Theorie
und Geschichte der Parodie / Teil IV
von Theodor
Verweyen
Inhaltsverzeichnis:
I.
Einführung und Begründung des Vorlesungsgegenstandes
II.
Begriffsgeschichten und Begriff:
1. „Parodie”: Geschichte der Wortverwendung
II.
Begriffsgeschichten und Begriff:
2. „Kontrafaktur”: Terminologische
Erneuerung eines Begriffs der Literaturgeschichte
II.
Begriffsgeschichten und Begriff:
3. Terminologische Entscheidungen
zu „Parodie” und „Kontrafaktur”
II.
Begriffsgeschichten und Begriff:
4. Parodie und Urheberrecht
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘ / 1. Die pseudo-homerische „Batrachomyomachia” als Beispiel hellenistischer
Epos-Parodie
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘ / 2. Die Parodie im Mittelalter: am Beispiel parodistischer Verarbeitungen
in Heinrich Wittenwilers „Der Ring”
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘ / 3. „Die Dunkelmännerbriefe” („Epistolae obscurorum virorum”):
ein Beispiel humanistischer Satire und Parodie
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘ / 4. Parodie und Travestie im barocken Roman: Grimmelshausens „Simplicissimus
Teutsch”
IV.
Geschichte der neueren deutschen Parodie
IV.
Geschichte der neueren deutschen Parodie:
1. Friedrich Nicolai: „Eyn feyner
kleyner Almanach” - Parodie aus dem Geist der Aufklärung
IV.
Geschichte der neueren deutschen Parodie:
2. Die Parodie als Klassik-kritisches
Mittel: am Beispiel einer Schiller-Parodie A.W. Schlegels aus der Zeit
um 1800
IV.
Geschichte der neueren deutschen Parodie:
3. Parodistische Literaturkritik im
19. und 20. Jahrhundert: von Ludwig Eichrodt bis Eckhard Henscheid
Literaturhinweise
Lenore
fuhr ums Morgenrot
Die Parodie-Sammlung der Erlanger
Liste.
2.
Die Parodie als Klassik-kritisches Mittel: am Beispiel einer Schiller-Parodie
A.W. Schlegels aus der Zeit um 1800
a) Vorbemerkungen
Es war in der Vorlesung wiederholt
von „Lachkultur” die Rede; Parodieren und Travestieren hatten darin ihren
auf vielfältige Weise changierenden Rang. Es könnte somit die
Annahme nahegelegt sein, im folgenden, d. h. auch: aufgrund einer historischen
Zäsur wäre entsprechend viel und häufig von „Lachfeindschaft
in der Kultur” zu sprechen. Diese Annahme ist nicht abwegig – vor allem
wenn man sich etwa der lachfeindlichen „Regel” August Hermann Franckes
erinnert; und dennoch ist eine solche Annahme irrig. „Lachfeindschaft”
dürfte, wie die Komik- und Humorforschung vermutet und teilweise schon
nachgewiesen hat, ein ziemlich konstantes Phänomen der abendländischen
Kulturgeschichte sein. Mein Konstanzer Literaturlehrer, Wolfgang Preisendanz,
auf dessen bedeutende Arbeiten zu Humor und Komik, Ironie und Witz ich
im einzelnen schon gar nicht mehr aufmerksam machen muß, hat eine
Geschichte der Lachfeindschaft in Literatur und Kunst von der Antike bis
zur Gegenwart gefordert und gegen sich selber die Erwartungen auf eine
solche Lachfeindschaftsgeschichte geweckt – ob sie noch zustande kommt,
muß ich leider bezweifeln. Gleichviel: Mit meiner Skepsis verringert
sich natürlich die Dringlichkeit einer Geschichte der Lachfeindlichkeit
keineswegs – das Gegenteil ist der Fall! In ihr wären dann auch die
Parodie und ‚verwandte’ Schreibweisen und Verfahren der Komisierung entsprechend
zu verorten – Verfahren und Schreibweisen der Komisierung, die W. Preisendanz
selber in seinen Humor- und Komikforschungen merkwürdigerweise immer
außen vor gelassen hat. Zweifellos hätte in der Geschichte der
Lachfeindschaft auch ein Kapitel über ‚Klassik und Komik’, d. h. über
‚die Klassik und ihr Verhältnis zu Lach- bzw. Verlachritualen’ zu
stehen. Dabei sind Nuancierungen selbstverständlich zu berücksichtigen
und möglicherweise sogar als interessante Momente jener Geschichte
auszumachen. Im großen und ganzen aber dürfte Lachfeindlichkeit
die Poetik der Klassiker dominieren.
Da ich mit Versen und Strophen der
„Aeneis”-Travestie A. Blumauers das vorhergehende Kapitel geschlossen habe,
beginne ich jetzt zunächst mit Äußerungen Goethes über
die Travestie des österreichischen Aufklärers. Bei Gelegenheit
einer Studie zu „Byrons Don Juan” von 1821 versucht Goethe in einem Nachtrag,
das „Deutschkomische” im Vergleich mit dem Komischen englischer Poesie
zu bestimmen. Er kommt dabei zu dem Schluß, das „Deutschkomische”
liege „vorzüglich im Sinn, weniger in der Behandlung”, und führt
als Beispiel Blumauers Travestie an:
„Selbst bei Blumauer,
dessen Vers- und Reimbildung den komischen Inhalt leicht dahinträgt,
ist es eigentlich der schroffe Gegensatz vom Alten und Neuen, Edlen und
Gemeinen, Erhabenen und Niederträchtigen, was uns belustigt. Sehen
wir weiter umher, so finden wir, daß der Deutsche, um drollig zu
sein, einige Jahrhunderte zurückschreitet und nur in Knittelreimen
eigentlich naiv und anmuthig zu werden das Glück hat.”1
Diese verhalten positive Einschätzung
will – ohne daß ich exhaustiv werden kann – so gar nicht zum wenig
früher geäußerten Urteil Goethes über die „Aeneis”-Travestie
passen; denn in den „Tag- und Jahres-Heften” von 1820 heißt es über
sie:
„In eine frühere
Zeit jedoch durch Blumauers Aeneis versetzt, erschrak ich ganz eigentlich,
indem ich mir vergegenwärtigen wollte, wie eine so gränzenlose
Nüchternheit und Plattheit doch auch einmal dem Tag willkommen und
gemäß hatte sein können.”2
Und noch weniger als dieses bereits
ziemlich harsch anmutende Urteil scheint sich die gelegentlich schon angeführte
Notiz in einem Brief Goethes an seinen Altersfreund C.F. Zelter vom 26.
Juni 1824 mit der vergleichsweise positiven Einschätzung von Blumauers
Travestie harmonisieren zu lassen; denn er, Goethe, bekennt sich darin
ja als „ein Todfeind [...] von allem Parodiren und Travestiren”, „weil
dieses garstige Gezücht das Schöne, Edle, Große” herunterziehe,
„um es zu vernichten”.3
Schon diese wenigen Äußerungen
geben prima vista ein sehr widersprüchliches Bild der Einschätzung
parodistischer und travestierender Darstellungen und Darstellungsformen
wieder. Ein gemeinsamer Nenner scheint sich auf den ersten Blick somit
nicht zu zeigen. Allerdings: Man hat seine Vermutung dann auf eine neue
Grundlage zu stellen, wenn man Goethes Aufsatz von 1824 aus den „Schriften
zur Literatur” mit heranzieht; der Titel des Aufsatzes lautet „Über
die Parodie bei den Alten” – ein Aufsatz, der in unmittelbarer Nachbarschaft
zum soeben zitierten Brief an Zelter steht. Goethe entwickelt in ihm mit
Blick auf die griechische Literatur – auf die Kunst der „Alten” – die Relation
von Sujet und Behandlungsart hinsichtlich ‚Parodie’/’Travestie’. Das womöglich
überraschende Ergebnis, für das Aristophanes „die unverwerflichsten
Zeugnisse” abgebe, lautet:
indem der Grieche
„die niedrigsten Gegenstände und Handlungen durch hohes Kunstvermögen
ebenfalls im großen Styl zu behandeln wußte, so brachte er
etwas Unbegreifliches und höchst Überraschendes vor”. „Man wird”
– so Goethe im selben Zusammenhang fortfahrend – „durch die große
Kunst in Erstaunen gesetzt und das Unanständige [bzw. ‚Niedrige’,
‚Sittenlose’, von dem sich ‚der Gebildete mit Abscheu’ wegwende] hört
auf es zu seyn, weil es uns auf das gründlichste von der Würde
des kunstreichen Dichters überzeugt”.4
Bei diesen Bemerkungen haben wir es
also mit einem wichtigen - wenn auch nicht sonderlich elaborierten – Gedanken
der Poetik der Weimarer Klassik zu tun: die Behandlungsart nämlich
ist es, die über die Kunst- und Poesiewürdigkeit des behandelten
Stoffes – komme er woher er wolle – entscheidet! Dieser zentrale Aspekt
der klassischen Poetik und Klassizitätspoetik stellt nachdrücklich
einerseits rhetorisch bestimmte Vorstellungen vom „aptum” in Frage – dazu
wäre nun viel zu sagen; zudem weist jener Aspekt noch unmittelbarer
auf Goethes Weggefährten F. Schiller zurück. Dessen poetologische
Maxime in ‚klassischer Zeit’ lautet in gedrängter Phrase ja, daß
‚die Form den Stoff zernichte’.
Schiller und Goethe stehen hier in
einer dem Klassiker-Denkmal in Weimar vergleichbaren Weise beieinander.
Das bezeugt der Aufsatz Schillers von 1802 mit dem Titel „Gedanken über
den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst”5eindrucksvoll,
zumal er im Umkreis der poetologischen Arbeit „Vom Erhabenen” entstanden
sein dürfte. Darin heißt es:
„Es gibt zwar
Fälle, wo das Niedrige auch in der Kunst gestattet werden kann;
da nämlich, wo es Lachen erregen soll. Auch ein Mensch von feinen
Sitten kann zuweilen, ohne einen verderbten Geschmack zu verraten, an dem
rohen, aber wahren Ausdruck der Natur und an dem Kontrast zwischen den
Sitten der feinen Welt und des Pöbels sich belustigen. Die Betrunkenheit
eines Menschen von Stande würde, wo sie auch vorkäme, Mißfallen
erregen; aber ein betrunkener Postillion, Matrose und Karrenschieber macht
uns lachen. Scherze, die uns an einem Menschen von Erziehung unerträglich
sein würden, belustigen uns im Mund des Pöbels. Von dieser Art
sind viele Szenen des Aristophanes, die aber zuweilen auch diese Grenze
überschreiten und schlechterdings verwerflich sind. Deswegen ergötzen
wir uns an Parodien, wo Gesinnungen, Redensarten und Verrichtungen des
gemeinen Pöbels denselben vornehmen Personen untergeschoben werden,
die der Dichter mit aller Würde und Anstand behandelt hat. Sobald
es der Dichter bloß auf ein Lachstück anlegt und weiter nichts
will, als uns belustigen, so können wir ihm auch das Niedrige hingehen
lassen, nur muß er nie Unwillen oder Ekel erregen. Unwillen
erregt er, wenn er das Niedrige da anbringt, wo wir es schlechterdings
nicht verzeihen können, bei Menschen nämlich, von denen wir berechtigt
sind feinere Sitten zu fordern […].”6
Schillers Aufsatz thematisiert hier
– und im weiteren – das Problem der Lachfreiheit in der Kunst. Er thematisiert
es in doppelter Richtung: einmal im Hinblick auf die Beziehung des Menschen
von feinen Sitten zum dargestellten Niedrigen, sodann im Hinblick auf die
Darstellungsrelation des Menschen von feinen Sitten und seiner niedrigen
und belustigenden ‚Behandlung’. Interessant ist nun, wie die Lachfreiheit
in der Kunst durch Parzellierung eingeschränkt wird, indem sie nur
in bestimmten Grenzen und für bestimmte Fälle der ‚Behandlung’
zugelassen ist: Das aber läßt als eigentliches Thema der kunsttheoretischen
Überlegungen Schillers über das „Gemeine” und „Niedrige” fast
den Gedanken an den Erlaß eines Lachverbots aufkommen. Die begrenzte
Zulassung der Lachfreiheit in engsten Grenzen erinnert an zwei Filiationen:
einmal an die folgenreiche, als Ständeklausel (miß-)verstandene
Unterscheidung in der „Poetik” des Aristoteles, der zufolge nur in der
Parodie die komische Nachahmung „schlechterer” Menschen freigestellt war;
in der Geschichte der Rezeption wurde aus der poetologischen Kategorie
der „schlechteren” (= einfachen) Menschen eine soziale Kategorie der ständischen
Unterschichten von den dienenden Ständen bis zu den Vertretern der
ambulanten Gewerbe und den noch anrüchigeren Outcasts und Outlaws.
Darüber hinaus liegt der begrenzten Zulassung der Lachfreiheit in
der Kunst eine Vorstellung zugrunde, die zwar nicht mehr die Ständeklausel-Problematik
impliziert, dafür aber einen Dignitätskatalog solcher Themen
und Mustertexte (siehe etwa Schillers Plädoyer für Vergils „Aeneis”),
solcher Textmuster und Darstellungsarten als Orientierung zu kanonisieren
versucht, die der komischen Behandlung entzogen, mit dem – unausgesprochenen
– Lachverbot versehen und in diesem Sinne tabuisiert werden.7
Schiller wie Goethe formulieren also
Restriktionen, die zu einer weitreichenden Einschränkung der Lachfreiheit
in der Kunst führen sollen. Die dabei zugelassenen Gegenstände,
Aspekte und Formen des Lachens liegen noch weit unterhalb jenes Niveaus,
das von M. Bachtin mit der Kategorie des „reduzierten Lachens” gekennzeichnet
worden ist. Und Schillers wie Goethes Restriktionen haben – lachfeindlichkeitsgeschichtlich
betrachtet – derart gewirkt, daß Literarhistoriker ebenso wie Literaturkritiker
gemeint haben, Werke wie „Die Wahlverwandtschaften” seien nicht parodierbar
bzw. Werke wie die „Iphigenie auf Tauris” bewiesen ihre ästhetische
Sonderstellung gerade dadurch, daß sie nicht parodiert worden seien.
Nun, diese nachgerade topisch verfestigten Ansichten nicht zuletzt in der
Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik lassen sich relativ leicht
falsifizieren, wenn man die Empirie nur ernst genug nimmt. So kommt Wolfdietrich
Rasch das Verdienst zu, in seiner Arbeit über „Goethes ‚Iphigenie
auf Tauris’ als Drama der Autonomie” von 1979 eher beiläufig an versteckter
Stelle den Hinweis „zu einer parodistischen Version des Iphigenie-Stoffes”
gegeben zu haben.8Die
komisierende Verarbeitung stammt von dem 1933 ausgebürgerten und am
10. Mai des Machtergreifungsjahres ‚verbrannten’ Autor Werner Hegemann
und ist – wenn auch nur in einem Auszug – in der „Walpurga”-Anthologie
seit 1924 erstmals wieder zugänglich gemacht. Eine Kostprobe (vgl.
Verweyen/Witting, Walpurga, S. 89):
Werner Hegemann
„THOAS(lachend)
Da bin ich schon
zurück. Dein Bruder schläft, schläft wie ein Säugling
mit geballten Fäusten, und schnarcht dazu. Den heilst du gut und schnell.
Drum weg die Sorgen! Laß an‘s Fest uns denken, das wir den jungen
Fürsten geben müssen.
Laß mich
gestehn, ich hab‘ schon vorgegriffen und hab‘ in meines Herzens froher
Regung dem Volk die Wundermär bereits verkündet. Das alles ist
zu schön! Wer könnt‘ da schweigen?
(mit scherzender
Steigerung)
Bedenke, wie
das klingt: Da kommen Fürsten aus Griechenland zu unserem Heiligtum
in frommer Wallfahrt hergepilgert. O! Du hättest selbst die Wirkung
sehen sollen, die solche Nachricht auf dem Markte tat! Wie schmunzelnd
sich die würd‘gen Herren Räte die Bärte strichen! Weiter
meld‘ ich dann:
Die weisen Könige
aus dem Land der Künste bewundern fromm das Götterbild der Taurier!
Hört! Hört! Na endlich! tönt‘s von allen Seiten; und als
ich gar die wunderbare Heilung verkündete, die heut die Göttin
wirkte, da gab‘s dem Jubel keine Grenzen mehr: den Gästen ward ein
Ehrenfest beschlossen mit Spiel und Tanz und griechischem Feuer.
(lacht laut
auf)
Die Krämer
rechnen drauf, daß Fest und Wunderheilung große Pilgerscharen
von nah‘ und fern zur Hauptstadt locken werden und haben dreist die Preise
schon gesteigert.
IPHIGENIE(lachend
zu Pylades)
So wird dein
Anschlag auf das Bild belohnt! Du kamst zu stehlen und wirst hoch geehrt.”
Diese Parodie auf das sog. Drama der
„reinen Menschlichkeit” würde Theodor Wiesengrund Adorno zweifellos
zum Erbleichen gebracht haben.
Das darf mit noch bei weitem mehr Recht
für eine Goethe-Parodie angenommen werden, die alle ‚klassischen’
Restriktionen in Bezug auf die Geltung der Lachfreiheit in der Kunst aufhebt
– eine Goethe-Parodie, die das „Niedrige”, „Unanständige”, „Sittenlose”
zum Thema macht, und zwar im Gegenstand ebenso wie in der Behandlungsart
der Adaption; mithin eine Parodie, welche die Möglichkeiten der ‚karnevalisierten
Literatur’ weitreichend ausschöpft: Es ist die anonym wohl 1971 erschienene
Porno-Parodie auf Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften”, also auf jenes
Erzählwerk des alternden Autors, das als einzigartig gilt und dessen
Rang als „tragischer Liebes- und Eheroman” gerade auch durch die Rezeptionsgeschichte
und deren Aufarbeitung durch Jürgen Kolbe eher verfestigt worden ist.
Sie, meine Damen und Herren, wollen mir bitte die Lesung der Porno-Parodie
erlassen. Sie können sie vor dem Hintergrund meiner Ausführungen
ja in der stillen Studierstube nachholen:
Hinweis auf Verweyen/Witting:
Walpurga, S. 123-128.
Im übrigen zu meinem Hinweis eine
Empfehlung: Sie sollten die Parodie nur auf der Folie des originalen Romans
lesen, um die Brillanz der Adaption wirklich ästhetisch wahrnehmen
zu können und zugleich auch das Skandalöse oder besser noch Skandalisierende
der parodistischen Demontage begreiflich zu finden.
Zwischenzeitlich könnte vielleicht
die kritische Anfrage kommen, warum ich dem eigentlichen Hauptgeschäft
derart ausführliche Vorbemerkungen vorausgeschickt habe. Eine Antwort
liegt in doppelter Richtung auf der Hand: Zum einen hat der der Literatur,
Kunst und Kultur der Weimarer Klassik inhärente Dignitätsanspruch
zu einem derartigen Rezeptionsprozeß geführt, daß Bertolt
Brecht im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit dem „Urfaust”
Anfang der 50er Jahre analytisch scharfsinnig von „Einschüchterung
durch die Klassizität” hat sprechen können (Schriften zum Theater
3 = Gesammelte Werke, Frankfurt a.M. 1967, Bd. 17, S. 1276):
„Diese
Einschüchterung kommt zustande durch eine falsche, äußerliche
Auffassung von der Klassizität eines Werkes. Die Größe
der klassischen Werke besteht in ihrer menschlichen Größe, nicht
in einer äußerlichen Größe in Anführungszeichen.
Die Tradition der Aufführungen, lange Zeit an den Hoftheatern „gepflegt”,
hat sich auf den Theatern des niedergehenden und verkommenden Bürgertums
immer mehr von dieser menschlichen Größe entfernt, und die Experimente
der Formalisten haben da nur noch nachgeholfen. An Stelle des echten Pathos
der großen bürgerlichen Humanisten trat das falsche Pathos der
Hohenzollern, an Stelle des Ideals trat die Idealisierung, an Stelle des
Schwungs, der eine Beschwingtheit war, das Reißerische, an Stelle
der Feierlichkeit das Salbungsvolle und so weiter und so weiter. Es entstand
eine falsche Größe, die nur öde war.”
Auf den Kontext dieses Abschnitts will
ich hier nicht weiter eingehen. Der Abschnitt selber zeigt, daß sich
die fortwährende Lachfeindschaft in der Kunst als Resultat der andauernden
Rezeption einer bestimmten Klassik-Auffassung denken läßt.
In der „Einschüchterung durch
die Klassizität” liegt freilich auch – und damit komme ich zum zweiten
Gesichtspunkt – die Chance der ‚Lachkultur’ mit ihren verschiedenen Möglichkeiten
und Formen respektloser Bezugnahme, wie es die „parodistische Version des
Iphigenie-Stoffes” aus den 20er Jahren oder die „Porno-Parodie” auf die
„Wahlverwandtschaften” aus den 70er Jahren belegen. Um es noch einmal mit
Bertolt Brecht (Schriften zum Theater 3 = GW 17, S. 1277) zu sagen:
„Wenn
wir uns einschüchtern lassen durch eine falsche, oberflächliche,
dekadente, spießige Auffassung von der Klassizität, werden wir
niemals zu lebendigen, menschlichen Darstellungen der großen Werke
kommen. Der echte Respekt, den diese Werke verlangen können, fordert
es, daß wir den scheinheiligen, lippedienerischen, falschen Respekt
entlarven.”
Zumindest eine – im übrigen zugleich
prinzipielle – Einschränkung ist hier nun doch an Brechts Darlegungen
zu machen: „die Einschüchterung durch die Klassizität” ist nämlich
nicht allein und ausschließlich erst das Ergebnis einer in der Rezeption
entstehenden „gewohnheitsdiktierten Art”, die „klassischen Werke” zu sehen.
Die „klassischen Werke” selber können mit dem mit ihnen verbundenen
und transportierten Dignitätsanspruch „Einschüchterung” hervorrufen;
mehr noch – „Einschüchterung” kann das gezielte Resultat einer literatur-
und kulturkritischen Aktivität und Strategie der Weimarer Dioskuren
sein, um eine klassische Literaturkultur zu etablieren: Goethes und Schillers
„Xenienkrieg” von 1796/97 etwa, geführt mit den späten Aufklärern
(z. B. Friedrich Nicolai) ebenso wie mit den „Modernen” (also den Romantikern),
ist dafür ein untrügliches Indiz. Somit dürfte klar sein,
daß sich die verschiedenen Möglichkeiten und Formen literarischer
Respektlosigkeit durchaus auch auf den unmittelbaren Anspruch eines Werkes
und Autors selbst und nicht erst auf das rezeptionsvermittelte Erwartungsschema
beziehen können. Das folgende Textbeispiel mag das paradigmatisch
illustrieren, wobei ich es hier nur kurz behandle und dazu im übrigen
auf das entsprechende Kapitel in der systematischen Einführung zur
Parodie verweise.9
b) A.W. Schlegels Parodie auf Schillers
„Würde der Frauen”
1795 publizierte Friedrich Schiller
das Gedicht „Würde der Frauen” in seinem „Musen-Almanach für
das Jahr 1796” (in: Sämtliche Werke, hrsg. v. G. Fricke u. H.G. Göpfert,
München 41965,
Bd. 1, S. 218-220.):
Würde
der Frauen
Ehret die Frauen!
sie flechten und weben
Himmlische Rosen
ins irdische Leben,
Flechten der
Liebe beglückendes Band,
Und in der Grazie
züchtigem Schleier
Nähren
sie wachsam das ewige Feuer
Schöner
Gefühle mit heiliger Hand.
Ewig aus der
Wahrheit Schranken
Schweift des
Mannes wilde Kraft,
Unstet treiben
die Gedanken
Auf dem Meer
der Leidenschaft.
Gierig greift
er in die Ferne,
Nimmer wird
sein Herz gestillt,
Rastlos durch
entlegne Sterne
Jagt er seines
Traumes Bild.
Aber mit zauberisch
fesselndem Blicke
Winken die Frauen
den Flüchtling zurücke,
Warnend zurück
in der Gegenwart Spur.
In der Mutter
bescheidener Hütte
Sind sie geblieben
mit schamhafter Sitte,
Treue Töchter
der frommen Natur.
Feindlich ist
des Mannes Streben,
Mit zermalmender
Gewalt
Geht der wilde
durch das Leben,
Ohne Rast und
Aufenthalt.
Was er schuf,
zerstört er wieder,
Nimmer ruht
der Wünsche Streit,
Nimmer, wie
das Haupt der Hyder
Ewig fällt
und sich erneut.
Aber, zufrieden
mit stillerem Ruhme,
Brechen die
Frauen des Augenblicks Blume,
Nähren
sie sorgsam mit liebendem Fleiß,
Freier in ihrem
gebundenen Wirken,
Reicher als
er in des Wissens Bezirken
Und in der Dichtung
unendlichem Kreis.
Streng und stolz
sich selbst genügend,
Kennt des Mannes
kalte Brust,
Herzlich an
ein Herz sich schmiegend,
Nicht der Liebe
Gönnerlust,
Kennet nicht
den Tausch der Seelen,
Nicht in Tränen
schmilzt er hin,
Selbst des Lebens
Kämpfe stählen
Härter
seinen harten Sinn.
Aber, wie leise
vom Zephir erschüttert
Schnell die
äolische Harfe erzittert,
Also die fühlende
Seele der Frau.
Zärtlich
geängstigt vom Bilde der Qualen,
Wallet der liebende
Busen, es strahlen
Perlend die
Augen von himmlischem Tau.
In der Männer
Herrschergebiete
Gilt der Stärke
trotzig Recht,
Mit dem Schwert
beweist der Scythe,
Und der Perser
wird zum Knecht.
Es befehden
sich im Grimme
Die Begierden
wild und roh,
Und der Eris
rauhe Stimme
Waltet, wo die
Charis floh.
Aber mit sanft
überredender Bitte
Führen
die Frauen den Szepter der Sitte,
Löschen
die Zwietracht, die tobend entglüht,
Lehren die Kräfte,
die feindlich sich hassen,
Sich in der
lieblichen Form zu umfassen,
Und vereinen,
was ewig sich flieht.
Dieses Gedicht gehört zur Gruppe
der sog. „Philosophischen Gedichte”; für die Band-Herausgeber ist
es ein „didaktisches Gedicht”. Es steht in einem von Schiller oft behandelten
Themenkreis: „Die Geschlechter”, „Macht des Weibes”, „Tugend des Weibes”,
„Weibliches Urteil”, „Forum des Weibes”, „Das weibliche Ideal” und auch
„Lied von der Glocke” – all die verwandten Titel deuten schon ein ähnliches
Sujet an. Bestimmte Aspekte dieser Gedichte weisen zudem zurück auf
Aufsätze Wilhelm von Humboldts: „Über den Geschlechtsunterschied
und dessen Einfluß auf die organische Natur” und „Über die männliche
und weibliche Form” – Aufsätze, die v. Humboldt für Schillers
Zeitschrift „Die Horen” von 1795 verfaßt hat. Grundlegend ist in
diesen Aufsätzen so gut wie in den Gedichten Schillers die thematische
Relation Frau-Mann, die sich – wie schon die Lesung der „Würde der
Frauen” zu Gehör bringen kann – bis in das metrische und versifikatorische
Strukturmuster auswirkt; sie bestimmt beispielsweise den alternierenden
Wechsel daktylisch und trochäisch geprägter Strophen, nutzt mithin
im Sinne einer historischen Semantik vershafter Rede die Möglichkeiten
des regelmäßigen Wechsels hüpfend-leichtfüßiger
‚Weiblichkeit’ und stakkatohaft-laufender ‚Männlichkeit’ für
die Unterstreichung der thematischen Opposition; das sei mit den ersten
beiden Strophen nochmals gezeigt:
Schiller: „Würde
der Frauen”, 1. und 2. Strophe!
Selbstverständlich müssen
wir bei der Semantisierung formaler Beziehungen in einem literarischen
Text Vorsicht walten lassen. In diesem Fall aber bietet sie sich wohl in
der angedeuteten Weise an. Freilich ist uns hier die die Semantisierung
der versifikatorischen Elemente tragende thematische Opposition wichtiger.
Was deren zeitgenössische Einschätzung angeht, dafür ist
das spitze Urteil Caroline Schlegels recht charakteristisch.
Caroline Schlegel, die Frau August
Wilhelms, von ihrer Schwägerin Dorothea Veit-Schlegel „Madame Lucifer”
genannt, hat über jene – von mir aufgezählten – Gedichte Schillers
das böse Wort von den „hochfahrenden Poesien”, den „gereimten Metaphysiken
und Moralen”, den „versifizierten Humboldeschen Weiblichkeiten” gesprochen.
Und hinsichtlich des „Liedes von der Glocke” schrieb sie etwa ihrer Tochter
Auguste: „[...] über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke,
sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen,
es ist a la Voss, a la Tiek, a la Teufel, wenigstens um des Teufels zu
werden”.
Bei einer solchen Einschätzung
– alles andere als das Ergebnis einer „Einschüchterung durch die Klassizität”
– kann einem im Hinblick auf August Wilhelm Schlegels Nachahmung von Schillers
„Würde der Frauen” nichts Gutes schwanen, zumal wahrscheinlich ist,
daß die Adaption nicht ohne die Soufflierkunst Carolines verfaßt
wurde. Hatte beispielsweise Caroline doch bald nach dem Brief an ihre Tochter
einem Freund der Familie geschrieben: „Die Glocke hat uns an einem schönen
Mittag mit Lachen vom Tisch weg fast unter den Tisch gebracht. Die ließe
sich herrlich parodiren” – ein Gedankenspiel, das August Wilhelm offenkundig
aufgenommen hat, als er sich an die Parodie auf das „Lied von der Glocke”
machte. Nimmt man noch ein anderes sprechendes Zeugnis der Rezeption hinzu,
wird anschaulich klar, was es ist, das hier der literarischen Kritik Schlegels
anheimfallen sollte: Es sind – mit Heinrich Heines Worten aus dem ersten
Buch der „Romantischen Schule” (1833) – „jene hochgerühmten hochidealischen
Gestalten, jene Altarbilder der Tugend und Sittlichkeit”. Und an anderer
Stelle – in den „Reisebildern”, und zwar in der dritten Abteilung der „Nordsee”
(1827) – läßt Heine zwei „hannövrische Nobili” über
die Streitfrage befinden, „ob Goethe größer sei als Schiller,
oder umgekehrt”. Der eine, „ein lang-magerer, quecksilbergefüllter
Jüngling, der wie ein Barometer aussah”, pries „die Schillersche Tugend
und Reinheit”,
„während
der andere, ebenfalls ein langaufgeschossener Jüngling, einige Verse
aus der ‚Würde der Frauen’ hinlispelte und dabei so süß
lächelte wie ein Esel, der den Kopf in ein Sirupfaß gesteckt
hatte und sich wohlgefällig die Schnauze ableckt. Beide Jünglinge
verstärkten ihre Behauptungen beständig mit dem beteuernden Refrain:
‚Er ist doch größer, Er ist wirklich größer, wahrhaftig,
Er ist größer, ich versichere Sie auf Ehre, Er ist größer’.”10
Angriffsziel der romantischen Kritik
sind demnach offenkundig die „Altarbilder der Tugend und Sittlichkeit,
die Schiller aufgestellt”, und nicht – wie Heine in der „Romantischen Schule”
an zitierter Stelle andeutet – „jene sündhaften, kleinweltlichen,
befleckten Wesen, die uns Goethe in seinen Werken erblicken läßt”.
Bevor ich nun endlich den Text der
Schlegel-Parodie vorlese, möchte ich noch schnell einen Hinweis auf
einen Aufsatz von Benno von Wiese geben, der das Verhältnis von Heine
und Schiller behandelt und dabei ein sehr differenziertes Bild zeichnet,
differenzierter jedenfalls, als es meine (etwas einseitige) Zitatauswahl
nahelegt.11(Übrigens
ist die Parodie A.W. Schlegels in vielen Parodie-Anthologien zu finden
und auch in unsere Reclam-Sammlung der „Lyrik-Parodien” von 1983, S. 33f.
eingegangen):
August Wilhelm
Schlegel
Schillers
Lob der Frauen.
Parodie.
Ehret die Frauen!
Sie stricken die Strümpfe,
Wollig und warm,
zu durchwaten die Sümpfe,
Flicken zerrißene
Pantalons aus;
Kochen dem Manne
die kräftigen Suppen,
Putzen den Kindern
die niedlichen Puppen,
Halten mit mäßigem
Wochengeld Haus.
Doch der Mann,
der tölpelhafte
Find‘t am Zarten
nicht Geschmack.
Zum gegohrnen
Gerstensafte
Raucht er immerfort
Taback;
Brummt, wie
Bären an der Kette,
Knufft die Kinder
spat und fruh;
Und dem Weibchen,
nachts im Bette,
Kehrt er gleich
den Rücken zu. usw.
(nach: Erwin Rotermund, Gegengesänge,
1964, S. 160.)
Wollte man detaillierte Vergleiche
zwischen der Vorlage („Würde der Frauen”) und dem Nachfolgetext in
rein textstruktureller Hinsicht anstellen, ließe sich rasch eine
Fülle von Übereinstimmungen auf den verschiedensten Ebenen nachweisen:
von der phonetischen über die metrische und versifikatorische bis
hin zur syntaktischen und strophischen, obwohl mittels der Änderungsoperation
der Detraktion der Umfang der Vorlage von neun Strophen auf zwei in der
Adaption verringert und dabei die Fortsetzungsabbreviatur „u.s.w.” mit
meta-ähnlichem Textstatus die Verkürzung in komischer Legitimation
gar rechtfertigen soll. Über die Vergleichbarkeiten im Bereich der
Sekundärstrukturierung hinaus bleibt selbst die thematische Relation
Frau-Mann erhalten, wobei hier nun allerdings mit dem Änderungsverfahren
der Substitution den Relaten ‚Frau’ und ‚Mann’ ständig Attribute aus
ganz anderen Paradigmen zugeteilt werden – nämlich in gezielter Überzeichnung
Attribute aus den Paradigmen banalster Ehealltäglichkeit. Dabei darf
Banalisierung, das Herabstimmen der „hochfahrenden Poesien” auf die – mit
Peter Rühmkorf gesprochen – Dimension eines Butterbrotes, als Zweck
der parodistischen Handlung im Text-Text-Bezug gelten.
Und die Banalisierung zielt zugleich
auf mehr. Caroline Schlegels briefliche Bemerkungen zeigen die Gründe
und Motive der parodistischen Kritik an. Die genannten Gedichte Schillers
ebenso wie die Aufsätze W. v. Humboldts haben ja nicht nur ein gemeinsames
Thema, sondern auch eine einheitliche Perspektive. Die hat Friedrich Schlegel
in der zweiten Fassung seines Aufsatzes „Über die Diotima” von 1797
– nach H. Eichner ein „Markstein in der Geschichte der Frauenemanzipation”
– als Vorurteil angegriffen (vgl. Verweyen/Witting,
Die Parodie, 1979, S. 167):
„Was ist häßlicher
als die überladne Weiblichkeit, was ist ekelhafter als die übertriebne
Männlichkeit, die in unsern Sitten, in unsern Meinungen, ja auch in
unsrer bessern Kunst, herrscht?”
Und weiter:
„der herrschsüchtige
Ungestüm des Mannes, und die selbstlose Hingegebenheit der Weibes,
ist (...) übertrieben und häßlich. Nur selbständige
Weiblichkeit, nur sanfte Männlichkeit, ist gut und schön”.
Und in den Athenäums-Fragmenten
von 1798, bei denen ja eine große Unsicherheit der Zuweisung zu Friedrich
und August Wilhelm besteht, heißt es modellhaft zugespitzt:
„Die Frauen werden
in der Poesie ebenso ungerecht behandelt wie im Leben. Die weiblichen sind
nicht idealisch, und die idealischen sind nicht weiblich”.
Mit diesem etwas längeren Zitat
möchte ich das Beispiel der Parodie als ein Klassik-kritisches Mittel
abschließen. Zwei Hinweise möchte ich allerdings noch ergänzend
hinzufügen: Zum einen ist es der Erwähnung wert, daß A.
W. Schlegels Parodie auf Schillers Gedicht „Würde der Frauen” erst
im Rahmen der Ausgabe der „Sämmtlichen Werke” von 1846 an die breitere
literarische Öffentlichkeit gelangt ist – d. h. man darf hier vermuten,
daß die von Brecht so genannte „Einschüchterung durch die Klassizität”
auf die Rezeption und Publizität der sie kritisierenden Literatur
sehr wohl sich auswirken kann. Hinzu kommt sodann, daß Schiller –
in Unkenntnis der Parodien A.W. Schlegels zwar, aber vor dem Hintergrund
der Kritiken und Rezensionen der Brüder Schlegel in wichtigen Zeitschriften
der sog. ‚Moderne’ – August Wilhelm die Folgen des ‚Zerwürfnisses’
unverblümt mitgeteilt hat (Brief vom 31.5.1797; vgl.
Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 165f.):
„Es hat mir Vergnügen
gemacht, Ihnen durch Einrückung Ihrer Uebersetzungen aus Dante und
Shakespeare in den Horen zu einer Einnahme Gelegenheit zu geben, wie man
sie nicht immer haben kann, da ich aber vernehmen muß, daß
mich HE. Frid. Schlegel zu der nehmlichen Zeit, wo ich Ihnen diesen Vortheil
verschaffe, öffentlich deßwegen schilt, (...) so werden Sie
mich für die Zukunft entschuldigen. Und um Sie, einmal für allemal,
von einem Verhältniß frei zu machen, das für eine offene
Denkungsart und eine zarte Gesinnung nothwendig lästig seyn muß,
so lassen Sie mich überhaupt eine Verbindung abbrechen, die unter
so bewandten Umständen gar zu sonderbar ist, und mein Vertrauen zu
oft schon compromittierte.”
In der hier sichtbar werdenden Liquidierung
einer elementaren Lebensgrundlage zeigt sich „Einschüchterung” durch
die Klassizisten auch von ihrer pragmatischen Seite. Korrekturen an der
Vorstellung von „Klassik” als Kunst des Ausdruckswillens zu ‚edler Einfalt
und stiller Größe’ sind auch in solcher Hinsicht angebracht.
c) Ausblick
Ich verspreche, später noch eine
rezeptionsgeschichtlich interessante Adaption des Schillerschen Gedichts
von der „Würde der Frauen” durch Julius Stettenheim zu skizzieren.
Zuvor möchte ich jedoch in der Art von Ausblicken einige Hinweise
auf die Klassiker-Parodie unter anderem in der Romantik geben. Erneut stehe
ich hierbei vor dem Dilemma, weder eine gediegene Aufarbeitung der primären
Textgeschichte (etwa in Form einer Bibliographie oder einer Textsammlung)
noch eine solide literarhistorische Forschungslage benennen zu können.
Wieder kann ich nur Hinweise geben, nicht einmal Skizzen, geschweige denn
eine geschlossene Darstellung.
Einer der Gründe dafür, daß
besonders gern Texte Schillers Gegenstand komisch-kritischer Angriffe wurden,
dürfte mit Heines Wort über Schillers Neigung, literarische „Altarbilder
der Tugend und Sittlichkeit” aufzurichten, angeführt sein. Denn eine
in der Ästhetik und Poetik des „Erhabenen” fundierte Dichtungsauffassung
und literarische Praxis erweist sich als besonders anfällig für
parodistischen Witz und komische Herabsetzung – und zwar in einem solchen
Maße, daß Sigmund Freud sogar glaubte, darin die generell zutreffende
Funktionsbestimmung von Parodie, Travestie und Karikatur sehen zu können;
schreibt er doch in seiner bekannten Abhandlung „Der Witz und seine Beziehung
zum Unbewußten”:
„Karikatur, Parodie
und Travestie, sowie deren praktisches Gegenstück: die Entlarvung,
richten sich gegen Personen und Objekte, die Autorität und Respekt
beanspruchen, in irgend einem Sinne erhaben sind. Es sind Verfahren
zur Herabsetzung, wie der glückliche Ausdruck der deutschen Sprache
besagt”.12
Diese Bestimmung ist ebenso trefflich
wie einseitig. In unserer systematischen Einführung haben wir die
Einseitigkeit erörtert. Die Erörterung erfolgte allerdings nicht
in der Absicht, Freuds Überlegungen für gänzlich unangemessen
zu erklären – durchaus nicht!13Schillers
Äußerungen über „den schmutzigen Witz des Herrn Blumauer”
(in der theoretischen Abhandlung „Über naive und sentimentalische
Dichtung”) und sein Verhalten etwa gegenüber August Wilhelm und Friedrich
Schlegel bestätigen Freuds Ansicht zur Genüge. Vor diesem zur
Vorsicht gemahnenden Hintergrund gebe ich nun noch einige Texthinweise,
die allerdings nicht nach dem Motto ‚Schiller-Parodien und kein Ende’ fungieren
sollen.
In der „Walpurga”-Anthologie (S. 109-112)
ist ein Auszug aus der Literaturkomödie „Gustav Wasa” von Clemens
Brentano
abgedruckt. Sie wurde in den ersten Tagen des Jahres 1800 im Weimarischen
Theater aufgeführt – eine für Schiller schmerzliche Aufführung
an einem für ihn so wichtigen Ort; schmerzlich umso mehr, als sich
Brentano in der Teiltextparodie auf die im „Musen-Almanach” für 1800
erschienene „Glocke” als Parteigänger der Schlegels in der Auseinandersetzung
mit Schiller erweist (vgl. als Vorlage den Teiltext aus „Das Lied von der
Glocke” Vers 155ff.).
In der „Walpurga”-Anthologie (S. 101)
ist „Das Distichon” von Matthias Claudius abgedruckt – eine Parodie auf
die gleichnamige Xenie aus dem Textkorpus zum „Xenienkrieg” Schillers und
Goethes, den diese um der Grundlegung einer klassischen Kunst und Kultur
willen mit den kulturellen, ästhetischen und literarischen Tendenzen
der Zeit führten und dabei über ihre Gegner aus nahezu allen
Lagern teilweise mit rüdem Spott herfielen:
M. Claudius
Das Distichon
Im Hexameter
zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein;
Im Pentameter
drauf läßt er ihn wieder heraus.
In die parodistische Klassik-Kritik
ist natürlich auch Goethe einbezogen. An Brentanos „mutwillige” Parodie
auf die „Thule”-Ballade (vgl. die ersten Stunden der Vorlesung) will ich
nur noch beiläufig erinnern, um ohne Umschweife zu Eichendorffs
Verarbeitung des „Nachtgesangs” von Goethe überzugehen: sie erschien
als parodistische Einlage in dem Jugendroman „Ahnung und Gegenwart” von
1815, der seinerseits ja eine kritische Aufnahme des Vorbildes „Wilhelm
Meisters Lehrjahre” ist. Dabei ist für Eichendorff, wie man aus seiner
„Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands” zuverlässig erschließen
kann, die parodistische Kritik eine der Formen der Auseinandersetzung mit
Goethe: dem, wie Eichendorff nicht ohne pejorativen Beigeschmack meint,
„eigentlichen Führer der modernen Kultur”. (Den Text der Parodie und
der Vorlage finden Sie in Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, 1983, S. 38f.
und S. 188f. mit den dazugehörigen Anmerkungen und interpretativen
Hinweisen.)
Ein anderes Beispiel unter den vielen
Goethe-Parodien hat als Partialparodie Herbert Singer in E.T.A. Hoffmanns
Roman „Lebensansichten des Kater Murr nebst fragmentarischer Biographie
des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern”
(1819) ausgemacht – und zwar schon 1963, als eine nennenswerte Parodie-Forschung
sich im Grunde nur mit dem Namen Erwin Rotermunds verband. Im ersten Teil
seiner Analyse legt H. Singer an der „Katerbiographie” überzeugend
dar, daß Murr zwar einen „zweiten ‚Wilhelm Meister’” zu schreiben
beabsichtigt und von diesem Vorbild „ganz unverkennbar das Aufbauschema
seiner Memoiren” bezieht und auch „die Kategorien, unter denen er sein
Leben betrachtet”; zudem sind auch die Anspielungen auf die „Lehrjahre
der Männlichkeit”, „das Kernstück” von F. Schlegels „Lucinde”,
unübersehbar.
H. Singer über:
Hoffmann, Kater Murr, in: Benno von Wiese (Hrsg.), Der deutsche Roman,
Bd. 1, 1963, S. 304:
„Wenn
Murrs Plan, einen neuen „Wilhelm Meister” zu schreiben, mißlingt,
so nicht einfach deshab, weil er ein Tier ist, sondern wegen seiner Unzulänglichkeit,
wegen der Defekte, mit denen ihn sein Erfinder ausgestattet hat. Diese
Defekte resultieren nicht daraus, daß dem Kater zur Ausbildung höherer
menschlicher Eigenschaften die Voraussetzungen fehlten; Murr repräsentiert
vielmehr, wie die Tiere der Äsopischen Fabel, einen menschlichen Typus
mit all seinen Vorzügen und Schwächen.
Des Katers gelehrte
Ignoranz, sein egozentrischer Hang zur Selbstbespiegelung und Selbstbemitleidung,
seine philiströse Beschränktheit und Überheblichkeit, seine
bornierte Eitelkeit und seine grenzenlose Selbstüberschätzung
leiten ihn naturgemäß auch bei der Abfassung seiner Denkwürdigkeiten,
sie bestimmen die Perspektive, unter der er sich und die Welt sieht. Damit
aber wird die Perspektive zum Zerrspiegel, und die Lebensansichten werden
zur Groteske. Murrs Bildungsroman ist eine unfreiwillige Parodie, ein Anti-Meister.
Das heißt aber: Hoffmanns Katerbuch ist eine wohlzubereitete Satire.”
Die Katerbiographie beschränkt
sich nun nicht darauf, „eine literarische Form zu parodieren”. Hoffmann
unternimmt „nichts Geringeres, als das Gesamtphänomen von Kultur und
Gesellschaft der glanzvollsten Epoche der deutschen Geistesgeschichte,
der Goethezeit, planvoll zu negieren und zu zerstören”: die Begriffswelt
der Aufklärung ebenso wie das Begriffsarsenal der Empfindsamkeit und
des Geniekults oder die Wertvorstellungen, die der Aufklärung teuer
waren: „Erziehung und Bildung, Natur und Vaterland, Weisheit und Menschlichkeit”.
Hoffmann geht aber noch einen Schritt weiter und erlaubt seinem Kater,
sich als Romantiker zu bezeichnen, so daß vollends in den Gedichteinlagen
„Parodien romantischer Poesie” zum Zuge kommen und eine komische Kritik
des eigenen Zeitalters, nicht nur einer vergangenen Epoche erlauben. Freilich,
darauf weist H. Singer nachdrücklich hin, bilden Kritik und Parodie
nur die eine Seite der gesellschaftskritischen Bezugnahme des Fragmentromans,
sie sind Teil, nicht das Ganze;14welche
Funktion ihnen im Ganzen zukommt, ist hier nicht darzulegen, nur darauf
aufmerksam zu machen; aber interessant ist bereits die textinterne Funktion.
Ein letztes Beispiel, mit dem ich nochmals
zu dem Thema „Schiller und die Parodie/Travestie” zurückkehre. Das
Beispiel betrifft in gleicher Weise die Klassik wie eine ihrer Grundlagen,
nämlich die antike Mythologie: Heines Gedicht „Unterwelt”,
das wegen seines eigenwilligen Charakters die besondere Aufmerksamkeit
Ludwig Marcuses und Benno von Wieses gefunden hat.15Der
Text ist 1840, in Heines mittlerer Schaffensperiode, entstanden und zunächst
in vier Teile gegliedert, bevor es 1842 noch einen fünften Abschnitt
erhielt, der besondere Interpretationsprobleme aufwirft. Dabei ist – auch
von B. von Wiese – nicht bestritten, daß „Unterwelt” zu den zahlreichen
mythenkritischen Travestien bzw. Parodien im poetischen Werk Heines gehört;
um einige Beispiele zu nennen:
Im ersten Zyklus der „Nordsee”-Gedichte
(von 1825-1826) gibt es etwa folgende Mythentravestie (in: „Die Nordsee”
I/5: E. Elster [Hrsg.], Sämtliche Werke, Bd. 1, Leipzig/Wien, S. 168f.):
Heinrich Heine
Poseidon
Die Sonnenlichter
spielten
Über das
weithinrollende Meer;
Fern auf der
Reede glänzte das Schiff,
Das mich zur
Heimat tragen sollte;
Aber es fehlte
an gutem Fahrtwind,
Und ich saß
noch ruhig auf weißer Düne
Am einsamen
Strand,
Und ich las
das Lied vom Odysseus,
Das alte, das
ewig junge Lied,
Aus dessen meerdurchrauschten
Blättern
Mir freudig
entgegenstieg
Der Atem der
Götter,
Und der leuchtende
Menschenfrühling,
Und der blühende
Himmel von Hellas.
Mein edles Herz
begleitete treulich
Den Sohn des
Laertes, in Irrfahrt und Drangsal,
Setzt‘ sich
mit ihm, seelenbekümmert,
An gastliche
Herde,
Wo Königinnen
Purpur spinnen,
Und half ihm
lügen und glücklich entrinnen
Aus Riesenhöhlen
und Nymphenarmen,
Folgte ihm nach
in kimmerische Nacht,
Und in Sturm
und Schiffbruch,
Und duldet‘
mit ihm unsägliches Elend.
Seufzend sprach
ich: Du blöder Poseidon,
Dein Zorn ist
furchtbar,
Und mir selber
bangt
Ob der eignen
Heimkehr.
Kaum sprach ich
die Worte,
Da schäumte
das Meer,
Und aus den
weißen Wellen stieg
Das schilfbekränzte
Haupt des Meergotts,
Und höhnisch
rief er:
Fürchte
dich nicht, Poetlein!
Ich will nicht
im g‘ringsten gefährden
Dein armes Schiffchen,
Und nicht dein
liebes Leben beängst‘gen
Mit allzu bedenklichem
Schaukeln.
Denn du, Poetlein,
hast nie mich erzürnt,
Du hast kein
einziges Türmchen verletzt
An Priamos‘
heiliger Feste,
Kein einziges
Härchen hast du versengt
Am Aug‘ meines
Sohns Polyphemos,
Und dich hat
niemals ratend beschützt
Die Göttin
der Klugheit, Pallas Athene.
Also rief Poseidon
Und tauchte
zurück ins Meer;
Und über
den groben Seemannswitz
Lachten unter
dem Wasser
Amphitrite,
das plumpe Fischweib,
Und die dummen
Töchter des Nereus,
B. von Wiese spricht hier nach gelungener
Paraphrase von „der gewollten Zersetzung des Mythos in der Travestie, in
der die Götter nur allzu menschlich werden”, zumal die komische Kritik
des Poseidon-Mythos in der Travestie „Untergang der Sonne” ihre Fortsetzung
findet (in: „Die Nordsee” II/4: E. Elster, Bd. 1, S. 183f.).16
In die Sammlung „Neue Gedichte” (von
1844) ist der Kleinzyklus „Schöpfungslieder” eingegangen, der hauptsächlich
1833, teilweise aber auch erst 1844 bzw. 1851 entstanden sein dürfte;
Verweyen/Witting haben ihn in die „Walpurga”-Anthologie (S. 29-31) übernommen,
und zwar als Beispiel für die Travestie des biblisch-alttestamentlichen
Schöpfungsmythos.
Das erste Buch des zum Spätwerk
gehörenden „Romanzero” (von 1851) mit dem Titel „Historien” enthält
das Gedicht „Der Apollogott” (Elster, Bd. 1, S. 348-352): „Wenn der antike
Mythos” – so nun B. von Wiese hierzu – „in die moderne Welt verpflanzt
werden sollte, konnte es nur in einer Umwandlung geschehen, die sich auch
aller modernen Mittel der Reflexion und der Ironie bedient, ja noch an
die Stelle des Hymnus sogar den couplethaften Gassenhauer zu setzen wagt”.
Allerdings, so B. v. Wiese auch, sei Heines Lyrik am eindrucksvollsten,
„wo sie” – wie in der „Apollogott”-Travestie – „den Mythos zugleich verklärt
und travestiert”.17(Auf
das hier sich abzeichnende Interpretationsproblem will ich jetzt nicht
eingehen.) Mir ist fürs erste nur an dem paradigmatischen Aufweis
gelegen, daß in das poetisch-lyrische Werk Heines ein konstanter
Zug travestierender und parodierender Formen und Textstrukturen eingezogen
ist.
Ein wichtiges Element dieses konstanten
Zuges bildet nun das in der mittleren Schaffensperiode entstandene fünfteilige
Gedicht „Unterwelt” aus der Abteilung „Romanzen”, von dem ich ausgegangen
war.18Den
bereits angedeuteten Rückbezug auf den Aspekt ‚Schiller und die Parodie/Travestie’
legt nun dieses Gedicht besonders nahe. Denn in seinem dritten Teil – in
der Textmitte – bezieht sich „Unterwelt” auf F. Schillers Gedicht aus dem
„Musen-Almanach für 1797” mit dem Titel „Klage der Ceres”; d. h. genau
genommen: Im mittleren Gedichtteil Heines werden aus Schillers großer
Elegie in der Abteilung der „philosophischen Gedichte” die ersten drei
Strophen zitiert und dabei zugleich in einen spezifischen Kotext eingebettet.
Diesen drei Strophen Schillers „geht” nämlich, so hat es B. von Wiese
paraphrasiert, „eine respektlose Schilderung voraus: eine verrückte
Göttin, ohne Haube, ohne Kragen, die schlotterbusig durch das Land
läuft und die die ‚euch allen’ wohlbekannten Klagen von Schiller deklamiert”
(s. Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, Reclam, 1983, S. 79f.):
Heinrich Heine
Unterwelt
(Teil III, Str. 1)
Während
solcherlei Beschwerde
In der Unterwelt
sich häuft,
Jammert Ceres
auf der Erde.
Die verrückte
Göttin läuft,
Ohne Haube,
ohne Kragen,
Schlotterbusig
durch das Land,
Deklamierend
jene Klagen,
Die euch allen
wohlbekannt:
„Wollte Heine die [folgenden] Schillerschen
Verse damit entwerten?” – so fragt B. v. Wiese, um dann die Frage zu verneinen:
„[…] das Zitat hat hier keine parodierende Funktion”.19Diese
Antwort ist freilich mit Ludwig Marcuse entschieden zu bestreiten. Für
ihn verdient nämlich „kein anderes Heine-Gedicht [...] so sehr [...]
‚Parodie’ genannt zu werden”; indem Heine die Strophen Schillers in einen
neuen Kontext einbettet, werde nicht nur die mythische Vorstellungswelt
entmythologisiert – und zwar in der Form der Travestie –, sondern zugleich,
wie L. Marcuse weiter schreibt, „auch das Getragene, in dem oft Sakrales
sich ausspricht, dem nur noch eine traditionelle Ehrfurcht entspricht”.20Interessanterweise
geht selbst B. von Wiese, der übrigens L. Marcuses Aufsatz nicht diskutiert,
davon aus, daß Heine den ‚poetischen’ Anspruch der Schillerschen
Elegie ironisiere – und zwar sowohl „durch das vorangestellte, bizarr komische
Erscheinungsbild der Göttin” als auch „durch die Herabstimmung dieser
Poesie zur bloßen Deklamation”.21Der
ins Allzu-Irdische ‚herabgeholte’ Götterhimmel der antik-paganen Mythologie
ist Thema der Travestie; die Umbuchung und ‚Herabstimmung’ des elegisch-klassischen
Sprechens zur bloßen Deklamation ist Gegenstand der Parodie. Zwei
Schreibweisen – Travestie und Parodie – überlagern sich und verstärken
wechselseitig ihren funktionskritischen Status. Dessen funktionsgeschichtlicher
Sinn aber dürfte vor allem im Zusammenhang mit einer rezeptionsgeschichtlichen
Kritik zu suchen sein, die nicht nur den antiken Götterhimmel – mit
Hugo Friedrich zu sprechen – als „leere Transzendenz”, sondern auch dessen
klassisches Wiederaufleben im schönen Schein der Dichtung – nochmals
mit Hugo Friedrich – als „leere Idealität” aufzeigt.22
Solche Auffassung der Funktionen des
Parodistischen und Travestierenden im Werk H. Heines erführe eine
nachdrückliche Unterstreichung, wenn man – in einem weiteren und weiter
ausgreifenden Ausblick – die literarhistorischen und kulturgeschichtlichen
Kontexte der Zeit einbezöge. Ich kann das hier nicht leisten und verweise
statt dessen beispielsweise auf die feine Textsammlung „Parodien des
Wiener Volkstheaters” von Jürgen Hein, die in Reclams Universal-Bibliothek
1986 erschienen ist.23Diese
Auswahl gibt – ohne daß ich hier auf den ‚Parodie’-Begriff eingehen
möchte, der wohl eher in Richtung auf den der ‚Travestie’ zu erörtern
wäre – acht Stücke aus einer über ein Jahrhundert mit großen
Bühnenerfolgen belebten Theatertradition zwischen 1750 und 1860 wieder,
die J. Hein in einem „Chronologischen Verzeichnis Wiener Parodie” belegt, 24ohne
übrigens Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Zudem soll
die Auswahl, so Jürgen Hein im Nachwort (S. 398f.), „mit den verschiedenen
Beispielen das Spektrum der Gegenstände und Stilrichtungen der Parodien
im Wiener Volkstheater zeigen; in ihrer chronologischen Reihenfolge dokumentieren
die Beispiele zugleich die Entwicklung dieser beliebten theatralischen
Form”:
„Neben
Philipp Hafners Gattungsparodie Evakathel und Schnudi (1764) steht
mit der „mythologischen Karikatur” Orpheus und Euridice (1813) von
Karl Meisl eine Stoffparodie. Ferdinand Kringsteiners „lokale Posse” Werthers
Leiden (1807) ist weniger Parodie auf Goethes Roman als das durch ihn
ausgelöste „Wertherfieber”, also auf eine literarische Mode; sein
Othello,
der Mohr in Wien (1806) zeigt Formen parodistischer Lokalisierung.
Meisls Frau Ahndel (1817) ist die komische Übersetzung Grillparzers
und reflektiert parodistisch Formen des Schicksaldramas. In Adolf Bäuerles
Kabale
und Liebe (1827) liegt die Verbindung zweier auf dem Volkstheater beliebter
theatralischer Formen vor: Zauberspiel und Parodie. Lokalisierende Parodie
auf Ritterdrama und romantische Stimmung ist Karl Meisls Kathi von Hollabrunn
(1831). Johann Nestroy verarbeitet in seinem Tannhäuser (1857)
parodistisch Richard Wagners „Zukunftsmusik”. Damit reicht das Spektrum
von der Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition über den
lokalisierenden literarischen Spaß und die Verbindung theatralischer
Formen, über Gattungs- und Stilparodie bis zur Parodie als Mittel
literarischer Kritik, und die Parodien vermitteln auf ihre Weise auch einen
Einblick in ein Stück Klassiker-Rezeption auf dem Volkstheater.”
Nach dieser Revue sei zumindest an
einer Stelle noch – erneut mit Jürgen Hein (S. 403) – eine kurze Konkretisierung
und Illustration hinzugefügt, wobei wir uns erneut nicht bei der etwas
beliebigen Termini-Verwendung J. Heins aufhalten wollen; zu Karl Meisls
„Orpheus und Euridice” schreibt er:
„Meisls
Orpheus-Karikatur,
am 20. Februar 1813 im Theater in der Leopoldstadt uraufgeführt, im
selben Jahr gedruckt, bezieht sich nicht auf eine bestimmte Vorlage, sondern
setzt „nur ganz im allgemeinen die damals noch fast bei jedermann vorhandene
Vertrautheit mit der antiken Mythologie voraus” und will „von alteingewurzelter
Ehrfurcht lustvoll entlasten”, gleichzeitig ist sie ein satirisches Zeitbild.
Meisl wertet bereits mehrfach bearbeitete und parodierte Sagen aus, fügt
neue Motive hinzu und entwirft eine Revue der Wiener Sitten und Lebensformen.
Charakteristisch
für das Genre der „mythologischen Karikatur” ist die durchgängige
Verwienerung der Götterwelt und die anachronistische Verkoppelung
mit der Wiener Alltagswelt, in der die Götter als Bierhaus-Harfenisten,
Hausfrauen usw. auftreten und an allen modischen Dingen der Neuzeit interessiert
sind. Die Götter haben menschliche Schwächen und sind wie die
Menschen in Familienzwistigkeiten verstrickt; Zeus ist der stets zu einem
Seitensprung bereite, von seiner Frau beherrschte Ehemann, Juno ist putz-
und herrschsüchtig, hat ein Verhältnis mit Orpherl usw.”
Dem Vorgang der Banalisierung fügt
sich auch die „Travestie in einem Akt” von Johann Nepomuk Nestroy,
die in die „Walpurga”-Anthologie (S. 145-171) Eingang gefunden hat, zwanglos
ein: „Judith und Holofernes” von 1849. Bereits unsere Kurzkommentierung
(ebd., S. 171) vermag wohl anzudeuten, daß diese Travestie – von
Hans Grellmann die „witzigste und zugleich gefährlichste Parodie”
Nestroys genannt25–
der Tragödie „Judith” von Friedrich Hebbel ebenso wie der hehren alttestamentlichen
Geschichte und Thematik schonungslos zu Leibe rückt,26und
zwar nicht zuletzt durch jene Verarbeitungstendenz, die schon 1930 der
beste Kenner des „Alt-Wiener Volkstheaters”, Otto Rommel, „Verwienerung
des Olymp” genannt hat – sei dieser „Olymp” nun antik-pagan oder antik-christlich.
Und dieser Vorgang könnte leicht
eine illustrative Ausweitung erfahren, wenn man nun etwa auch die sog.
„Wagner-Parodien” einbeziehen wollte. Dieter Borchmeyer und Stephan
Kohler haben eine kleine Sammlung solcher Texte, in der Mehrzahl eher als
„Travestien” zu bezeichnen, 1983 in der Reihe „Insel-Taschenbuch” veranstaltet
– und zwar mit 5 Beispielen aus dem 19. Jahrhundert,27von
denen in die „Walpurga”-Anthologie (S. 195-200) Fritz Mauthners Parodie
auf Richard Wagners literarisches Werk aufgenommen ist. Hinzuweisen ist
hier zudem auf den sehr informativen Beitrag von Manfred Eger im Richard-Wagner-Handbuch
von 1986 mit dem Titel „Richard Wagner in Parodie und Karikatur”, in dem
auf weit über 50 Wagner-Travestien, -Parodien und -Possen aufmerksam
gemacht wird. Aus dem Beitrag ein signifikantes Zitat:28
„Kaum
ein anderer Operndichter und -komponist wurde so oft parodiert, kein anderer
Künstler so oft karikiert wie Richard Wagner. Es hat aber auch kein
anderer derart dazu herausgefordert. Die ungewohnte und unbequeme Neuartigkeit
seiner Musik, Form und Anspruch seines musikalischen Mythendramas mit seiner
„Spannung zwischen archaischer dramatischer Gebärde und moderner Sensibilität”
(Borchmeyer), manche mißverstandene Schlagworte („Zukunftsmusik”),
der Sprachgestus seiner Gestalten und besonders der typische Stabreim:
all dies reizte Parodisten immer wieder dazu, den kleinen Schritt vom Erhabenen
zum Trivialen zu tun. Wagners ausgeprägte Physiognomie, sein Barett,
sein demonstratives Selbstbewußtsein, die aufwendige Lebensführung,
das Verhältnis zu Cosima v. Bülow, die massiven Geldforderungen
an König Ludwig II. oder die antifranzösischen Äußerungen
verlockten die Karikaturisten ebenso wie der ungewöhnliche orchestrale
Einsatz von Pauken und Blech oder die utopischen Dimensionen seiner Pläne.
Bewunderer wie Gegner trugen gleichermaßen zu jener – durch leidenschaftliche
Parteinahme noch geförderten – Popularisierung von Person und Werk
bei, die Parodie und Karikatur erst verständlich und wirksam machen.”

Ein Resümee kann nun lauten:
Mythentravestie und Klassiker-Parodie, wie sie uns bei Heine begegnen,
sind alles andere als eine singuläre Erscheinung. Die bei Heine beobachtbare
komisch-kritische Auseinandersetzung um den antiken Götterhimmel und
seine Wiederkehr ist nur Teil eines seit der Mitte des 18. Jahrhunderts
beispielsweise auf den Pariser Vorstadttheatern in Form von über 700
Mythentravestien ausgetragenen Kampfes insgesamt: sowohl für als auch
wider die Mythologie – die antike ebenso wie die christliche!
Wenn ich den Ausblick im folgenden
noch etwas weiterführe, so geschieht dies in der Absicht, wenigstens
zwei mir wichtig erscheinende Aspekte noch thematisieren zu können.
Der erste Aspekt: Parodie und
Travestie sind keineswegs nur (komisch inszenierte) Kritik am Alten aus
dem Geist des Neuen. Parodien und Travestien sind
„gewiß
keine Instrumente des ‘Weltgeistes‘ oder verwandter Institutionen. Wertungen
wie „gesellschaftskritisch” oder „durch und durch progressiv” sind hier
völlig fehl am Platze. Friedrich Torbergs „Angewandte Lyrik” bleibt
natürlich eine Parodie, auch wenn ihr Verfasser nicht eben zu den
literarisch und politisch ‘progressiven‘ Autoren gehört; und Peter
Rühmkorfs Schiller-Parodie wird nicht dadurch parodistischer, daß
sich an ihr auch eine gesellschaftskritische Absicht ablesen läßt.
Gegen gewisse Mythen aus dem Geist von 1968 sollte man also an der Trivialität
festhalten, daß beide Verfahren, Parodie und Travestie, gegenüber
solchen Bestimmungen neutral sind; weder stets innovativ noch progressiv
werden sie von Autoren verwendet mit all ihren widerstreitenden Interessen,
Motiven und Idiosynkrasien.” (vgl.
Verweyen/Witting: Walpurga, S. 476)
Diese Beobachtung soll rasch mit drei
Beispielen aus der klassisch-romantischen Epoche belegt werden. Zunächst
mit dem Text von (vgl. Verweyen/Witting: Walpurga, S. 113-115):
Johann Heinrich
Voß
Bußlied
eines Romantikers
Alles, was mit
Qual und Zoren
Wir gedudelt,
geht verloren;
Hat‘s auch kein
Prophet beschworen.
Welch ein Graun
wird sein und Zagen,
Prüft der
Richter ernst mit Fragen
Kleine so wie
große Klagen!
Hinposaunt mit
Schreckentone,
Gehen wir zum
Richterthrone,
Wer mit Geist
gereimt, und ohne.
Auch mich Armen
wird man sehen
Mit den Sündern
auferstehen,
Zur Verantwortung
zu gehen.
Manches Büchlein
wird entfalten,
Wie wir, feind
den hohen Alten,
Hier modern=romantisch
lallten.
Ohn‘ Erbarmen
wird gerichtet,
Was wir, gleich
als wär‘s gedichtet,
Firlefanzisch
aufgeschichtet.
Ach, was werd‘
ich Armer sagen,
Wann der Kunst
Geweihte klagen,
Und wir Süd=Kunstmacher
zagen?
Gnade, ruf‘ ich,
Herr, mir Knaben!
Frei ja gabst
du deine Gaben;
Konntest du
mich auch nicht laben?
Thatst du (woll‘
es, Herr, erwägen!)
Je ein Wunder
meinetwegen,
Mein Gemüt
mit Kraft zu pflegen?
Trotz dem Angstschweiß
meines Strebens,
Nachzuäffen
Geist des Lebens;
Alle Mühe
war vergebens!
Richter der gerechten
Rache,
Nachsicht üb‘
in meiner Sache,
Wenn ich, wie
ich kann, es mache.
Scham und Reue
muß ich dulden;
Tief erröt‘
ich ob den Schulden,
Wie ein Kreuzer
unter Gulden.
Hab‘ ich reimend
mich verschrieen,
Du, der Schächern
selbst verziehen,
Laß es
gehn für Melodieen!
Achte nicht mein
Schrei‘n so teuer,
Daß ich
darum, o du Treuer,
Brennen sollt‘
in ewgem Feuer.
Zu den Schafen
laß mich kommen,
Von den stößigen,
nicht frommen,
Bundesböcken
ausgenommen.
Wird auch Feuer
ohne Schonung
Meinen Reimen
zur Belohnung,
Nimm doch mich
in deine Wohnung.
Herz, zerknirscht
im tiefsten Grunde,
Ruf‘ Ade dem
Schwärmerbunde,
Daß ich
zu Vernunft gesunde!
Wer gesündigt
hat mit Zoren,
Muß dort
ewig, ewig schmoren.
Aber mich, trotz
meinen Schulden,
Nimm ins Paradies
mit Hulden.
Gieb mir Armen
ewge Ruh,
Sei es auch
– mit Kotzebu!
Voß’ Parodie auf A.W. Schlegels
Übersetzung der lateinischen Hymne „Dies irae”, in der katholischen
Kirche in langer Tradition Bestandteil der Totenmesse, entstand 1801 und
erschien 1808 im „Morgenblatt für gebildete Stände”: die Parodie
von Voß ist also ein Angriff aus dem Geist der Aufklärung auf
den Geist der sog. ‚Modernen’, hier Strophe 1 bis 5 aus der Übersetzung
Schlegels (vgl. Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, 1983, S. 288-290):
August Wilhelm
Schlegel
Vom jüngsten
Gericht
Jenen Tag, den
Tag des Zoren,
Geht die Welt
in Brand verloren,
Wie Propheten
hoch beschworen.
Welch ein Grau‘n
wird sein und Zagen,
Wenn der Richter
kommt, mit Fragen
Streng zu prüfen
alle Klagen.
Die Posaun‘ im
Wundertone,
Wo auch wer
im Grabe wohne,
Rufet alle her
zum Throne.
Tod, Natur mit
Staunen sehen
Dann die Kreatur
erstehen,
Zur Verantwortung
zu gehen.
Und ein Buch
soll sich entfalten,
So das Ganze
wird enthalten,
Ob der Welt
Gericht zu halten.
Zu Anlaß und Zielsetzung der
Parodie hat sich Voß öffentlich geäußert – und zwar
unter dem Titel „Für die Romantiker” im „Morgenblatt für die
gebildeten Stände” (vgl. Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, 1983, S.
290f.):
„Die folgende
Parodie eines verdeutschten Mönchsliedes, welches nicht durch Poesie,
sondern wie die meisten der Art, durch frommen Inhalt, berühmte Musik
und feierliche Aufführung Ansehen gewann, ist die Frucht einer heitern
Stunde, worin der Verfasser vor sieben Jahren die neu erschienene Verdeutschung
mit unwillkürlichen Veränderungen vorlas. Es war die Zeit, da
ein Schwarm junger Kräftlinge, wozu ein paar Männer sich herabließen,
nicht nur unsere edelsten Dichter, jene tapfern Anbauer und Verherrlicher
des deutschen Geistes, sondern sogar die großen, seit Jahrtausenden
bewunderten Klassiker, mit Verkleinerung und Hohn zu behandeln, sich unterfing,
und jeden, wer Gnade wünschte, öffentlich zur Teilnahme des Bundes
einlud.”
„Jetzt, da das
seltsame Bundesfieber noch ansteckender um sich greift, und mitunter einen
feinsinnigen Jüngling in den Tanz fortrafft, haben es bedachtsame
Freunde für zuträglich erklärt, daß man den Befallenen
dies wenigstens unschädliche Heilmittel nicht vorenthalte, ihnen,
die mit inniger Religion und Andacht ihre Sprünge zu machen vorgaben,
empfehle sich diese Gabe des Morgenblattes zur nüchternen Morgenandacht.”
Soweit und etwas ausführlicher
zu Voß’ Parodie! Nur hinweisen möchte ich noch auf die beiden
anderen Beispiele: zum einen auf den Text von Jens Immanuel Baggesen „Aufgabe
der Endreime zu einem vierfachen Sonett” (in Verweyen/Witting: „Walpurga”,
1989, S. 116) – eine Parodie, wie die Kurzkommentierung anmerkt, auf das
Sonett als eine der beliebten Gedichtformen der Romantik; dabei trat Baggesen
im sog. „Sonettenkrieg” um und nach 1800 als Parteigänger von Johann
Heinrich Voß auf und griff zugleich die Rückwendung der ‚Modernen’
zu alten, in seinen Augen erstarrten Formen der Lyrik an. Brentano, selber
nicht gerade ein Anhänger ‚zahmer Kritik’, reagierte ziemlich erbost
auf die 1809 erschienene Sammlung von Sonett-Parodien, der Baggesen den
sprechenden Titel gegeben hatte: „Der Karfunkel oder Klingelklingel-Almanach.
Ein Taschenbuch für vollendete Romantiker und angehende Mystiker”.
– Der zweite Text, auf den ich noch hinweisen möchte, ist in „Walpurga”
S. 104-108 abgedruckt und stammt aus einer Parodie, die im Herbst 1799
in Leipzig zur Aufführung kam – aus einer Parodie von August von Kotzebue,
dem 1819 von K. L. Sand ermordeten Erfolgsautor der Goethe-Zeit. Unsere
Kurzkommentierung („Walpurga”, S. 108) vermag schon deutlich zu machen,
warum diese Parodie, deren Konstitution wesentlich auf dem Cento-Verfahren
beruht, eine Kritik am Neuen aus dem Geist des Alten darstellt.
Der zweite Aspekt: Mit unserer
Bestimmung der parodistischen Schreibweise als eines spezifischen Verfahrens
der kritischen Textverarbeitung könnte die irrige Annahme nahegelegt
werden, die Rezeption von Parodien verlaufe – ausschließlich – in
der Richtung ihrer kritisch-destruktiven Funktion. Im Gegensatz zu einer
derart statischen Annahme der parodistischen Funktion ist unseres Erachtens
vielmehr unumgänglich, sie im Rahmen eines umfassenden Kommunikationsvorganges
zu sehen, der den nachträglichen Rezeptionsprozeß mit einbezieht,
die Korrektur nach beiden Seiten zuläßt und demnach auch die
Korrektur zugunsten der Vorlage und gegen die destruktive Tendenz einräumt:
daß also, salopp gesprochen, das Opfer über den Täter siegen
könnte. Parodistische Destruktion ist, im Rahmen der umfassenden literarischen
Kommunikation, also nicht unbedingt das Endresultat des Parodierens.
Hierin ist einer der Gründe zu
sehen für einen Vorgang, der im ganzen 19. Jahrhundert und auch noch
weithin im 20. Jahrhundert zu beobachten ist: die nicht endende Klassiker-
und besonders auch Schiller-Adaption in Form von Nachdichtungen, Kontrafakturen
und Variationen wie eben zugleich auch in Form von Parodien, Travestien
und herabstimmenden Centonen! Das dokumentieren beispielsweise den Weimarer
Dioskuren gemeinsam gewidmete Sammlungen wie die von Edwin Bormann (1851-1912)
mit dem Titel: „Wenn Geedhe un Schiller gemietlich sin. Ä klassischer
Lorbeerkranz dargebracht von ännen alden Leib’ger” (Leipzig 1839)
oder auch nur auf einen der beiden Autoren zugeschnittene Anthologien wie
etwa von Eginhardt als Pseudonym für Othello von Plaenckner (1797-1848),
der 1827 und 1831 je „Zwölf Parodien Schillerscher Gedichte” publizierte
oder von einem Anonymus, dessen Sammlung mit dem Titel „Friedrich von Schiller’s
Gedichte travestirt. Beiträge zu komisch-humanistischen Vorträgen.
Eine Anthologie” in drei Bänden (Erfurt o.J. [1878]) erschien; von
einem weiteren Anonymus, dessen Sammlung „Parodien Schillerscher Gedichte.
Vortragsgedichte humoristischen und satyrischen Inhaltes” in Berlin um
1900 herauskam – zu einer Zeit also, als auch die Sammlung „‚Das Lied von
der versunkenen Glocke’ und andere Parodieen” von Julius Stettenheim in
Berlin (o.J. [1898]) publiziert wurde. Besonders signifikant scheint uns
aber die sog. „Almanach”-Tradition zu sein, die – von C. F. Solbrig 1816
bis Friedrich Umlauft 31928
– insbesondere Klassiker-Nachahmungen und Klassiker-Parodien vom 19. ins
20. Jahrhundert transportierte. (In dem Reclam- Bändchen „Lyrik-Parodien”
von 1983 [S. 322] haben wir die von uns eingesehenen Anthologien aufgelistet,
ohne freilich die Neuauflagen mit zu notieren.) Der Titel dieser Bändchen
und Bände lautet fast stereotyp „Buch (bzw. Almanach) der Parodien
und Travestien”, wobei diese Almanache aber eben nicht bloß Parodien
und Travestien in dem von uns definierten Sinn enthalten, sondern auch
viele andere Spielarten der Nachahmung bis hin zu den fast dominierenden
Kontrafakturen.
Bevor ich das schon lange angekündigte
Textbeispiel besonderer Art endlich behandle, will ich lediglich noch andeuten,
daß ein später Ausläufer der Almanach-Tradition in der
Sammlung von „Schiller-Parodien aus zwei Jahrhunderten”, die Christian
Grawe veranstaltet hat, vorliegt.29Eine
ausführlichere Kritik, für die hier leider nicht der Raum ist,
würde belegen, daß Grawes Anthologie nicht allein die in der
Almanach-Tradition dem Begriff wie der Sache nach bestehende Heterogenität
der ‘Parodie’-geschichtlichen Überlieferung fortsetzt, sondern – in
mangelhafter Wahrnehmung und Erörterung neuerer Forschungsliteratur
– auch systematisch fundierte und funktional orientierte Begriffsklärungen
nicht ernsthaft zu berücksichtigen und anzuwenden gedachte.30Zudem
erscheint die Pflicht zu gründlicher Recherche nur eilfertig wahrgenommen.
So ist beispielsweise Julius Stettenheims schon genannte und in vieler
Hinsicht interessante Sammlung offenbar nicht bekannt. In Stettenheims
Sammlung von 1898 steht nun auch der Text, den ich im Zusammenhang mit
Nachahmungen des Gedichts „Würde der Frauen” von F. Schiller aus vielen
Gründen noch etwas besprechen möchte. Ich kehre damit auch zum
Ausgangspunkt des Kapitels über die Parodie als Klassik-kritisches
Mittel zurück und komme dabei zu einer Variante einer charakteristischen
Rezeption der Weimarer Klassik.
d) Exkurs: Affirmative Schiller-Rezeption
im 19. Jahrhundert: Julius Stettenheims „Würde der Bebelinen” als
Beispiel
Der Text Julius Stettenheims hat den
Titel „Würde der Bebelinen” und ist im Textanhang des „Kontrafaktur”-Buches
abgedruckt (S. 234f.):
Julius Stettenheim
Würde
der Bebelinen.
Nach Schiller
und Bebels „Frau”.
Ehret die Frauen!
Das Flechten und Weben
Himmlischer
Rosen, das nahm ihrem Leben
Jeglichen Inhalt
und menschliches Recht,
Endlich, was
Bebel gesagt, war gefunden,
Und von der
Erde ist gänzlich verschwunden
Das sogenannte
schwache Geschlecht.
Schrecklich
war es anzuschauen,
Als vor einem
Säkulum
Sich als Mütter
Deutschlands Frauen
Tummelten im
Haus herum.
Schmutzig tobten
und gefräßig
Ihre Kinder,
– manchmal acht, –
Und sie hatten
regelmäßig
Keine Ruh’ bei
Tag und Nacht.
Aber die Frau
ist jetzt glücklich entmüttert,
Da heut der
Staat ihre Lieblinge füttert
Und nach bewährter
Schablone erzieht,
Während
sie um Ihres Volkes Interessen,
Auf den sozialdemokrat’schen
Kongressen
Anträge
stellend, sich eifrig bemüht.
Leicht, die
Frau’n zu unterjochen,
War es einst,
als unrettbar
Durch Stricken,
Näh’n und Kochen
Ihre Kraft gebrochen
war.
Völlig
aber ward ohnmächtig
Die Entnervte
mit der Zeit
– O, es war
zu niederträchtig! –
Durch des Gatten
Zärtlichkeit.
Doch die unsittliche
Ehe ist endlich,
Glücklich
beseitigt, die lang genug schändlich
Nichts war,
als eine entnervende Haft.
Nicht mehr fährt
jemals zur Trauung, zur Hölle,
Irgend ein Brautpaar,
es trat an die Stelle
Fröhlich
die freie Genossenschaft.
Hörig einstens
und leibeigen
Einem junkerlichen
Mann,
Mußten
kuschen sie und schweigen,
Wenn’s so wollte
der Tyrann.
Und dann still
zu Hause bleiben,
Wenn es zog
in’s Wirtshaus ihn,
Seinen Unfug
dort zu treiben
Bis zum völligen
Ruin.
Aber sie haben
gesprengt ihre Ketten,
Und es gelang,
ihre Rechte zu retten,
Uns sie geh’n
nicht mehr geknechtet herum.
Bebel sei Dank!
Die Seufzer, sie schweigen,
Und eine Frau
wird als Seltenheit zeigen
Man im Passage-Panoptikum.
Im „Kontrafaktur”-Buch haben wir dem
Text Stettenheims auch eine umfängliche Kontextanalyse gewidmet.31Ich
hebe deswegen nur wenige Momente hervor; sie sollen deutlich machen, daß
„Würde der Bebelinen” nicht eine der Parodie A.W.Schlegels vergleichbare
Adaption ist, sondern eine satirische Kontrafaktur. Die gravierenden Unterschiede
zwischen Schlegels und Stettenheims Nachfolgetext setzen nämlich dort
ein, wo die Substitution der „Frauenfrage” in Stettenheims Adaption nicht
mehr allein durch den Prätext, sondern primär durch einen der
Vorlage externen Bezug motiviert erscheint. Diesen externen Bezug deutet
schon der Titel an („Bebelinen”) und unterstreicht dann die Anspielung
auf August Bebels Schrift im Untertitel: Gegenstand der Kontrafaktur „Nach
Schiller und Bebels ‚Frau’” ist nicht Schillers Gedicht, sondern Bebels
Schrift „Die Frau und der Sozialismus” (1879,501910).
Wenn Sie mir ausnahmsweise eine saloppe Beschreibung gestatten: Bei Stettenheims
Text entsteht in einem hehren Schiller-Gedicht als Gefäß ein
hochbrisantes Gemisch aus progressiver und konservativer Stellungnahme
zur „Frauenfrage” am Ende jenes Jahrhunderts, das an seinem Beginn diese
Frage überhaupt auf die ‚Tagesordnung’ gesetzt hatte. Ich zitiere
dazu nur ein Wort, um die Brisanz der Mixtur und damit auch des Stettenheimschen
Textes zu illustrieren – ein Wort von Clara Zetkin, das sie aus Anlaß
des 70. Geburtstages August Bebels und der 50. deutschen Auflage seiner
Schrift im „Vorwärts” publiziert hat (Verweyen/Witting: Die Kontrafaktur,
1987, S. 108f.):
„Bebel zerstört
in seinem Werk die Legende, als ob die Ausbeutung und Unterdrückung
von Menschen durch Menschen ein unentrinnbares Los sei, das die Natur selbst
heilige und verewige. Er zerstört sie aufs gründlichste, indem
er ihre Lügenhaftigkeit dort nachweist, wo angeblich der Menschen
tiefstes Sein selbst die einen zur Herrschaft, die anderen zur Unterwerfung
bestimmt: in dem sozialen Verhältnis von Mann und Weib. Nicht die
Natur hat es nach unwandelbaren Gesetzen geordnet; wie andere Beziehungen
von Mensch zu Mensch ist es das Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse”.
Nun, ich habe Sie mit diesem Zitat
aus Clara Zetkins Glückwunschartikel neugierig machen wollen auf das,
was wir im „Kontrafaktur”-Buch ausführlicher dargestellt haben – Sie
sollten es dort nachlesen, zumal dort auch analysiert ist, wie dieser Bezug
und andere Kontexte im Text Stettenheims verarbeitet sind. An dieser Stelle
sei nur noch angedeutet, daß in „Würde der Bebelinen” der mit
'Bebel' thematisierte progressive Kontext Gegenstand der Kritik und der
mit ‚Schiller’ thematisierte und mit der Schillerschen Form des Gedichtes
repräsentierte Rückbezug zugleich Basis, Medium und Norm der
Kritik sind. Es handelt sich im Falle des Stettenheimschen Nachfolgetextes
also nicht um ein Klassik-kritisches Mittel, sondern im Gegenteil um eine
satirische Kritik des zeitgenössischen Bildes von der ‚sozialistischen’
Frau – mithin um eine Kritik, bei der im überlieferten Ausgangstext,
in Schillers „Würde der Frauen”, die zur Norm erhobene Gegenbildlichkeit
vorgegeben erscheint. Folglich: Komik und Kritik am Neuen erfolgt aus dem
Geist des zählebigen Alten; dies ist die Tendenz und Botschaft der
Stettenheimschen Adaption.
Das hier zugrundeliegende Verfahren
einer satirischen Ausnutzung der Möglichkeiten der Schreibweise ‚Kontrafaktur’
haben wir übrigens schon im „Silbermarkenevangelium” oder auch in
„Des bapst pater noster” kennengelernt. Eine Vielzahl von Texten satirischer
Kontrafaktur vom Mittelalter bis zur Gegenwart ist im „Kontrafaktur”-Buch
angedeutet32.
Damit sei hier das Kapitel, das uns weit ins 19. Jahrhundert hineingeführt
hat, abgeschlossen.
e) Kritische Schiller-Rezeption
im 20. Jahrhundert: Peter Rühmkorfs „Lombard gibt den Letzten” als
Beispiel
Es ist wirklich problematisch, das
Thema ‚Schiller, die Parodie und das 20. Jahrhundert’ an einem einzigen
Beispiel parodistischer Kritik demonstrieren zu wollen. Ein Blick in die
Sammlung der „Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland”,
die Norbert Oellers unter dem Titel „Schiller – Zeitgenosse aller Epochen”
1976 publiziert hat, kann ja schon hinreichend belehren, einen solchen
Versuch von vornherein als gescheitert bzw. undurchführbar erscheinen
zu lassen. Selbst Gedanken an eine irgendwie geartete Repräsentativität
des gewählten Beispiels sind zurückzuweisen. Wenn ich dennoch
die Konstellation ‚Schiller, Parodie, Rühmkorf’ gewählt habe,
so geschah dies nicht, um einer hier an Schiller orientierten Parodie-Reihe
Genüge zu tun. Es geht um anderes, das sich hoffentlich im Zuge der
knappen Darlegungen zeigt.
1955 bzw. 1959 jährten sich Gedenktage
Schillers. Der 150. Todestag bzw. der 200. Geburtstag des Klassikers waren
Anlässe akademischer und gesellschaftlicher Feiern im ganzen gespaltenen
Deutschland. Norbert Oellers referiert in der Einleitung zu seiner Sammlung,
die rezeptionsgeschichtlichen Zeugnisse synthetisierend, die Lage:
N. Oellers: Schiller
– Zeitgenosse, Teil II, 1976, S. LII-LV: „Der 150. Todestag … begeistern
lassen.” Ferner: „Benno von Wiese warnte … rücken könnten.” Schließlich:
„Die Lawine … über Schiller.” Und: „Ist Schiller … De-Luxe-Etui. ”33
Schiller ist den Zeugnissen und ihren
Auswertungen nach also in der Nachkriegsgesellschaft der 50er und 60er
Jahre durchaus noch gegenwärtig – wenn auch auf sehr verschiedene
Weise. Was kann nun Rühmkorf motiviert haben, auf den derart präsenten
Schiller noch Anfang der 70er Jahre parodistisch zurückzugreifen und
kritisch zu verarbeiten?
Vorab einige biographische Bemerkungen
zu Rühmkorf.34Der
Autor (geb. 1929), zunächst als Lyriker und Essayist von großen
Gnaden und als streitbarer Zeitgenosse Hans Magnus Enzensbergers, Günter
Grass’ und Walter Höllerers hervorgetreten, beginnt in der Zeit der
Großen Koalition (seit 1963), sich von der Lyrik abzuwenden, im Zweifel
an ihrer gesellschaftlichen Relevanz, und über das Theater eine neue
Synthese zwischen seiner politischen und literarischen Existenz zu suchen.
Er verfaßt äußerst gesellschaftskritische Theaterstücke,
die in vielem an das Lehrstücktheater und die marxistisch orientierten
Parabelstücke Bertolt Brechts der späten 20er Jahre erinnern,
ja womöglich sogar an sie anschließen: „Was heißt hier
Volsinii?” (1969), „Lombard gibt den Letzten” (1972) und „Die Handwerker
kommen” (1974). Alle Stücke erscheinen in der Zeit der von der Studentenrevolte
erschütterten und bewegten Bundesrepublik Deutschland und erhalten
von ihr her ihr gesellschaftskritisches und genauer: in marxistischer Gesellschaftskritik
motiviertes Kritikpotential – ein Kritikpotential freilich, das nie von
dem Anspruch der Kunst auf Freiheit gegenüber allen unmittelbar pragmatischen
Bindungen und Fesseln der Kunst entbunden wird.
Das „Schauspiel” „Lombard gibt den
Letzten” (1972) ist also eines dieser scharf-kritischen Theaterstücke,
in denen die mit dem dünnen ‚ästhetischen’ Firnis bildungsbürgerlicher
Wertvorstellungen überzogene kapitalistische Wettbewerbs- und Verdrängungsgesellschaft
Gegenstand und Thema der gesellschaftskritischen Darstellung wird. Das
achte Bild des II. Aktes ist dafür eine charakteristische Szene: Während
Willi, der ehemalige Oberkellner und jetzige Gipfelwirt, Polterabend feiert,
ist der wirtschaftliche Verdrängungs- und Vernichtungsprozeß
durch den Kapitalistenherrn mit dem sprechenden Namen Lombard schon längst
im Gange. Nur die ‚idealistischen’ „Freuden”- und „Menschheits”-Gesänge
eines F. Schiller aus dem Munde des Werbetexters und -barden beim Gipfelwirt,
Alfredo, können für eine kurze Weile noch darüber hinwegtäuschen.
Friedrich
Schiller
An die
Freude.
Freude, schöner
Götterfunken,
Tochter aus
Elysium,
Wir betreten
feuertrunken
Himmlische,
dein Heiligtum.
Deine Zauber
binden wieder,
Was der Mode
Schwert geteilt;
Bettler werden
Fürstenbrüder,
Wo dein sanfter
Flügel weilt.
CHOR
Seid umschlungen,
Millionen!
Diesen Kuß
der ganzen Welt!
Brüder
– überm Sternenzelt
Muß ein
lieber Vater wohnen.
Wem der große
Wurf gelungen,
Eines Freundes
Freund zu sein;
Wer ein holdes
Weib errungen,
Mische seinen
Jubel ein!
Ja – wer auch
nur eine Seele
Sein
nennt auf dem Erdenrund!
Und wers nie
gekonnt, der stehle
Weinend sich
aus diesm Bund!35
Peter Rühmkorf
Lombard
„Achtes
Bild
Polterabend
im Walde. Unterschiedlichstes Publikum. Eurydike tanzt um die Karre. Bei
Chorgesängen allgemeiner Bacchantenreigen. Alfredo singt. Großes
Orchester.
ALFREDO: Freude
schöner Götterfunken
Tochter aus
Elysium
Wir betreten
branntweintrunken
Taumelnd ein
Panoptikum
Mann und Miez
und Geiß und Gockel
Drehn sich bis
der Himmel kreist
Und der dicke
Festlandsockel
Mit dem Fuß
nach oben weist.
CHOR: Wolken
wandern uns zu Füßen
In den Fingern
braust die See
Jubelnd als
Vermählte grüßen
Alfred und Eurydike.
Willi mit
herabbaumelnden Beinen am Bergsturz. Neben ihm eine Flasche. Der Doktor:
sehr aufgeräumt.
DOKTOR (mit
dem Stock an Willis Knöpfen abzählend): Verliebt, verlobt,
verheirat’, geschieden, gestorben – Kopf hoch, Herr Willi, solche Stunden
gehn vorüber.
WILLI (mit
irrem Blick): Sie ?! – Sie kennen die Liebe nicht, Sie Ferkel von einem
Betreuer.
DOKTOR: Mein
lieber Freund! – Ich bin hier unter anderem als Spezialist für Haut-
und Geschlechtskrankheiten tätig geworden. Das heißt, ich verfüge
über Einblicke in ein Material, gegen das all Ihre Herzensqualen Kinderkrankheiten
sind.
WILLI: Bestie!
DOKTOR: Beruf
ist Beruf.
WILLI: ’n schönes
Arbeitsethos. Sie ziehn hier pausenlos Geld aus andrer Leute zwischenmenschlichen
Beziehungen, wissen Sie wie ich das nenne? Das ist die Wissenschaft als
Oberlude.
DOKTOR: Aber
sachte! Ich deck hier immerhin einen ganzen Berg voll Unzucht mit meinem
guten Namen. Der hatte nämlich schon Klang, als der Ihre noch mit
Geschirr klapperte. – (Als keine Antwort erfolgt, besorgt) Herr
Willi. Ich kenn da rund gesagt hundert Klienten, die einer Verbindung mit
Ihnen lieber heut als morgen zustimmen würden. Hängen Sie Ihr
kostbares Herz doch nicht an solche Einzelheit.
WILLI: Reden
Sie nicht. Sie haben nachweislich den halben Berg hier oben abgevögelt.
Über die Liebe – kein Wort mehr mit Ihnen.
DOKTOR: Welche
Menschenverachtung da aus Ihnen spricht.
WILLI: Für
Sie sind alle gleich.
DOKTOR: Richtig.
Da bin ich in gewisser Hinsicht eisern Demokrat. Mit Abstrich, versteht
sich. Immer hübsch mit Abstrich.
WILLI (weinerlich):
Eu – ry – dike! –
DOKTOR: Ich
glaube, mit Ihnen geht es heute wirklich bergab. Sie halten ja schon nicht
mal mittleren Zusammenbrüchen mehr stand.
Unten bewegte
Szene, Soli, Chöre, Tänze mit Laubgirlanden.
ALFREDO: Maßlos
mystisch prall proteisch
All Säfte
ausgetauscht
Bis in die Seele
überseeisch
An die andern
Ufer rauscht –
Zur Vermählung
aufgerufen
Deckt sich was
sich nie gemischt
Sämtliche
Vermarktungsstufen
Für einander
aufgetischt.
CHOR: Haare
Schuppen Fell und Federn
Sprühen
Funken wie noch nie
Und aus den
verstauchten Rädern
Bricht des Gottes
Energie.”36
Nun, das dominante parodistische Verfahren
dürfte klar sein: mittels Substitutionen wird den idealistischen Bildern
weltbürgerlicher Gemeinschaft, Geselligkeit und Menschheitsbeglückung
der unwirtliche Boden kapitalistischer Profit- und Hackordnungen unterlegt
– mit dem Effekt versachlichend-banalisierender Herabwürdigung des
Idealischen. Das achte Bild des II. Aktes endet mit dem Chorlied des Großchores:
Klassenschranken,
schwer zu leugnen,
Werden weich
und ungenau –
Brüder,
überm Überbau
Wird ein großer
Gott enteignen.37
Warum nun aber gerade Texte Schillers
für solche Strategien kritischer Auseinandersetzung und Geltungsdepotenzierung
herangezogen werden, soll andeutungsweise miterklärt werden, wenn
ich u. a. auf Bertolt Brecht zu sprechen komme.
1
Goethe: Byrons Don Juan, in: Werke, Weimarer Ausgabe (WA) I/41, Weimar
1902, S. 245-249, hier S. 248; vgl. Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979,
S. 35.
2
Goethe: Tag- und Jahres-Hefte, von 1807-1822, in: Werke, WA I/36, Weimar
1893, S. 176: im Jahr 1820; vgl. Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S.
34.
3
Vgl. Verweyen/Witting: Walpurga, 1989, S. 473.
4
Goethe: Über die Parodie bei den Alten (1824), in: Sämtliche
Werke. Jubiläums-Ausg., Bd. 37, S. 290-293. Die Überschrift stammt
von Johann Peter Eckermann, der drei auf 1823, 1824 und 1827 datierbare
Textteile redaktionell überarbeitete und 1833 erstmals veröffentlichte.
In: Werke, WA I/42, 2, Weimar 1907, S. 465-471 sind die drei Bruchstücke
unter der Überschrift "Zum Kyklops des Euripides" abgedruckt (vgl.
bes. S. 471).
5
Friedrich Schiller: Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen
in der Kunst (1802), in: Sämtliche Werke. Säkular-Ausg., hrsg.
v. E. von der Hellen, Stuttgart/Berlin o.J., Bd. 12, S. 283-290.
6
Ebd., Bd. 12, S. 285f. Vgl. Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 49.
7
Siehe dazu Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, 49f.
8
Wolfdietrich Rasch: Goethes "Iphigenie auf Tauris" als Drama der Autonomie,
München 1979, S. 189 (Anm. 3).
9
Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 162-167; vgl. Verweyen/Witting:
Lyrik-Parodien, 1983, S. 255f.
10
Heinrich Heine: Sämtliche Werke, hrsg. v. Ernst Elster, Bd. 3, Leipzig
und Wien o.J., S. 97f.; vgl. Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 163f.
11
Benno von Wiese: Heine und Schiller, in: Jahrbuch d. Dt. Schillerges. 20,
1976, S. 448-463.
12
Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1961, S. 28. Vgl.
Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 91f.
13
Daß ich die Arbeit von Bernd Anton: Romantisches Parodieren. Eine
spezifische Erzählform der deutschen Romantik, Bonn 1979, in die Darstellung
der Parodie in der Romantik nicht mit einbeziehe, erkärt sich aus
der romantischen und von B. Anton fortgesetzten Universalisierung des "Parodie"-Begriffs,
so daß dieser seinen speziellen Deskriptionsgehalt verliert; man
vergleiche etwa, ebd. S. 45, wie er "zuerst im traditionellen Gattungssinn
und im Sinne einer Kontrafaktur ‘das Ganze parodirt‘, erst später
dann im zweiten Teil sich in die romantische Optik verlagert. Wie dem auch
sei, die Parodie ist Kritik im Gewand der Dichtung, wobei mit Kritik nicht
die verkehrend-satirische gemeint ist, wie sie die Gattung kennzeichnet,
sondern jenes erkenntnisfördernde Potenzierungsmoment, das zur allgemeinen
Signatur romantischer Kunst gehört wie zu den besonderen Integrationsmitteln
einzelner Romane, sofern sie die Poetisierung des Lebens durch ein Simulationsverfahren
ins Werk zu setzen versuchen. – Das Parodieren simuliert Leben im Werk,
will die Einheit der Wirklichkeitsmodalitäten dadurch erreichen, daß
es eine ästhetisch umgesetzte historische Wirklichkeit für und
durch die dichterische Einbildungskraft noch einmal objektiv macht. Es
leistet mit einem Begriff Schlegels ‘das Mimische‘." Verstehe dies, wer
will oder kann. Begriffshygiene tut bitter not.
14
Herbert Singer: Hoffmann, "Kater Murr", in: Benno von Wiese (Hrsg.): Der
deutsche Roman, Bd. 1, Düsseldorf 1963, S. 301-328, hier bes. S. 302-310.
15
Ludwig Marcuse: Heines Parodien, Heine-Parodien, in: Text + Kritik (Heinrich
Heine) 1968, S. 43f. – Vgl. Benno von Wiese: Mythos und Mythentravestie
in Heines Nordseegedichten und in seinem Gedicht "Unterwelt", in: Helmut
Koopmann (Hrsg.): Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts,
Frankfurt/M. 1979, S. 123-140, bes. S. 135ff.
16
Vgl. v. Wiese: Mythos, S. 130f.
17
Vgl. v. Wiese: Mythos, S. 134; siehe auch B. v. Wiese: Signaturen. Zu Heinrich
Heine und seinem Werk, Berlin 1976, S. 167ff.
18
Verweyen/Witting haben das Gedicht in die "Lyrik-Parodien", Reclam, 1983,
S. 78-82 aufgenommen und ebd. S. 206-207 mit Erläuterungen versehen;
s. die Ausgabe E. Elster, Bd. 1, S. 286-289.
19
Vgl. v. Wiese: Mythos, S. 137.
20
Vgl. Marcuse: Heines Parodien, S. 43f.
21
Vgl. v. Wiese: Mythos, S. 137.
22
Vgl. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis
zur Gegenwart, Hamburg 1960 (= rde 25), s.v. "Idealität", "Transzendenz";
bei H. Friedrich natürlich nicht in Bezug auf H. Heine gesagt.
23
Jürgen Hein (Hrsg.): Parodien des Wiener Volkstheaters, Stuttgart
1986 (= RUB 8354).
24
Hein: Parodien, S. 377f.
25
Hans Grellmann: Art. "Parodie", in: RL1,
1926/28, S. 650.
26
Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 198f.
27
Dieter Borchmeyer u. Stephan Kohler (Hrsg.): Wagner-Parodien, Frankfurt/M.
1983 (= it 687).
28
Manfred Eger: Richard Wagner in Parodie und Karikatur, in: Ulrich Müller
u. Peter Wapnewski (Hrsg.): Richard-Wagner-Handbuch, Stuttgart 1986, S.
760-776, hier S. 760; S. 768 auch zu F. Mauthners Parodie auf den Dichter
R. Wagner.
29
Christian Grawe (Hrsg.): "Wer wagt es, Knappersmann oder Ritt?" Schiller-Parodien
aus zwei Jahrhunderten, Stuttgart 1990.
30
Leider sind auch die folgenden Arbeiten ziemlich fahrlässig gegenüber
einer strikteren Begriffsexplikation, obwohl in ihnen unsere terminologischen
Vorschläge vorkommen; vor allem unsere funktionsorientierten Bemühungen
sind in der Regel nicht erkannt: vgl. Beate Müller: Komische Intertextualität.
Die literarische Parodie, Trier 1994 (Diss. Bochum 1993) – siehe dazu die
Rezension von Gunther Witting, in: Arbitrium 15, 1997, S. 10-13; vgl. Waltraud
Wende: Goethe-Parodien. Zur Wirkungsgeschichte eines Klassikers, Stuttgart
1995 (Habilitationsschrift Siegen): diese Arbeit behandelt ausnehmend viele
Mignonlied-Adaptionen, die wir, so denke ich, mit guten Gründen unter
"Kontrafaktur" subsumiert haben, wieder als Parodien.
31
Verweyen/Witting: Die Kontrafaktur, 1987, S. 107ff.
32
Vgl. Verweyen/Witting: Die Kontrafaktur, 1987, S. 113ff.
33
Norbert Oellers (Hrsg.): Schiller – Zeitgenosse aller Epochen. Dokumente
zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland, Teil II: 1860-1966, München
1976, S. LII-LV.
34
Verweyen/Witting: Art. "Rühmkorf, Peter", in: Walther Killy (Hrsg.),
Literatur Lexikon, Bd. 10, Gütersloh/München 1991, S. 66-67.
35
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert
G. Göpfert, Bd. 1, München 41965,
S.133-136, hier S. 133: V. 1-20; die Ode ist 1786 in der "Thalia" erschienen.
36
Peter Rühmkorf: Lombard gibt den Letzten. Ein Schauspiel, Berlin 1972,
S. 50f.
37
Rühmkorf: Lombard, S. 54.
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