Goethe Ede Ede Hauptverzeichnis



 
Theorie und Geschichte der Parodie / Teil II

von Theodor Verweyen




Inhaltsverzeichnis:

I. Einführung und Begründung des Vorlesungsgegenstandes
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
1. „Parodie”: Geschichte der Wortverwendung
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
2. „Kontrafaktur”: Terminologische Erneuerung eines Begriffs der Literaturgeschichte
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
3. Terminologische Entscheidungen zu „Parodie” und „Kontrafaktur”
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
4. Parodie und Urheberrecht
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 1. Die pseudo-homerische „Batrachomyomachia” als Beispiel hellenistischer Epos-Parodie
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 2. Die Parodie im Mittelalter: am Beispiel parodistischer Verarbeitungen in Heinrich Wittenwilers „Der Ring”
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 3. „Die Dunkelmännerbriefe” („Epistolae obscurorum virorum”): ein Beispiel humanistischer Satire und Parodie
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 4. Parodie und Travestie im barocken Roman: Grimmelshausens „Simplicissimus Teutsch”
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie:
1. Friedrich Nicolai: „Eyn feyner kleyner Almanach” - Parodie aus dem Geist der Aufklärung
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie:
2. Die Parodie als Klassik-kritisches Mittel: am Beispiel einer Schiller-Parodie A.W. Schlegels aus der Zeit um 1800
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie:
3. Parodistische Literaturkritik im 19. und 20. Jahrhundert: von Ludwig Eichrodt bis Eckhard Henscheid
Literaturhinweise

Verweis Lenore fuhr ums Morgenrot
Die Parodie-Sammlung der Erlanger Liste.
 
 

II. Begriffsgeschichten und Begriff

1. „Parodie”: Geschichte der Wortverwendung

a) Vorbemerkungen

Dazu möchte ich vorweg einige Hinweise geben, die wir alle miteinander in Zukunft beherzigen sollten. Die Erläuterung betrifft die doppelten Anführungszeichen bei „Parodie” im Titel. Diese können ja eine sehr unterschiedliche Funktion haben: z. B. daß das durch sie Markierte als Zitat kenntlich, als Verwendung fremder Rede erkennbar bleiben soll; dabei kann das mit dieser Markierung Gekennzeichnete in zustimmender oder distanzierender Absicht angeführt sein. Den doppelten Anführungszeichen kann aber auch eine Funktion zukommen, die auf wissenschaftssprachlichen Vereinbarungen insbesondere der sprachanalytischen Philosophie beruht. Und auf diese Konvention beziehen wir uns hier bei der Verwendung der doppelten Anführungszeichen (oder auch bei unterlassener Verwendung im Zusammenhang mit Ausdrücken).

Spreche ich danach im Rahmen dieser Vorlesung über die Parodie oder die Travestie oder die Kontrafaktur, dann spreche ich zu Ihnen entweder konkret über einzelne Texte, die eine Parodie oder Travestie oder eine Kontrafaktur zu sein scheinen, oder konkret über ganze Gruppen von Texten, die ich als Parodien oder als Travestien oder als Kontrafakturen glaube voneinander unterscheiden und untereinander zusammenfassen zu dürfen. Mit anderen Worten: ich bewege mich bei solchen Unterscheidungen und Ordnungsversuchen auf der Objekt-Ebene. Welche Relevanz solche Unterscheidungen und Ordnungsversuche bis in die konkrete literarische Kommunikation über Texte hinein haben, wird sich dann später zeigen.

Spreche ich demgegenüber über „Parodie” oder über „Travestie” oder über „Kontrafaktur”, dann spreche ich zu Ihnen über Begriffe oder zunächst genauer über Ausdrücke: und zwar über die Etymologie, d. h. die Entstehung des Wortes „Parodie” (etc.), über die Verwendung des Wortes „Parodie” in bestimmten geschichtlichen Zusammenhängen synchroner Art, ferner über die diachrone Geschichte der Verwendung des Wortes, über den aktuellen Wortgebrauch und gelegentlich, in der Literaturwissenschaft, eben über die Genauigkeit, die Brauchbarkeit, den Sinn definierter Ausdrücke, die als definierte dann „Begriffe” oder „Termini” genannt werden. Mit anderen Worten: ich bewege mich bei solchen Begriffsgeschichten oder zunächst genauer, bei solchen wortverwendungsgeschichtlichen Beschreibungen, auf der Meta-Ebene.

Welchen Sinn es macht, sich gelegentlich von der Objekt-Ebene auf die Meta-Ebene zu begeben, möchte ich hier nun nicht abstrakt erörtern. Das wird sich hoffentlich im Laufe der weiteren Vorlesungsstunden ergeben, wobei die Kapitelüberschrift „Begriffsgeschichten und Begriff” freilich anzeigen soll, daß ich entschieden der Auffassung bin, Literaturwissenschaft sei wie jede andere wissenschaftliche Disziplin dazu verpflichtet, über ihr Reden und dann eben auch über ihre Wortgebräuche argumentativ und begründet Auskunft zu geben, sich also auch auf der Meta-Eben zu bewegen.

Ich möchte hier noch einen wissenschaftssprachlichen Sonderfall, der in unseren Zusammenhang gehört, kurz ergänzen. Spreche ich nämlich von ‚Parodie’ oder von ‚Travestie’ oder von ‚Kontrafaktur’, dann zeige ich durch eine solche Markierung des jeweiligen Ausdrucks mit einfachen Anführungszeichen an, daß da eine gewisse Vorbehaltlichkeit, Unbestimmtheit, Unsicherheit, Problematik zwischen Objekt- und Bezeichnungsebene vorliegt. Die Markierung mit einfachen Anführungszeichen soll in solchem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, daß das Wort ‚Parodie’ (etc.) noch uneigentlich verwendet, noch vorkritisch, d. h. als noch nicht eingeführter Ausdruck gebraucht wird.

b) Zur Geschichte der Wortverwendung von „Parodie”: illustriert mit zwei Textbeispielen

Wortverwendungsgeschichtliche Beschreibungen haben als Hintergrund selbstverständlich jene etwas abstrakteren wissenschaftssprachlichen Probleme; sie bilden, wenn auch nicht immer ausdrücklich, eine der Leitlinien der Beschreibung, bei denen ich zunächst einmal mit zwei Textbeispielen, also von der Objekt-Ebene aus, operiere. Im Zusammenhang mit der Parodie und ‚verwandten’ Textsorten müssen dies notgedrungen Beispielpaare sein, da ja immer der intertextuelle Bezug von Vorlage und Verarbeitung gegeben sein muß.

Das erste Beispiel: Am 15. November 1896 erschien in der literarischen Halbmonatsschrift „Wiener Rundschau” ein Gedicht von Hugo von Hofmannsthal, das bei späteren Veröffentlichungen den Titel „Lebenslied” erhielt und bei seiner ersten Publikation in jener Literaturzeitung eine unglaubliche Resonanz fand. Schon anderthalb Monate nach Erscheinen des Gedichtes berichtete Karl Kraus, einer der scharfsichtigsten Beobachter seiner Zeit, in einem „Wiener Brief” an die „Breslauer Zeitung” (es ist der 3. Januar 1897):1

„Eine Sensation [...] seltener Art ist uns vor Jahreswechsel beschert worden. Die Ansicht, ein modernes Lesepublikum bringe der Lyrik kein Interesse entgegen, wurde in sämtlichen Wiener Gesellschaftszirkeln mit einem Schlage gründlich desavouiert. Ein Gedicht hat die ganze Stadt in fieberhafte Aufregung versetzt [...]. Eine Zeit lang mochte man in ein x-beliebiges Kaffeehaus, in was immer für einen Salon eintreten, hier versuchten bei fliegendem Tee mondäne Damen eine Interpretation der dunklen Verse, dort war man sicher, eine Gesellschaft anzutreffen, die, um den runden Tisch versammelt, eben mit dem Buchstabieren der ersten Strophe beschäftigt war [...].”

Über diese Hinweise hinaus bemerkt Karl Kraus zudem völlig zutreffend, daß sich die literarische Publizität eines Textes nicht selten an der Häufigkeit seiner parodistischen Verarbeitung ablesen lasse:

„Von dem heiteren Aufsehen, welches die Verse des jungen Dichters hervorgerufen hatten, mußten die Tagesblätter in ihrem lokalen Teile Notiz nehmen, und die Papierkörbe der Redaktionen konnten die Unzahl der Parodien nicht fassen, die jede in ihrer Weise den Zusammenhang zwischen dem Erben, den drei Tieren und dem Salböl der verstorbenen alten Frau zu erklären bemüht war.”

Spätestens an dieser Stelle ist zunächst einmal das Gedicht, das „Lebenslied” des fast 23jährigen Hofmannsthal vorzutragen. Dabei muß ich Sie bitten, die Erinnerung an die Kraussche Beschreibung der Wiener Gesellschaft vor der Jahrhundertwende gegenwärtig zu halten; so bleibt das dunkle Gedicht doch in seiner Bezüglichkeit zur Fin de siècle-Gesellschaft erkennbar und so wird auch bei aller Dunkelheit des Sprechens das Exotische und das Jugendstilhaft-Morbide ebenso wie das Erlesene und die in der Geste des Memento mori beschworene Lebensgier der Epoche sichtbar:2

Lebenslied

Den Erben laß verschwenden
An Adler, Lamm und Pfau
Das Salböl aus den Händen
Der toten alten Frau!
Die Toten, die entgleiten,
Die Wipfel in dem Weiten –
Ihm sind sie wie das Schreiten
Der Tänzerinnen wert!

Er geht wie den kein Walten
Vom Rücken her bedroht.
Er lächelt, wenn die Falten
Des Lebens flüstern: Tod!
Ihm bietet jede Stelle
Geheimnisvoll die Schwelle;
Es gibt sich jeder Welle
Der Heimatlose hin.

Der Schwarm von wilden Bienen
Nimmt seine Seele mit;
Das Singen von Delphinen
Beflügelt seinen Schritt:
Ihn tragen alle Erden
Mit mächtigen Gebärden.
Der Flüsse Dunkelwerden
Begrenzt den Hirtentag!

Das Salböl aus den Händen
Der toten alten Frau
Laß lächelnd ihn verschwenden
An Adler, Lamm und Pfau:
Er lächelt der Gefährten. –
Die schwebend unbeschwerten
Abgründe und die Gärten
Des Lebens tragen ihn.

Auf dieses Gedicht bezog sich, wie Karl Kraus schreibt, „die Unzahl der Parodien”, die „die Papierkörbe der Redaktionen ... nicht fassen” konnten. Und eine dieser Verarbeitungen hat er in seinem „Brief” selber mitgeteilt und somit auch für die Nachwelt erhalten:

Den Adler laß verschwenden
An Erben, Lamm und Frau
Das Salböl aus den Händen
Des toten alten Pfau ...3

Karl Kraus, der wie keiner zu seiner Zeit Verfahren der Sprachverwendung und literarischen Textbildung durchsichtig zu machen verstand, hat bei diesem Text völlig richtig erkannt, daß dessen Anliegen sei, „die Unverständlichkeiten zu permutieren”: eine ungemein genaue Beobachtung („permutieren”!). Dies ‚Permutieren’ geschah hier nun freilich nicht in der Absicht (wie es etwa in der Konkreten Poesie geschah), das Sprachproblem als solches vorzuführen, sondern um einen komischen Effekt zu erzielen, bei dem der abgründige Tief-Sinn der Vorlage in vordergründigen Un-Sinn verkehrt wird. Die Verarbeitung richtet sich mit bestimmten Mitteln komisierender Herabstimmung gegen die Vorlage und deren Anspruch, eine Deutung des Lebens anzubieten (daher „Lebenslied”). Es scheint nur konsequent, daß Karl Kraus in einer solchen, auf formaler wie inhaltlicher Ebene operierenden antithematischen Verarbeitung eine Parodie sieht und hier auch tatsächlich von „Parodie” spricht.

Dies wird gewiß noch unterstrichen durch eine andere zur „Unzahl der Parodien” gehörende ‚Nachahmung’ des „Lebensliedes”; zu deren besserem Verständnis gebe ich zuvor eine Erinnerung des Wiener Autors Felix Salten wieder:

„Ein sehr gutmütiger Mann, Bankier und literarisierender Dilettant, kam ins Kaffeehaus, ließ sich stöhnend in einen Sessel fallen und klagte: Ich kann das nicht mehr ertragen. Überall soll ich erklären, was das zu bedeuten hat, wenn der Erbe das Salböl aus den Händen der toten alten Frau an Adler, Lamm und Pfau verschwendet. Wie soll ich das erklären? Ich geb’ mir jede Mühe – und ich versteh’ den Blödsinn ja selber nicht.”4

Dieses Stückchen Kontext mag dazu dienen, die folgende Verarbeitung etwas verständlicher zu machen – eine Verarbeitung übrigens, die auf einem Karnevalsfest einer studentischen Verbindung in Wien 1897 vorgetragen wurde und die allein schon durch diesen speziellen Situationskontext eher Ungutes für Hofmannsthals dunkles „Lebenslied” ahnen läßt:

Du willst das nicht begreifen?
Nun wohl, so hör mich an:
Auf schäbiges Salböl pfeifen
Ein jeder Erbe kann;
Die alte Frau, die kränkt’s nicht,
Denn die ist tot und still,
Und schließlich kann man salben
Und ölen, wen man will!5

Die „antithematische” Behandlung dieses Textes erfolgt in doppelter Richtung. In der einen liegt die Empfehlung, die Verse der Vorlage von der heiteren Seite zu nehmen und ihren hohen Anspruch ins Leere laufen zu lassen. In der anderen Richtung liegt eine bestimmte und besonders wirksame Weise der Konkretisierung vor, nämlich die Überführung des vielfältig deutbaren Tief-Sinns der Vorlage in den einen eindeutigen Sinn der erotisch-sexuellen Sphäre des Nachfolge-Textes. Dabei sollte ich hinzufügen, daß gerade die Schlußverse der Verarbeitung – für den Kenner der literarischen Pornographie um 1900 in Wien besteht daran kein Zweifel – den Kontakt zur sprachlichen Schicht der in jenen Jahren erschienenen fiktiven Lebensbeichte der Mutzenbacher (vielleicht von Felix Salten) herstellen sollen. Der in doppelter Weise erzielte herabstimmende Effekt läßt eigentlich mit guten Gründen die Zuordnung eines solchen Textes zur Textsorte der Parodie zu. (Eine solche Zuordnung hat z. B. der Verfasser und Arrangeur Hans E. Goldschmidt des Buches „Quer sacrum” [statt des Buchtitels „Ver sacrum”] vorgenommen.

Das zweite Beispiel: Dieses Beispiel – ein Gedicht von Martin Opitz und seine „Nachöhmungen” durch eine Vielzahl literarischer Zeitgenossen – führt in eine ganz andere Epoche des literarischen Selbstverständnisses und der literarischen Praxis. Dabei ist es mit der Bezeichnung „Barock” hier nicht getan, um der literarhistorischen Komplexität dieser Zeit überhaupt gerecht zu werden. Neuere Forschungen internationalen und interdisziplinären Zuschnitts haben vielmehr zeigen können, daß die Literatur des Barock in Traditionen steht, deren Wurzeln in die Antike ebenso wie in die byzantinische Zeit zurückreichen. Ein besonders kennzeichnendes Merkmal dieser Traditionen und der in ihnen wurzelnden Barockliteratur ist dabei der ‚Glaube’ an die „auctoritas”, an den Vorbildcharakter der literarischen Mustertexte und Textmuster „der Alten”. Dies ist zu berücksichtigen, wenn man die Tatsache erklären will, daß z. B. ein Gedicht des Martin Opitz zum Gegenstand unglaublich vielfacher und vielfältiger ‚Nachahmungen’ wird. Zunächst wieder das Original, hier von Martin Opitz6:

Ode.

Ich empfinde fast ein grawen
Das ich / Plato / für vnd für
Bin gesessen vber dir;
Es ist zeit hienauß zue schawen /
Vnd sich bey den frischen quellen
In dem grünen zue ergehn /
Wo die schönen Blumen stehn,
Vnd die Fischer netze stellen.

Worzue dienet das studieren /
Als zue lauter vngemach?
Vnter dessen laufft die Bach
Vnsers lebens das wir führen /
Ehe wir es innen werden /
Auff jhr letztes ende hin;
Dann kömpt (ohne geist vnd sinn)
Dieses alles in die erden.

Hola / Junger / geh‘ vnd frage
Wo der beste trunck mag sein;
Nim den Krug / vnd fülle Wein.
Alles trawren leidt vnd klage /
Wie wir Menschen täglich haben
Eh' vns Clotho fortgerafft
Wil ich in den süssen safft
Den die traube giebt vergraben.

Kauffe gleichfals auch melonen /
Vnd vergiß des Zuckers nicht;
Schawe nur das nichts gebricht.
Jener mag der heller schonen /
Der bey seinem Gold vnd Schätzen
Tolle sich zue krencken pflegt
Vnd nicht satt zue bette legt;
Ich wil weil ich kan mich letzen.

Bitte meine guete Brüder
Auff die music vnd ein glaß
Nichts schickt / dünckt mich / nicht sich baß
Als guet tranck vnd guete Lieder.
Laß ich gleich nicht viel zue erben /
Ey so hab‘ ich edlen Wein;
Wil mit andern lustig sein /
Muß ich gleich alleine sterben.

Dieses Gedicht steht in einer Schrift, die ihrem Verfasser – es ist Martin Opitz selbst – nicht ohne Grund schon im 17. und selbst noch im 18. Jahrhundert, hier durch den Gottsched-Kreis, den Ruhmestitel „Vater der deutschen Dichtung” eingetragen hat. Bei der Schrift handelt es sich um das „Buch von der Deutschen Poeterey”, verlegt Breslau, erschienen Ende 1624. Sie begründete nicht nur eine eigene Gattungsreihe: nämlich die Reihe ‚Poetik’, sondern legte vielmehr noch das Fundament für eine Sprach- und insbesondere Literaturreform, deren Bedeutung für die Begründung der deutschen Sprache als Literatursprache nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Bereits durch den speziellen wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich bedingten Kontext der „Poetik” konnte das Gedicht „Ich empfinde fast ein grawen” eines gewissen Mitruhms sicher sein, auch einer gewissen Vorbildhaftigkeit, die es für die von der „imitatio veterum” bestimmte literarische Nachahmungspraxis nachdrücklich interessant machte. Hinzu kommt überdies die gattungsmäßige Zuordnung des Gedichtes: zum einen zur Gattung der „Lyrica oder getichte die man zur Music sonderlich gebrauchen kan”, also zur Lieddichtung, und darin zudem zur Gattung der Ode; speziell der anakreontischen Ode. Ich lese den entsprechenden Abschnitt aus Opitz’ „Poetik” vor:7

„Die Lyrica oder getichte die man zur Music sonderlich gebrauchen kan / erfodern zueförderst ein freyes lustiges gemüte / vnd wollen mit schönen sprüchen vnnd lehren häuffig geziehret sein: wieder der andern Carminum gebrauch / da man sonderliche masse wegen der sententze halten muß; damit nicht der gantze Cörper vnserer rede nur lauter augen zue haben scheine / weil er auch der andern glieder nicht entberen kan. Ihren inhalt betreffendt / saget Horatius [...].

Er wil so viel zue verstehen geben / das sie alles was in ein kurtz getichte kan gebracht werden beschreiben können; buhlerey / täntze / banckete / schöne Menscher / Gärte / Weinberge / lob der mässigkeit / nichtigkeit des todes / etc. Sonderlich aber vermahnung zue der fröligkeit: welchen inhalts ich meiner Oden eine / zue beschliessung dieses Capitels / setzen wil”. Es folgt die „Ode”.

Was hier Martin Opitz beschreibt, ist Teil eines Lebens- und Weltentwurfs heiterer Geselligkeit und darin zugleich Teil eines aus der Antike stammenden Gegenentwurfs gegenüber dem, wie Günter Grass im „Treffen in Telgte” formulierte, „Jammertaligen” der Barockepoche. Die Vorbildhaftigkeit des anakreontischen Trink- und Lebensliedes, das den geistigen Mühen des Philosophierens (Leitwort „Plato”) abschwört, wird genau durch diesen besonders in bestimmten frömmigkeitsgeschichtlichen Kontexten provokanten Grundzug nochmals eigens erhöht und gefördert. Schließlich – und drittens – ist Opitz, dem „nachahmenden Schöpfer” so vieler Textmuster für den deutschen Literaturraum (wie beispielsweise des deutschen Prototyps für das Schlesische Kunstdrama, den Höfisch-historischen Roman, die Prosaekloge, für den petrarkistischen Frauenpreis, das Opernlibretto, die Poetik usw.), auch in diesem Fall ein Mustertext der anakreontischen Odendichtung gelungen. Die Ode „Ich empfinde fast ein grawen” ist ein Vorbildtext. Wie wird er aufgenommen, verarbeitet; wie geht man mit ihm um?

Ich gehe jetzt zum Text von Johann Klaj über. Dieser steht in einer ganzen Serie von sog. „Nachöhmungen” von Gottfried Finckelthaus über Heinrich Albert und David Schirmer bis zu Sigmund von Birken, die Erwin Rotermund – ein vorzüglicher Kenner der Materie ‚Parodie’ – in seiner Anthologie „Gegengesänge. Lyrische Parodien vom Mittelalter bis zur Gegenwart” zusammengetragen hat. Das Gedicht Klajs8lautet:

Parodia Opitiana

Wir empfinden nun ein Grauen /
daß / 0 Teutschland / für und für
Krieg gewütet inner dir /
jetzt ist Zeit nach Fried zu schauen /
und sich bey den frischen Qvellen
mit dem Kunst-Gott zu ergehn /
wo dreymal drey Schwestern stehn
in gelehrten Bücherstellen.

Worzu dient das Scharmiziren
als zu lauter Vngemach?
Vnterdeß muß Pindus Bach
nichts als Blut und Leichen führen.
Wann der Krieg soll Meister werden /
geht Kunst auf ihr Ende hin /
und wir müssen ohne Sinn
kommen in die Nacht der Erden.

Holla / mein geh / Clio frage /
wo der güldne Fried mag seyn /
lasset uns ihn holen ein
sonder ferners Leid und Klage.
Daß wir Künste Freude haben /
wann der Vnfried fortgerafft /
fort quillt Hippocrenens Safft
und der Blutkrieg ligt vergraben.

Fort wird Gunst die Kunst belohnen /
daß sie nimmer bettelt nicht!
daß Studenten nichts gebricht
keiner keinen Fleiß darf schonen;
Gott Apollo wird aufsetzen
euch ein Loblied / wie er pflegt /
wann er sich zu Bette legt
und wann sich die Sternen letzen.

Himmelsöhne / Götterbrüder /
tuncket in das Dintenglas /
unterschreibt den Friedenbaß /
daß da klingen gute Lieder.
So / so werdet ihr ererben /
was da nimmer gehet ein /
werdet stets im Leben seyn /
müsset ihr gleich zeitlich sterben.

Dreierlei läßt sich auf Anhieb bei einem Vergleich zwischen der Vorlage von Martin Opitz und der „Nachahmung” von Klaj im Hinblick auf das erste Textpaar von Hofmannsthals „Lebenslied” und seiner Verarbeitung feststellen: erstens die sorgfältige Aneignung des Mustertextes; zweitens ein Thema-Austausch ohne verzerrende Folgen für den Mustertext; drittens das Fehlen jeglicher gegen die Vorlage gerichteter komischer Züge – im Unterschied zu den Verarbeitungen des „Lebensliedes” von Hofmannsthal. Der Opitzsche Vorbildtext wird aufgenommen und verarbeitet, aber man springt nicht mit ihm um; er wird vielmehr als Vorbildtext anerkannt – deshalb „parodia Opitiana”: was soviel heißt wie ‚Nachbildung in der Manier des Opitz’! Die Annahme einer gegen die Vorlage gerichteten komischen Intention liegt bei Klajs Text schon wegen des fundierenden Prinzips der „auctoritas” in der zeitgenössischen „imitatio veterum” nicht nahe. Sie ist auch aus einem anderen Grund nicht anzunehmen: Klajs „Parodia Opitiana” ist Teil einer 1650 erschienenen Schrift, deren ‚barocker’ Titel lautet:9
 
 

pic1 (39K)

Diese Friedensdichtung Klajs ist wiederum nur Teil einer Reihe von Klajschen Friedensdichtungen, die ihrerseits nur Teil der Nürnberger Friedensfeierlichkeiten von 1649/50 waren, die anläßlich des Friedenskongresses in Nürnberg nach Abschluß der Verhandlungen in Münster und Osnabrück veranstaltet worden sind. Mit anderen Worten: Wie die „Parodia Opitiana” Klajs selbst sprechen auch alle Kontexte dagegen, hier einen Textverarbeitungstyp anzunehmen, der dem Verarbeitungstyp der „Lebenslied”-Permutationen gleichkäme. Wir sind also beim Problem der Bezeichnung und somit der begrifflichen Differenzierung und Unterscheidung.

c) Zur Geschichte der Wortverwendung von „Parodie”: begriffsgeschichtlich erweitert

An zwei Textbeispielen aus verschiedenen Zeiträumen, nämlich an den komisierenden Verarbeitungen des „Lebensliedes” von Hofmannsthal und an den seriösen Nachahmungen einer anakreontischen Ode von Opitz, habe ich zu demonstrieren versucht, daß der Ausdruck „Parodie” historisch offenkundig sehr Unterschiedliches bezeichnen kann: nämlich im Falle der „Lebenslied”-Verarbeitungen die ‚antithematische’ Behandlung der Vorlage unter Zuhilfenahme von Komik, im Falle der „Parodia Opitiana” Johann Klajs das Zugrundelegen des Vorbildtextes von M. Opitz zum Zweck der Verstärkung der Botschaft des eigenen Textes. Beide Textfälle wurden und werden noch immer literarhistorisch unter den Ausdruck „Parodie” subsumiert. Geht nun diese Beobachtung einer konträren, ja kontradiktorischen, ausschließenden Funktionsdifferenz über die beiden erörterten Textfälle hinaus, müßte man von einer wissenschaftssprachlich und fachterminologisch wohl unbefriedigenden Situation reden. Entsprechende Studien zur Wortgeschichte und vor allem zur Geschichte der Verwendung des Wortes „Parodie” haben dabei interessante Resultate erbracht.

Erstens: Das altgriechische Kompositum parodia besteht aus dem präpositionalen Bestandteil para und dem nominalen Bestandteil ode. Es läßt sich schlicht übersetzen mit „Neben”- oder „Gegengesang”. Daß mit der Etymologie allerdings noch nicht allzu viel gewonnen ist, hat die altertumskundliche Parodie-Diskussion gezeigt (ich verweise auf einen entsprechenden Aufsatz des hiesigen Gräzisten Egert Pöhlmann). Interessanter ist dann aber schon der Hinweis auf die unterschiedliche Bedeutung des Kompositums „parodia”, die aus der Intension von „para” hervorgeht. Zum einen hat „para” einen adversativen Bedeutungsinhalt („para” heißt soviel wie „wider, entgegen”); zum andern hat „para” einen additiven Bedeutungsinhalt, bei dem dieses präpositionale Element synonym ist mit „entsprechend, zuzüglich zu, nach dem Vorbild von”.

Mit dieser zweiten Bedeutung von „Parodia” hängen, das sei schon jetzt angedeutet, noch immer zusammen die Titel von Parodie-Sammlungen wie etwa „Nach berühmten Mustern” (Fritz Mauthner) oder „Mit fremden Federn” (Robert Neumann), hängen zusammen die Titel von Parodie-Anthologien wie „Nebengesänge” oder auch Einzeltitel von Parodie-Texten wie z. B. „Nach R.M. Rilke” usw. (Gemeint ist also nicht das zeitliche, sondern das imitative „nach”!)

Im Zusammenhang mit dem Ausdruck „Parodie” ist die Bedeutung „para” im Sinne von „entsprechend, zuzüglich zu, nach dem Vorbild von” vor allem in der wichtigsten Rhetorik der lateinischen Antike, in Quintilians „Institutio oratoria”, überliefert und darin von rezeptionsgeschichtlicher Tragweite geworden. Der Gesamtausdruck „parodia” hat in dieser Hinsicht die Bedeutung „Imitation eines Vorbildtextes” oder enger „Übernahme einzelner Teile einer Vorlage”. (Von hier aus ergibt sich übrigens die Nähe des rhetorischen Begriffs von „Parodie” zu „Zitat”.) Innerhalb dieser Grundrichtung kann der Gesamtausdruck zweierlei bezeichnen: die „ernste Nachahmung” (die „parodia seria”) und die „komische Nachahmung” (die „parodia iocosa”). Es dürfte klar sein, daß die sog. „ernste Nachahmung”, die „parodia seria”, mit der uns geläufigen adversativen Bedeutung von „Parodie” kaum etwas zu tun hat. Nun, das könnte als Aufforderung verstanden werden, sich nicht weiter damit zu beschäftigen – was genau der falsche Weg wäre. Ich will es zu zeigen versuchen. Ich gehe somit über zu 

Zweitens: Der spätantike, rhetorische Begriff von „Parodie” in der additiven Bedeutung von „ernster Nachahmung” hat in der humanistischen und späthumanistisch-barocken Literatur die literarische Praxis nachhaltig bestimmt und darüber hinaus zu einer ganz eigenen Poetik des Nachahmens geführt. Entscheidendes Verbindungsglied vom antik-rhetorischen Ausdruck „Parodie” zum Ausdruck der späthumanistisch-barocken Zeit wurde das „Parodia”-Kapitel in der „Poetik” des Julius Caesar Scaliger von 1561; dieses begründete und bezweckte zugleich das neulateinische Textemachen als Nachahmen etwa in Form von „Parodiae morales”: so beispielsweise heißt eine Sammlung solcher Nachahmungen des berühmten Zeitgenossen, Verlegers und Dichters Henri Estienne aus dem Jahre 1575. Die Poetik dieser Art des nachahmenden Textemachens möchte ich mit einer kleinen Stelle aus einem Kommentar zu einer „Parodiae”-Sammlung von 1642 andeuten; darin wird die „parodia” etwa zusammen mit der Übersetzung als ein Spezialfall der „imitatio” verstanden. Von der speziellen Nachahmung der „parodia” heißt es dann weiter:

Andreas Senftleben:10

„Diese Literaturgattung pflegte früher und heute doch etwas mehr zu erfordern, nämlich sowohl die scharfsinnige Erfindung eines anderen Stoffes als auch die anmutige Anpassung an die erste Vorlage bis zu dem Grad, daß zwar der Stoff gänzlich ein verschiedener ist, die Versfüße aber und die Ausdrucksweise fast dieselbe, außer wenn etwas mit anderen Wörtern gewissermaßen zusammen gebaut werden muß. Diese Schwierigkeit bei der Parodie hat der sonst unbesiegte Hercules der Literatur, Julius Scaliger selbst, eingestanden [...].”

Für den Autor, der solche „parodiae” hervorbringt, gelten als unabdingbare Forderungen die „inventio alterius materiae”, d. h. die scharfsinnige Erfindung eines anderen Stoffes, und die „venusta applicatio”, d. h. die anmutige Anpassung des neuen Stoffes an die Vorlage; von ‚antithematischer’ Behandlung mit komisierenden, Lachen erzeugenden Mitteln ist nicht die Rede. Ich brauche angesichts dieser poetologischen Bestimmungen für „Parodia” nur noch kurz an Johann Klajs Gedicht „Parodia Opitiana” zu erinnern, um auf Anhieb plausibel zu machen, daß es eine Art des „Parodia” genannten Nachahmens gegeben hat, die von großem Gewicht für die Praxis sowohl der neulateinischen Literatur als auch der muttersprachlich-nationalen Literaturen des 16. und besonders des 17. Jahrhunderts gewesen ist. Aber, meine Damen und Herren, das terminologische Problem „Parodie” wird aufgrund dieser literarhistorischen Andeutungen des Gewichts von „Parodia” alles andere als geringer; im Gegenteil: bei weitem noch größer!

Man muß sogar einräumen, daß das terminologische Problem in dem Maße sich verschärft, wie nachgewiesen werden kann, daß die additive Bedeutung von „parodia” gegen Ende des 17. Jahrhunderts keineswegs erloschen ist. Dieser begriffsgeschichtliche (oder genauer: wortverwendungsgeschichtliche) Sachverhalt ist in einläßlichen Studien aufgedeckt worden. Danach hat „Parodia” – ich wähle stets mit Absicht und gezielt hier die ‚fremde Form’ des Wortes – in der Bedeutung von „ernster Nachahmung” durch alle nachfolgenden Jahrhunderte hindurch bis in die Gegenwart eine gewisse Relevanz von unterschiedlicher Tragweite behalten: beispielsweise gilt das für die Anthologien des 19. und 20. Jahrhunderts von Carl Friedrich Solbrig (1816) bis zu Erwin Rotermund (1964) und Hans Reinhard Schatter (1968) sowie Manfred Ach bzw. Manfred Bosch (1974); ebenso für die Begriffsbestimmungen in den vielen Poetiken des späten 18. und gesamten 19. Jahrhunderts (also in den Poetiken von dem Aufklärer Johann Joachim Eschenburg bis zu dem Literarhistoriker Hermann Oesterley), darüber hinaus in Lexikon-Artikeln und literaturwissenschaftlichen Abhandlungen von Alfred Liede bis zu Winfried Freund und Lutz Röhrich.

Drittens: Wie der „Parodie”-Begriff im Sinne „ernster Nachahmung” stammt auch der „Parodie”-Begriff mit adversativer Bedeutung, also im Sinne „komischer Nachahmung”, aus der Antike – allerdings aus der frühen Antike, und zwar aus der Zeit unmittelbar nach der griechischen Klassik. Dank der altertumswissenschaftlichen Parodie-Forschung kann etwa folgendes gesagt werden: Seit der „Poetik” des Aristoteles gilt die adversative Bedeutung von „Parodie” als gesichert. Unter „Parodie” wurde zunächst die Epos-Parodie verstanden und darin die thematische Herabstimmung eines autoritativen Vorbildtextes. Spätestens in der Zeit des Hellenismus wandelte sich dann „parodia” von einem Gattungs- zu einem „Stilbegriff” und umfaßte nun jede Art einer mit antithematischer Behandlung operierenden Bezugnahme auf eine Vorlage: Nicht mehr nur das Epos, sondern jeder mit autoritativem Geltungsanspruch auftretende Text jeglicher Gattung und Textsorte konnte das parodistisch geschändete Vorbild sein. Allerdings: Dieser Begriff „Parodie” wurde schon im Laufe der Antike von dem rhetorischen Begriff „Parodie” überlagert und ging so auf der theoriegeschichtlichen Ebene mehr oder weniger verloren. Wobei hier freilich folgendes hinzuzufügen ist: Dieser besondere begriffsgeschichtliche Umstand hat nicht dazu geführt, daß auch auf der Ebene der literarischen Praxis das adversativ verstandene ‚Parodieren’ als Formmöglichkeit aufgegeben worden sei, mit anderen Worten: Geschichtlich treten Wort und Sache im Hinblick auf ihre Geltung in der Art einer geöffneten Schere weit auseinander.

Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wird im Grunde der Ausdruck „Parodie” als ein besonderer, spezieller theoriehaltiger Begriff wiederentdeckt: als Bezeichnung für eine spezifische Form kritischer Textverarbeitung. Ich gebe hier nur ein Beispiel! Es stammt aus dem „Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften” von J.J. Eschenburg aus dem Jahre 1783:11

„Eine besondre Art der Satire ist die Parodie, welche entweder den einzelnen Versen oder dem ganzen Gedichte eines bekannten Dichters durch Änderung einzelner Wörter, oder durch Anwendung derselben auf einen anderen Gegenstand, einen veränderten SInn gibt, oder die ganze Manier eines Dichters nachbildet, um dadurch sein Gedicht oder den Gegenstand desselben zu belachen. Gemeiniglich wählt man dazu ernsthafte Gedichte, um sie durch die Parodie komisch zu machen.”

In diesen Bestimmungen haben wir ein imposantes Zeugnis für den epochemachenden Wandel in der Geschichte des Begriffs und der Vorstellung von „Parodie”. Seither ist in der deutschen Literaturgeschichte der Begriff „Parodie” als Bezeichnung einer spezifischen Form kritischer Textverarbeitung präsent und zugleich als Reizwort einsetzbar (wie die entrüsteten Äußerungen Goethes oder Lenzens oder Börries von Münchhausens belegen). Der hier zum Ausdruck kommende begriffsgeschichtliche Gewinn darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieser adversative „Parodie”-Begriff ständig von jenem anderen, additiven „Parodie”-Begriff begleitet wird. Die Gleichzeitigkeit sehr heterogener Parodievorstellungen hat ihre Parallele in einem Nebeneinander sehr unterschiedlicher Formen und Muster der Textverarbeitung; ich verweise erneut auf die „Lebenslied”-Adaptionen einerseits und die „Parodia Opitiana” andererseits. Ein treffliches Beispiel gibt uns dafür auch eine kleine Rezension von 1914 an die Hand. Über eine Anthologie des Germanisten Meyer urteilt kein Geringerer als Kurt Tucholsky:

„Richard M Punkt Meyer hat (im Verlag von Müller & Rentsch) ein Büchelchen herausgegeben: ‚Deutsche Parodien’. O wären es doch welche!”12

Die Pointe dieser witzigen Feststellung hat eben ihren Grund in der Tatsache, daß zwei bis heute in unterschiedlicher Dominanz gültige Vorstellungen von „Parodie” zu solchen Sammlungen geführt haben, in denen sich zu komisch-kritischen Verarbeitungen (Clemens Brentanos „Es saß der Meister vom Stuhle” oder die anonymen Verarbeitungen des Hofmannsthalschen „Lebensliedes”) eben solche Adaptionen wie Johann Klajs „Parodia Opitiana” gesellen.

Nun, ich habe Kurt Tucholskys Pointe nicht bloß des Lacheffektes wegen zitiert; ich wollte mit ihr zugleich eine bestimmte Entscheidung vorbereiten. Tucholsky nutzt pointierend ja eine Äquivokation (~ Doppelsinnigkeit) von „Parodie” aus: Damit man ihr entgehen, also eine begriffliche Eindeutigkeit von „Parodie” herstellen kann, wird man sich entscheiden müssen – und zwar, so der Vorschlag, gegen den ‚Parodie’-Begriff mit einem weiten Begriffsumfang zugunsten eines ‚Parodie’-Begriffs mit einer engen Extension! Bei einer solchen Entscheidung wäre das mißliche Problem der schon gezeigten Äquivokation von „Parodie” vermieden. Eine solche Entscheidung wäre allerdings auch mit der, vielleicht rücksichtslos anmutenden, Konsequenz verbunden, viele unter dem bisherigen Stichwort „Parodie” überlieferte und auch noch aktuelle Hervorbringungen hier abtrennen und aussondern zu müssen – mit einer vielleicht zu rücksichtslos wirkenden Konsequenz! Frage: Wiegt der Gewinn einer solchen – terminologisch begründeten – ‚Säuberungsaktion’ den eher material bestimmten Verlust auf? Ich möchte den möglichen Verlust mit einem aus der Gegenwart stammenden Beispiel illustrieren.

1974 erschien – im Nachgang zur verebbenden Revolte an den deutschen Universitäten – ein kleines unscheinbares Bändchen mit einer Einbandgestaltung von Dieter Süverkrüp: „Gegendarstellungen – Autoren korrigieren Autoren. Lyrische Parodien”. Die Herausgeber des Bändchens, Manfred Ach und Manfred Bosch, Mitglieder des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt, begründen in einer zwei Seiten langen Nachbemerkung die Tendenz der Anthologie, mithin der „Neu- und Umarbeitung(en)” in ihr folgendermaßen:

Es „konnte (...) nicht vorrangig darum gehen, sprachliche Delikatessen (im Sinne des gleichnamigen Gedichts von Ingeborg Bachmann:

‚Nichts mehr gefällt mir
Soll ich
eine Metapher ausstaffieren
mit einer Mandelblüte?
die Syntax kreuzigen
auf einen Lichteffekt?
Wer wird sich den Schädel zerbrechen
über so überflüssige Dinge – 
Ich habe ein Einsehen gelernt
mit den Worten,
die da sind
(für die unterste Klasse)
Hunger/Schande/Tränen/
und/Finsternis’

zutagezufördern und herauszugeben, sondern Beispiele und Möglichkeiten dafür aufzuzeigen, wie Parodieren heute zu handhaben ist”.13

Wie nun ist das heute zu handhaben, was die Herausgeber „parodieren” nennen? An ihren Beispielen mögen Sie das erkennen – manchmal jedenfalls besser an den Beispielen als an den, ziemlich unbeholfenen, Beschreibungen und Bestimmungen. Dazu trage ich einen Text von Dieter Süverkrüp vor, wobei ich auf die Vorlage hier verzichten kann, da sie in jedem von uns noch umgeht:14

Die roten Kleberlein

Ein rotes Kleberlein
mit Pinsel und mit Leim,
das wollt Plakate kleben gehn
und war so sehr allein.

Doch ging das Kleberlein
nur sieben Schritte weit –
da kam ein andres Kleberlein.
Da warn sie schon zu zweit.

Zwei rote Kleberlein,
die nahmen einen mit,
der eine große Leiter hat.
Da warn sie schon zu dritt.

Drei rote Kleberlein
beklebten eine Tür.
Da kam der Sohn vom Pastor raus.
Da waren sie schon vier.

Vier rote Kleberlein,
die wurden ausgeschimpft.
Der rote Paul hat sie versteckt.
Da waren sie schon zu fünft.

Fünf rote Kleberlein,
die trafen unterwegs
ein schwarzes Afrikanerkind.
Da waren sie schon sechs.

Sechs rote Kleberlein
sind sechse nicht geblieben.
Die Ulla wollte auch noch mit.
Da waren sie schon sieben.

Sieben rote Kleberlein,
die haben sich gedacht:
Pauls Schwester könnte Schmiere stehn. –
Da waren sie schon acht.

Acht rote Kleberlein,
die hatten wenig Leim.
Da kam der Tapezierer-Fritz.
Da waren sie schon neun.

Neun rote Kleberlein,
die wollten grade gehn.
Der Sohn vom Schutzmann kam gerannt.
Da warn es endlich zehn.

Zehn rote Kleberlein,
die haben in der Nacht
das ganze Viertel vollgeklebt
und alles rot gemacht.

Zehn rote Kleberlein,
die warn am Morgen müd.
Und alle Leute konnten sehn,
wie schön die Stadt aussieht.

Nach: „Zehn kleine Negerlein ...”

Ein schlichter Liedtext! Die literarisch auch dadurch nicht besser wird, daß er von den Herausgebern der Anthologie mit dem Hinweis kanonisiert werden sollte, sein Autor gehöre als Mitglied des Werkkreises zur „derzeitigen kulturellen Avantgarde der Arbeiterklasse” und zeige mit einer solchen „Bearbeitung” die „Möglichkeit der Umarbeitung” und „Historisierung” überkommener Produkte „nach Maßgabe der heutigen Ziele der Arbeiterklasse”15 (die jene kulturelle Avantgarde natürlich genau kannte).

Ich darf übrigens zugunsten Dieter Süverkrüps annehmen, daß er selber mit der Aufnahme eines Liedes aus dem sogenannten ‚Volksmund’ sehr viel präziser sein wollte. In den Tagen der Revolte, aus denen dieser Liedtext stammt (und das war die Zeit um und unmittelbar nach 1968), kam es ja darauf an, mit Hilfe gängiger Muster und Mittel der Kommunikation auf die je gegebene Situation prompt zu reagieren. Um beispielsweise eine politische „Basis” herzustellen und nach dem Aktionsbedarf des Tages je neue Aktionsgemeinschaften zu mobilisieren, bedurfte es stets neuer Solidarisierungsappelle. In diesem – im übrigen viel elementareren – Funktionszusammenhang ist Dieter Süverkrüps Lied und Liedtext zu sehen.

Nun wäre es allerdings im Sinne dieser schnellen Reaktion und der Wirkungsintention des Solidarisierungsappells mehr als fragwürdig – und damit komme ich auf mein Hauptgeschäft zurück –, wenn das Medium, das Träger der Botschaft zur Solidarisierung sein soll, mit den Mitteln und Verfahren der Komik ‚bearbeitet’ würde. Komik bedeutet immer, wie die Komikforschung Bachtins, Plessners, Joachim Ritters, W. Preisendanz’ und vieler anderer herausgearbeitet hat, Brechung und Relativierung, Außerkraftsetzen und Infragestellen. Bezogen auf die Vorlage, die Träger des Solidarisierungsappells sein soll, hieße das, sie genau um das Wirkungspotential bringen, das ihr eingeräumt und das von ihr erwartet wird. Sieht man sich die Art der Aneignung des Liedes „von den zehn kleinen Negerlein” genau an, dürften folgende Aspekte der neuen Textbildung sofort einleuchten: erstens eine genaue Orientierung an der Vorlage, an ihrer Makrostruktur und an ihren Sekundärstrukturierungen; zweitens ein Thema-Austausch ohne verzerrende Folgen für den Prätext; drittens nicht allein Fehlen jeglicher gegen die Vorlage gerichteter Komik-Verfahren, sondern vielmehr sogar positive Auffüllung und positive Umkehrung des reduktiven Handlungs- und Ereignisschemas der Vorlage. Es ist gerade dieser letzte, die Botschaft bestimmende und bedingende Grundzug der Süverkrüpschen Umarbeitung, der hier die Annahme einer „parodia iocosa” als gänzlich unangemessen erscheinen läßt.

Unter der generellen Perspektive der Vorlesung lassen sich diese Text- und Funktionsbeobachtungen nochmals mit der Ausgangsproblematik vergleichen. Plädiert man für einen „Parodie”-Begriff mit engem Begriffsumfang – also mit einer Extension, die allein im Blick auf Texte wie Brentanos „Thule”-Adaption oder die „Lebenslied”-Brechungen gelten soll –, dann wären Texte wie die „Parodia Opitiana” Johann Klajs oder Dieter Süverkrüps „Zehn rote Kleberlein” auszuschließen. Die Frage ist, ob der Gewinn eines engen und darin auch operationalisierbaren Parodiebegriffs die entstehenden Textverluste wettzumachen vermag. Dazu kommt die ebenso wichtige Frage, was dann, textsortentheoretisch gesprochen, mit der ortlos gewordenen Textmasse angestellt werden soll. Ich will diese Fragen an dieser Stelle noch nicht zur Entscheidung bringen. Ich wollte mit ihnen zunächst nur einige Probleme der Theorie bestimmter literarischer Textsorten und Schreibweisen wie auch der literaturwissenschaftlichen Terminologie sichtbar machen.


1Th. Verweyen und G. Witting (Hrsg.), Deutsche Lyrik-Parodien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1983 (= RUB 7975), S. 160.
2H.v. Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Gedichte und lyrische Dramen, hrsg. v. Herbert Steiner, Frankfurt/M. 1963, S. 12f.
3Hans E. Goldschmidt: Quer sacrum. Wiener Parodien und Karikaturen der Jahrhundertwende, Wien/München 1976, S. 86; vgl. Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, Reclam, 1983, S. 102.
4Siehe Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, Reclam, 1983, S. 160f.
5Siehe Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, ebd., S. 102.
6M. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Nach der Edition von Wilhelm Braune neu hrsg. v. Richard Alewyn, 2. Aufl., Tübingen 1966, S. 23f.
7Siehe Opitz, Poeterey, S. 22f.
8Johann Klaj: Parodia Opitiana, in: Erwin Rotermund (Hrsg.), Gegengesänge. Lyrische Parodien vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1964, S. 80f.
9Johann Klaj: Geburtstag Deß Friedens, in: ders.: Friedensdichtungen und kleinere poetische Schriften, hrsg. v. Conrad Wiedemann, Tübingen 1968 (= Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock 10), S. [99]; die „Parodia Opitiana” hier S. [123]f. Vgl. Herbert Cysarz (Hrsg.): Barocklyrik, Bd. 2, Hildesheim/New York 1969 (= Repr. d. Ausg. Leipzig 1937), S. 135.
10Vgl. Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 23.
11Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, Reclam, 1983, S. 302. 
12Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, Reclam, 1983, S. 299. 
13Manfred Ach u. Manfred Bosch (Hrsg.): Gegendarstellungen - Autoren korrigieren Autoren. Lyrische Parodien, Andernach 1974, S. 57f.: Nachbemerkung.
14s. Ach/Bosch: Gegendarstellungen, S. 11f.
15Ebd., S. 58.

Zum Inhaltsverzeichnis  Zum Inhaltsverzeichnis

Zum nächsten Kapitel Zum nächsten Kapitel

Zur Bibliographie Zur Bibliographie

ede-Hauptverzeichnis  Zum Ede-Hauptverzeichnis

Copyright(c) Theodor Verweyen.

Created: 20.09.1997
E-Mail an: Theodor Verweyen