich, trotz meinen Schulden,
Nimm ins Paradies mit Hulden.
Gieb mir Armen ewge Ruh,
Sei es auch – mit Kotzebu!

Voß’ Parodie auf A.W. Schlegels Übersetzung der lateinischen Hymne „Dies irae”, in der katholischen Kirche in langer Tradition Bestandteil der Totenmesse, entstand 1801 und erschien 1808 im „Morgenblatt für gebildete Stände”: die Parodie von Voß ist also ein Angriff aus dem Geist der Aufklärung auf den Geist der sog. ‚Modernen’, hier Strophe 1 bis 5 aus der Übersetzung Schlegels (vgl. Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, 1983, S. 288-290):

August Wilhelm Schlegel
Vom jüngsten Gericht

Jenen Tag, den Tag des Zoren,
Geht die Welt in Brand verloren,
Wie Propheten hoch beschworen.

Welch ein Grau‘n wird sein und Zagen,
Wenn der Richter kommt, mit Fragen
Streng zu prüfen alle Klagen.

Die Posaun‘ im Wundertone,
Wo auch wer im Grabe wohne,
Rufet alle her zum Throne.

Tod, Natur mit Staunen sehen
Dann die Kreatur erstehen,
Zur Verantwortung zu gehen.

Und ein Buch soll sich entfalten,
So das Ganze wird enthalten,
Ob der Welt Gericht zu halten.

Zu Anlaß und Zielsetzung der Parodie hat sich Voß öffentlich geäußert – und zwar unter dem Titel „Für die Romantiker” im „Morgenblatt für die gebildeten Stände” (vgl. Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, 1983, S. 290f.):

„Die folgende Parodie eines verdeutschten Mönchsliedes, welches nicht durch Poesie, sondern wie die meisten der Art, durch frommen Inhalt, berühmte Musik und feierliche Aufführung Ansehen gewann, ist die Frucht einer heitern Stunde, worin der Verfasser vor sieben Jahren die neu erschienene Verdeutschung mit unwillkürlichen Veränderungen vorlas. Es war die Zeit, da ein Schwarm junger Kräftlinge, wozu ein paar Männer sich herabließen, nicht nur unsere edelsten Dichter, jene tapfern Anbauer und Verherrlicher des deutschen Geistes, sondern sogar die großen, seit Jahrtausenden bewunderten Klassiker, mit Verkleinerung und Hohn zu behandeln, sich unterfing, und jeden, wer Gnade wünschte, öffentlich zur Teilnahme des Bundes einlud.”

„Jetzt, da das seltsame Bundesfieber noch ansteckender um sich greift, und mitunter einen feinsinnigen Jüngling in den Tanz fortrafft, haben es bedachtsame Freunde für zuträglich erklärt, daß man den Befallenen dies wenigstens unschädliche Heilmittel nicht vorenthalte, ihnen, die mit inniger Religion und Andacht ihre Sprünge zu machen vorgaben, empfehle sich diese Gabe des Morgenblattes zur nüchternen Morgenandacht.”

Soweit und etwas ausführlicher zu Voß’ Parodie! Nur hinweisen möchte ich noch auf die beiden anderen Beispiele: zum einen auf den Text von Jens Immanuel Baggesen „Aufgabe der Endreime zu einem vierfachen Sonett” (in Verweyen/Witting: „Walpurga”, 1989, S. 116) – eine Parodie, wie die Kurzkommentierung anmerkt, auf das Sonett als eine der beliebten Gedichtformen der Romantik; dabei trat Baggesen im sog. „Sonettenkrieg” um und nach 1800 als Parteigänger von Johann Heinrich Voß auf und griff zugleich die Rückwendung der ‚Modernen’ zu alten, in seinen Augen erstarrten Formen der Lyrik an. Brentano, selber nicht gerade ein Anhänger ‚zahmer Kritik’, reagierte ziemlich erbost auf die 1809 erschienene Sammlung von Sonett-Parodien, der Baggesen den sprechenden Titel gegeben hatte: „Der Karfunkel oder Klingelklingel-Almanach. Ein Taschenbuch für vollendete Romantiker und angehende Mystiker”. – Der zweite Text, auf den ich noch hinweisen möchte, ist in „Walpurga” S. 104-108 abgedruckt und stammt aus einer Parodie, die im Herbst 1799 in Leipzig zur Aufführung kam – aus einer Parodie von August von Kotzebue, dem 1819 von K. L. Sand ermordeten Erfolgsautor der Goethe-Zeit. Unsere Kurzkommentierung („Walpurga”, S. 108) vermag schon deutlich zu machen, warum diese Parodie, deren Konstitution wesentlich auf dem Cento-Verfahren beruht, eine Kritik am Neuen aus dem Geist des Alten darstellt.

Der zweite Aspekt: Mit unserer Bestimmung der parodistischen Schreibweise als eines spezifischen Verfahrens der kritischen Textverarbeitung könnte die irrige Annahme nahegelegt werden, die Rezeption von Parodien verlaufe – ausschließlich – in der Richtung ihrer kritisch-destruktiven Funktion. Im Gegensatz zu einer derart statischen Annahme der parodistischen Funktion ist unseres Erachtens vielmehr unumgänglich, sie im Rahmen eines umfassenden Kommunikationsvorganges zu sehen, der den nachträglichen Rezeptionsprozeß mit einbezieht, die Korrektur nach beiden Seiten zuläßt und demnach auch die Korrektur zugunsten der Vorlage und gegen die destruktive Tendenz einräumt: daß also, salopp gesprochen, das Opfer über den Täter siegen könnte. Parodistische Destruktion ist, im Rahmen der umfassenden literarischen Kommunikation, also nicht unbedingt das Endresultat des Parodierens.

Hierin ist einer der Gründe zu sehen für einen Vorgang, der im ganzen 19. Jahrhundert und auch noch weithin im 20. Jahrhundert zu beobachten ist: die nicht endende Klassiker- und besonders auch Schiller-Adaption in Form von Nachdichtungen, Kontrafakturen und Variationen wie eben zugleich auch in Form von Parodien, Travestien und herabstimmenden Centonen! Das dokumentieren beispielsweise den Weimarer Dioskuren gemeinsam gewidmete Sammlungen wie die von Edwin Bormann (1851-1912) mit dem Titel: „Wenn Geedhe un Schiller gemietlich sin. Ä klassischer Lorbeerkranz dargebracht von ännen alden Leib’ger” (Leipzig 1839) oder auch nur auf einen der beiden Autoren zugeschnittene Anthologien wie etwa von Eginhardt als Pseudonym für Othello von Plaenckner (1797-1848), der 1827 und 1831 je „Zwölf Parodien Schillerscher Gedichte” publizierte oder von einem Anonymus, dessen Sammlung mit dem Titel „Friedrich von Schiller’s Gedichte travestirt. Beiträge zu komisch-humanistischen Vorträgen. Eine Anthologie” in drei Bänden (Erfurt o.J. [1878]) erschien; von einem weiteren Anonymus, dessen Sammlung „Parodien Schillerscher Gedichte. Vortragsgedichte humoristischen und satyrischen Inhaltes” in Berlin um 1900 herauskam – zu einer Zeit also, als auch die Sammlung „‚Das Lied von der versunkenen Glocke’ und andere Parodieen” von Julius Stettenheim in Berlin (o.J. [1898]) publiziert wurde. Besonders signifikant scheint uns aber die sog. „Almanach”-Tradition zu sein, die – von C. F. Solbrig 1816 bis Friedrich Umlauft 31928 – insbesondere Klassiker-Nachahmungen und Klassiker-Parodien vom 19. ins 20. Jahrhundert transportierte. (In dem Reclam- Bändchen „Lyrik-Parodien” von 1983 [S. 322] haben wir die von uns eingesehenen Anthologien aufgelistet, ohne freilich die Neuauflagen mit zu notieren.) Der Titel dieser Bändchen und Bände lautet fast stereotyp „Buch (bzw. Almanach) der Parodien und Travestien”, wobei diese Almanache aber eben nicht bloß Parodien und Travestien in dem von uns definierten Sinn enthalten, sondern auch viele andere Spielarten der Nachahmung bis hin zu den fast dominierenden Kontrafakturen.

Bevor ich das schon lange angekündigte Textbeispiel besonderer Art endlich behandle, will ich lediglich noch andeuten, daß ein später Ausläufer der Almanach-Tradition in der Sammlung von „Schiller-Parodien aus zwei Jahrhunderten”, die Christian Grawe veranstaltet hat, vorliegt.29Eine ausführlichere Kritik, für die hier leider nicht der Raum ist, würde belegen, daß Grawes Anthologie nicht allein die in der Almanach-Tradition dem Begriff wie der Sache nach bestehende Heterogenität der ‘Parodie’-geschichtlichen Überlieferung fortsetzt, sondern – in mangelhafter Wahrnehmung und Erörterung neuerer Forschungsliteratur – auch systematisch fundierte und funktional orientierte Begriffsklärungen nicht ernsthaft zu berücksichtigen und anzuwenden gedachte.30Zudem erscheint die Pflicht zu gründlicher Recherche nur eilfertig wahrgenommen. So ist beispielsweise Julius Stettenheims schon genannte und in vieler Hinsicht interessante Sammlung offenbar nicht bekannt. In Stettenheims Sammlung von 1898 steht nun auch der Text, den ich im Zusammenhang mit Nachahmungen des Gedichts „Würde der Frauen” von F. Schiller aus vielen Gründen noch etwas besprechen möchte. Ich kehre damit auch zum Ausgangspunkt des Kapitels über die Parodie als Klassik-kritisches Mittel zurück und komme dabei zu einer Variante einer charakteristischen Rezeption der Weimarer Klassik.

d) Exkurs: Affirmative Schiller-Rezeption im 19. Jahrhundert: Julius Stettenheims „Würde der Bebelinen” als Beispiel

Der Text Julius Stettenheims hat den Titel „Würde der Bebelinen” und ist im Textanhang des „Kontrafaktur”-Buches abgedruckt (S. 234f.):

Julius Stettenheim
Würde der Bebelinen.
Nach Schiller und Bebels „Frau”.

Ehret die Frauen! Das Flechten und Weben
Himmlischer Rosen, das nahm ihrem Leben
Jeglichen Inhalt und menschliches Recht,
Endlich, was Bebel gesagt, war gefunden,
Und von der Erde ist gänzlich verschwunden
Das sogenannte schwache Geschlecht.
Schrecklich war es anzuschauen,
Als vor einem Säkulum
Sich als Mütter Deutschlands Frauen
Tummelten im Haus herum.
Schmutzig tobten und gefräßig
Ihre Kinder, – manchmal acht, –
Und sie hatten regelmäßig
Keine Ruh’ bei Tag und Nacht.

Aber die Frau ist jetzt glücklich entmüttert,
Da heut der Staat ihre Lieblinge füttert
Und nach bewährter Schablone erzieht,
Während sie um Ihres Volkes Interessen,
Auf den sozialdemokrat’schen Kongressen
Anträge stellend, sich eifrig bemüht.
Leicht, die Frau’n zu unterjochen,
War es einst, als unrettbar
Durch Stricken, Näh’n und Kochen
Ihre Kraft gebrochen war.
Völlig aber ward ohnmächtig
Die Entnervte mit der Zeit
– O, es war zu niederträchtig! –
Durch des Gatten Zärtlichkeit.

Doch die unsittliche Ehe ist endlich,
Glücklich beseitigt, die lang genug schändlich
Nichts war, als eine entnervende Haft.
Nicht mehr fährt jemals zur Trauung, zur Hölle,
Irgend ein Brautpaar, es trat an die Stelle
Fröhlich die freie Genossenschaft.
Hörig einstens und leibeigen
Einem junkerlichen Mann,
Mußten kuschen sie und schweigen,
Wenn’s so wollte der Tyrann.
Und dann still zu Hause bleiben,
Wenn es zog in’s Wirtshaus ihn,
Seinen Unfug dort zu treiben
Bis zum völligen Ruin.

Aber sie haben gesprengt ihre Ketten,
Und es gelang, ihre Rechte zu retten,
Uns sie geh’n nicht mehr geknechtet herum.
Bebel sei Dank! Die Seufzer, sie schweigen,
Und eine Frau wird als Seltenheit zeigen
Man im Passage-Panoptikum.

Im „Kontrafaktur”-Buch haben wir dem Text Stettenheims auch eine umfängliche Kontextanalyse gewidmet.31Ich hebe deswegen nur wenige Momente hervor; sie sollen deutlich machen, daß „Würde der Bebelinen” nicht eine der Parodie A.W.Schlegels vergleichbare Adaption ist, sondern eine satirische Kontrafaktur. Die gravierenden Unterschiede zwischen Schlegels und Stettenheims Nachfolgetext setzen nämlich dort ein, wo die Substitution der „Frauenfrage” in Stettenheims Adaption nicht mehr allein durch den Prätext, sondern primär durch einen der Vorlage externen Bezug motiviert erscheint. Diesen externen Bezug deutet schon der Titel an („Bebelinen”) und unterstreicht dann die Anspielung auf August Bebels Schrift im Untertitel: Gegenstand der Kontrafaktur „Nach Schiller und Bebels ‚Frau’” ist nicht Schillers Gedicht, sondern Bebels Schrift „Die Frau und der Sozialismus” (1879,501910). Wenn Sie mir ausnahmsweise eine saloppe Beschreibung gestatten: Bei Stettenheims Text entsteht in einem hehren Schiller-Gedicht als Gefäß ein hochbrisantes Gemisch aus progressiver und konservativer Stellungnahme zur „Frauenfrage” am Ende jenes Jahrhunderts, das an seinem Beginn diese Frage überhaupt auf die ‚Tagesordnung’ gesetzt hatte. Ich zitiere dazu nur ein Wort, um die Brisanz der Mixtur und damit auch des Stettenheimschen Textes zu illustrieren – ein Wort von Clara Zetkin, das sie aus Anlaß des 70. Geburtstages August Bebels und der 50. deutschen Auflage seiner Schrift im „Vorwärts” publiziert hat (Verweyen/Witting: Die Kontrafaktur, 1987, S. 108f.):

„Bebel zerstört in seinem Werk die Legende, als ob die Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen durch Menschen ein unentrinnbares Los sei, das die Natur selbst heilige und verewige. Er zerstört sie aufs gründlichste, indem er ihre Lügenhaftigkeit dort nachweist, wo angeblich der Menschen tiefstes Sein selbst die einen zur Herrschaft, die anderen zur Unterwerfung bestimmt: in dem sozialen Verhältnis von Mann und Weib. Nicht die Natur hat es nach unwandelbaren Gesetzen geordnet; wie andere Beziehungen von Mensch zu Mensch ist es das Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse”.

Nun, ich habe Sie mit diesem Zitat aus Clara Zetkins Glückwunschartikel neugierig machen wollen auf das, was wir im „Kontrafaktur”-Buch ausführlicher dargestellt haben – Sie sollten es dort nachlesen, zumal dort auch analysiert ist, wie dieser Bezug und andere Kontexte im Text Stettenheims verarbeitet sind. An dieser Stelle sei nur noch angedeutet, daß in „Würde der Bebelinen” der mit 'Bebel' thematisierte progressive Kontext Gegenstand der Kritik und der mit ‚Schiller’ thematisierte und mit der Schillerschen Form des Gedichtes repräsentierte Rückbezug zugleich Basis, Medium und Norm der Kritik sind. Es handelt sich im Falle des Stettenheimschen Nachfolgetextes also nicht um ein Klassik-kritisches Mittel, sondern im Gegenteil um eine satirische Kritik des zeitgenössischen Bildes von der ‚sozialistischen’ Frau – mithin um eine Kritik, bei der im überlieferten Ausgangstext, in Schillers „Würde der Frauen”, die zur Norm erhobene Gegenbildlichkeit vorgegeben erscheint. Folglich: Komik und Kritik am Neuen erfolgt aus dem Geist des zählebigen Alten; dies ist die Tendenz und Botschaft der Stettenheimschen Adaption.

Das hier zugrundeliegende Verfahren einer satirischen Ausnutzung der Möglichkeiten der Schreibweise ‚Kontrafaktur’ haben wir übrigens schon im „Silbermarkenevangelium” oder auch in „Des bapst pater noster” kennengelernt. Eine Vielzahl von Texten satirischer Kontrafaktur vom Mittelalter bis zur Gegenwart ist im „Kontrafaktur”-Buch angedeutet32. Damit sei hier das Kapitel, das uns weit ins 19. Jahrhundert hineingeführt hat, abgeschlossen.

e) Kritische Schiller-Rezeption im 20. Jahrhundert: Peter Rühmkorfs „Lombard gibt den Letzten” als Beispiel

Es ist wirklich problematisch, das Thema ‚Schiller, die Parodie und das 20. Jahrhundert’ an einem einzigen Beispiel parodistischer Kritik demonstrieren zu wollen. Ein Blick in die Sammlung der „Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland”, die Norbert Oellers unter dem Titel „Schiller – Zeitgenosse aller Epochen” 1976 publiziert hat, kann ja schon hinreichend belehren, einen solchen Versuch von vornherein als gescheitert bzw. undurchführbar erscheinen zu lassen. Selbst Gedanken an eine irgendwie geartete Repräsentativität des gewählten Beispiels sind zurückzuweisen. Wenn ich dennoch die Konstellation ‚Schiller, Parodie, Rühmkorf’ gewählt habe, so geschah dies nicht, um einer hier an Schiller orientierten Parodie-Reihe Genüge zu tun. Es geht um anderes, das sich hoffentlich im Zuge der knappen Darlegungen zeigt.

1955 bzw. 1959 jährten sich Gedenktage Schillers. Der 150. Todestag bzw. der 200. Geburtstag des Klassikers waren Anlässe akademischer und gesellschaftlicher Feiern im ganzen gespaltenen Deutschland. Norbert Oellers referiert in der Einleitung zu seiner Sammlung, die rezeptionsgeschichtlichen Zeugnisse synthetisierend, die Lage:

N. Oellers: Schiller – Zeitgenosse, Teil II, 1976, S. LII-LV: „Der 150. Todestag … begeistern lassen.” Ferner: „Benno von Wiese warnte … rücken könnten.” Schließlich: „Die Lawine … über Schiller.” Und: „Ist Schiller … De-Luxe-Etui. ”33

Schiller ist den Zeugnissen und ihren Auswertungen nach also in der Nachkriegsgesellschaft der 50er und 60er Jahre durchaus noch gegenwärtig – wenn auch auf sehr verschiedene Weise. Was kann nun Rühmkorf motiviert haben, auf den derart präsenten Schiller noch Anfang der 70er Jahre parodistisch zurückzugreifen und kritisch zu verarbeiten?

Vorab einige biographische Bemerkungen zu Rühmkorf.34Der Autor (geb. 1929), zunächst als Lyriker und Essayist von großen Gnaden und als streitbarer Zeitgenosse Hans Magnus Enzensbergers, Günter Grass’ und Walter Höllerers hervorgetreten, beginnt in der Zeit der Großen Koalition (seit 1963), sich von der Lyrik abzuwenden, im Zweifel an ihrer gesellschaftlichen Relevanz, und über das Theater eine neue Synthese zwischen seiner politischen und literarischen Existenz zu suchen. Er verfaßt äußerst gesellschaftskritische Theaterstücke, die in vielem an das Lehrstücktheater und die marxistisch orientierten Parabelstücke Bertolt Brechts der späten 20er Jahre erinnern, ja womöglich sogar an sie anschließen: „Was heißt hier Volsinii?” (1969), „Lombard gibt den Letzten” (1972) und „Die Handwerker kommen” (1974). Alle Stücke erscheinen in der Zeit der von der Studentenrevolte erschütterten und bewegten Bundesrepublik Deutschland und erhalten von ihr her ihr gesellschaftskritisches und genauer: in marxistischer Gesellschaftskritik motiviertes Kritikpotential – ein Kritikpotential freilich, das nie von dem Anspruch der Kunst auf Freiheit gegenüber allen unmittelbar pragmatischen Bindungen und Fesseln der Kunst entbunden wird.

Das „Schauspiel” „Lombard gibt den Letzten” (1972) ist also eines dieser scharf-kritischen Theaterstücke, in denen die mit dem dünnen ‚ästhetischen’ Firnis bildungsbürgerlicher Wertvorstellungen überzogene kapitalistische Wettbewerbs- und Verdrängungsgesellschaft Gegenstand und Thema der gesellschaftskritischen Darstellung wird. Das achte Bild des II. Aktes ist dafür eine charakteristische Szene: Während Willi, der ehemalige Oberkellner und jetzige Gipfelwirt, Polterabend feiert, ist der wirtschaftliche Verdrängungs- und Vernichtungsprozeß durch den Kapitalistenherrn mit dem sprechenden Namen Lombard schon längst im Gange. Nur die ‚idealistischen’ „Freuden”- und „Menschheits”-Gesänge eines F. Schiller aus dem Munde des Werbetexters und -barden beim Gipfelwirt, Alfredo, können für eine kurze Weile noch darüber hinwegtäuschen.

Friedrich Schiller
An die Freude.

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken
Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
Was der Mode Schwert geteilt;
Bettler werden Fürstenbrüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.

CHOR

Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
Muß ein lieber Vater wohnen.

Wem der große Wurf gelungen,
Eines Freundes Freund zu sein;
Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!
Ja – wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wers nie gekonnt, der stehle
Weinend sich aus diesm Bund!35
 

Peter Rühmkorf
Lombard

Achtes Bild

Polterabend im Walde. Unterschiedlichstes Publikum. Eurydike tanzt um die Karre. Bei Chorgesängen allgemeiner Bacchantenreigen. Alfredo singt. Großes Orchester.

ALFREDO: Freude schöner Götterfunken
Tochter aus Elysium
Wir betreten branntweintrunken
Taumelnd ein Panoptikum
Mann und Miez und Geiß und Gockel
Drehn sich bis der Himmel kreist
Und der dicke Festlandsockel
Mit dem Fuß nach oben weist.
CHOR: Wolken wandern uns zu Füßen
In den Fingern braust die See
Jubelnd als Vermählte grüßen
Alfred und Eurydike.

Willi mit herabbaumelnden Beinen am Bergsturz. Neben ihm eine Flasche. Der Doktor: sehr aufgeräumt.
DOKTOR (mit dem Stock an Willis Knöpfen abzählend): Verliebt, verlobt, verheirat’, geschieden, gestorben – Kopf hoch, Herr Willi, solche Stunden gehn vorüber.
WILLI (mit irrem Blick): Sie ?! – Sie kennen die Liebe nicht, Sie Ferkel von einem Betreuer.
DOKTOR: Mein lieber Freund! – Ich bin hier unter anderem als Spezialist für Haut- und Geschlechtskrankheiten tätig geworden. Das heißt, ich verfüge über Einblicke in ein Material, gegen das all Ihre Herzensqualen Kinderkrankheiten sind.
WILLI: Bestie!
DOKTOR: Beruf ist Beruf.
WILLI: ’n schönes Arbeitsethos. Sie ziehn hier pausenlos Geld aus andrer Leute zwischenmenschlichen Beziehungen, wissen Sie wie ich das nenne? Das ist die Wissenschaft als Oberlude.
DOKTOR: Aber sachte! Ich deck hier immerhin einen ganzen Berg voll Unzucht mit meinem guten Namen. Der hatte nämlich schon Klang, als der Ihre noch mit Geschirr klapperte. – (Als keine Antwort erfolgt, besorgt) Herr Willi. Ich kenn da rund gesagt hundert Klienten, die einer Verbindung mit Ihnen lieber heut als morgen zustimmen würden. Hängen Sie Ihr kostbares Herz doch nicht an solche Einzelheit.
WILLI: Reden Sie nicht. Sie haben nachweislich den halben Berg hier oben abgevögelt. Über die Liebe – kein Wort mehr mit Ihnen.
DOKTOR: Welche Menschenverachtung da aus Ihnen spricht.
WILLI: Für Sie sind alle gleich.
DOKTOR: Richtig. Da bin ich in gewisser Hinsicht eisern Demokrat. Mit Abstrich, versteht sich. Immer hübsch mit Abstrich.
WILLI (weinerlich): Eu – ry – dike! –
DOKTOR: Ich glaube, mit Ihnen geht es heute wirklich bergab. Sie halten ja schon nicht mal mittleren Zusammenbrüchen mehr stand.

Unten bewegte Szene, Soli, Chöre, Tänze mit Laubgirlanden.
ALFREDO: Maßlos mystisch prall proteisch
All Säfte ausgetauscht
Bis in die Seele überseeisch
An die andern Ufer rauscht –
Zur Vermählung aufgerufen
Deckt sich was sich nie gemischt
Sämtliche Vermarktungsstufen
Für einander aufgetischt.
CHOR: Haare Schuppen Fell und Federn
Sprühen Funken wie noch nie
Und aus den verstauchten Rädern
Bricht des Gottes Energie.36

Nun, das dominante parodistische Verfahren dürfte klar sein: mittels Substitutionen wird den idealistischen Bildern weltbürgerlicher Gemeinschaft, Geselligkeit und Menschheitsbeglückung der unwirtliche Boden kapitalistischer Profit- und Hackordnungen unterlegt – mit dem Effekt versachlichend-banalisierender Herabwürdigung des Idealischen. Das achte Bild des II. Aktes endet mit dem Chorlied des Großchores:

Klassenschranken, schwer zu leugnen,
Werden weich und ungenau –
Brüder, überm Überbau
Wird ein großer Gott enteignen.37

Warum nun aber gerade Texte Schillers für solche Strategien kritischer Auseinandersetzung und Geltungsdepotenzierung herangezogen werden, soll andeutungsweise miterklärt werden, wenn ich u. a. auf Bertolt Brecht zu sprechen komme.


1 Goethe: Byrons Don Juan, in: Werke, Weimarer Ausgabe (WA) I/41, Weimar 1902, S. 245-249, hier S. 248; vgl. Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 35.
2 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte, von 1807-1822, in: Werke, WA I/36, Weimar 1893, S. 176: im Jahr 1820; vgl. Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 34.
3 Vgl. Verweyen/Witting: Walpurga, 1989, S. 473.
4 Goethe: Über die Parodie bei den Alten (1824), in: Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausg., Bd. 37, S. 290-293. Die Überschrift stammt von Johann Peter Eckermann, der drei auf 1823, 1824 und 1827 datierbare Textteile redaktionell überarbeitete und 1833 erstmals veröffentlichte. In: Werke, WA I/42, 2, Weimar 1907, S. 465-471 sind die drei Bruchstücke unter der Überschrift "Zum Kyklops des Euripides" abgedruckt (vgl. bes. S. 471).
5 Friedrich Schiller: Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst (1802), in: Sämtliche Werke. Säkular-Ausg., hrsg. v. E. von der Hellen, Stuttgart/Berlin o.J., Bd. 12, S. 283-290.
6 Ebd., Bd. 12, S. 285f. Vgl. Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 49.
7 Siehe dazu Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, 49f.
8 Wolfdietrich Rasch: Goethes "Iphigenie auf Tauris" als Drama der Autonomie, München 1979, S. 189 (Anm. 3).
9 Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 162-167; vgl. Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, 1983, S. 255f.
10 Heinrich Heine: Sämtliche Werke, hrsg. v. Ernst Elster, Bd. 3, Leipzig und Wien o.J., S. 97f.; vgl. Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 163f.
11 Benno von Wiese: Heine und Schiller, in: Jahrbuch d. Dt. Schillerges. 20, 1976, S. 448-463.
12 Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1961, S. 28. Vgl. Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 91f.
13 Daß ich die Arbeit von Bernd Anton: Romantisches Parodieren. Eine spezifische Erzählform der deutschen Romantik, Bonn 1979, in die Darstellung der Parodie in der Romantik nicht mit einbeziehe, erkärt sich aus der romantischen und von B. Anton fortgesetzten Universalisierung des "Parodie"-Begriffs, so daß dieser seinen speziellen Deskriptionsgehalt verliert; man vergleiche etwa, ebd. S. 45, wie er "zuerst im traditionellen Gattungssinn und im Sinne einer Kontrafaktur ‘das Ganze parodirt‘, erst später dann im zweiten Teil sich in die romantische Optik verlagert. Wie dem auch sei, die Parodie ist Kritik im Gewand der Dichtung, wobei mit Kritik nicht die verkehrend-satirische gemeint ist, wie sie die Gattung kennzeichnet, sondern jenes erkenntnisfördernde Potenzierungsmoment, das zur allgemeinen Signatur romantischer Kunst gehört wie zu den besonderen Integrationsmitteln einzelner Romane, sofern sie die Poetisierung des Lebens durch ein Simulationsverfahren ins Werk zu setzen versuchen. – Das Parodieren simuliert Leben im Werk, will die Einheit der Wirklichkeitsmodalitäten dadurch erreichen, daß es eine ästhetisch umgesetzte historische Wirklichkeit für und durch die dichterische Einbildungskraft noch einmal objektiv macht. Es leistet mit einem Begriff Schlegels ‘das Mimische‘." Verstehe dies, wer will oder kann. Begriffshygiene tut bitter not.
14 Herbert Singer: Hoffmann, "Kater Murr", in: Benno von Wiese (Hrsg.): Der deutsche Roman, Bd. 1, Düsseldorf 1963, S. 301-328, hier bes. S. 302-310.
15 Ludwig Marcuse: Heines Parodien, Heine-Parodien, in: Text + Kritik (Heinrich Heine) 1968, S. 43f. – Vgl. Benno von Wiese: Mythos und Mythentravestie in Heines Nordseegedichten und in seinem Gedicht "Unterwelt", in: Helmut Koopmann (Hrsg.): Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1979, S. 123-140, bes. S. 135ff.
16 Vgl. v. Wiese: Mythos, S. 130f.
17 Vgl. v. Wiese: Mythos, S. 134; siehe auch B. v. Wiese: Signaturen. Zu Heinrich Heine und seinem Werk, Berlin 1976, S. 167ff.
18 Verweyen/Witting haben das Gedicht in die "Lyrik-Parodien", Reclam, 1983, S. 78-82 aufgenommen und ebd. S. 206-207 mit Erläuterungen versehen; s. die Ausgabe E. Elster, Bd. 1, S. 286-289.
19 Vgl. v. Wiese: Mythos, S. 137.
20 Vgl. Marcuse: Heines Parodien, S. 43f.
21 Vgl. v. Wiese: Mythos, S. 137.
22 Vgl. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Hamburg 1960 (= rde 25), s.v. "Idealität", "Transzendenz"; bei H. Friedrich natürlich nicht in Bezug auf H. Heine gesagt.
23 Jürgen Hein (Hrsg.): Parodien des Wiener Volkstheaters, Stuttgart 1986 (= RUB 8354).
24 Hein: Parodien, S. 377f.
25 Hans Grellmann: Art. "Parodie", in: RL1, 1926/28, S. 650.
26 Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 198f.
27 Dieter Borchmeyer u. Stephan Kohler (Hrsg.): Wagner-Parodien, Frankfurt/M. 1983 (= it 687).
28 Manfred Eger: Richard Wagner in Parodie und Karikatur, in: Ulrich Müller u. Peter Wapnewski (Hrsg.): Richard-Wagner-Handbuch, Stuttgart 1986, S. 760-776, hier S. 760; S. 768 auch zu F. Mauthners Parodie auf den Dichter R. Wagner.
29 Christian Grawe (Hrsg.): "Wer wagt es, Knappersmann oder Ritt?" Schiller-Parodien aus zwei Jahrhunderten, Stuttgart 1990.
30 Leider sind auch die folgenden Arbeiten ziemlich fahrlässig gegenüber einer strikteren Begriffsexplikation, obwohl in ihnen unsere terminologischen Vorschläge vorkommen; vor allem unsere funktionsorientierten Bemühungen sind in der Regel nicht erkannt: vgl. Beate Müller: Komische Intertextualität. Die literarische Parodie, Trier 1994 (Diss. Bochum 1993) – siehe dazu die Rezension von Gunther Witting, in: Arbitrium 15, 1997, S. 10-13; vgl. Waltraud Wende: Goethe-Parodien. Zur Wirkungsgeschichte eines Klassikers, Stuttgart 1995 (Habilitationsschrift Siegen): diese Arbeit behandelt ausnehmend viele Mignonlied-Adaptionen, die wir, so denke ich, mit guten Gründen unter "Kontrafaktur" subsumiert haben, wieder als Parodien.
31 Verweyen/Witting: Die Kontrafaktur, 1987, S. 107ff.
32 Vgl. Verweyen/Witting: Die Kontrafaktur, 1987, S. 113ff.
33 Norbert Oellers (Hrsg.): Schiller – Zeitgenosse aller Epochen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland, Teil II: 1860-1966, München 1976, S. LII-LV.
34 Verweyen/Witting: Art. "Rühmkorf, Peter", in: Walther Killy (Hrsg.), Literatur Lexikon, Bd. 10, Gütersloh/München 1991, S. 66-67.
35 Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, Bd. 1, München 41965, S.133-136, hier S. 133: V. 1-20; die Ode ist 1786 in der "Thalia" erschienen.
36 Peter Rühmkorf: Lombard gibt den Letzten. Ein Schauspiel, Berlin 1972, S. 50f.
37 Rühmkorf: Lombard, S. 54.

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